Klausurenkurs im Bürgerlichen Recht II. Ulrich Falk
regelmäßig nach § 151 S. 1 BGB entbehrlich ist.[49] Darauf, dass A vergessen hatte, am Automaten eine Fahrkarte zu erwerben, kommt es deshalb überhaupt nicht an.
Der Vertragsschluss scheitert auch nicht daran, dass die Willenserklärung des A nach § 105 II BGB nichtig wäre. Insofern gelten die vorstehenden Hinweise zur Mitverschuldensfrage (§ 254 BGB) sinngemäß. Der Alkoholisierungsgrad ist nicht so hoch, als dass man einen Zustand vorübergehender Störung der Geistestätigkeit annehmen könnte.
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Vertiefungshinweis:
Schwieriger ist die Konstruktion des Vertragsschlusses, wenn ein Fahrgast bewusst das Beförderungsentgelt nicht bezahlt. Als Schulbeispiel für die Konstellation eines solchen ausdrücklichen Widerspruchs gegen einen (konkludenten) Vertragsschluss bei gleichzeitiger Inanspruchnahme der Leistung gilt der „Hamburger Parkplatzfall“.[50] Die Stadt Hamburg hatte einen vormals im Gemeingebrauch stehenden Parkplatz verpachtet. Eine Bürgerin, die diesen Platz regelmäßig nutzte, weigerte sich ausdrücklich gegenüber dem Kassierer, eine Gebühr zu entrichten. Der BGH fingierte mit Hilfe der Lehre vom faktischen Vertrag ein Schuldverhältnis und verurteilte zur Zahlung.[51] Ein Teil der Lehre zog für diese Fallkonstellation den Rechtsgrundsatz der protestatio facto contraria non valet (lat. für: ein dem Handeln widersprechender Vorbehalt genügt nicht), eine spezielle Ausprägung von Treu und Glauben (§ 242 BGB), heran. Dieser Grundsatz schränkt die Privatautonomie insoweit ein, als es einem selbstwidersprüchlich Handelnden verwehrt bleibt, einseitig die Folgen seines Handelns zu bestimmen. Vertreten wurde diese Konstruktion insb. von Medicus in älteren Auflagen seines Lehrbuchs zum Allgemeinen Teil.[52] Auch der BGH hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 2000 diesen Grundsatz angewandt.[53] Letztlich wird auf diese Weise aber ein klar geäußerter Rechtsfolgenwille ignoriert, was mit der Privatautonomie schlechthin nicht vereinbar ist. Wird eine Gegenleistung für die Fahrt bewusst nicht erbracht, spricht viel dafür, einen Vertragsschluss abzulehnen. In Betracht käme bei Schäden oder Verletzungen des Fahrgasts eine Haftung aus culpa in contrahendo nach §§ 280 I, 241 II, 311 II BGB. Zu bedenken bleibt dann aber, dass der Vertragsschluss am vorwerfbaren Verhalten des Fahrgasts scheitert, der keine Fahrkarte löst. Es erscheint problematisch, diesem zu einem quasivertraglichen Anspruch zu verhelfen. Es lässt sich eine Parallele zu dem Fall ziehen, dass sich jemand nur zum Aufwärmen in einem Geschäft aufhält. Auch eine solche Person, die einen Laden nicht zur Anbahnung geschäftlicher Kontakte betritt, hat keinen Anspruch aus cic, wenn sie in dem Geschäft zu Schaden kommt.[54] Eine andere Überlegung ist es, den Vertragsschluss bei Beförderungen an den Erwerb der Fahrkarten anzulehnen. Das Angebot läge dann im Aufstellen des Fahrkartenautomaten, das Lösen einer Fahrkarte wäre die Annahme. Ein Vertragsschluss würde dann jedoch auch bei dem Fahrgast scheitern, der lediglich versehentlich keine Fahrkarte gelöst hat. Unter Umständen wäre bei dem fahrlässig handelnden Fahrgast ein Anspruch aus cic denkbar. Die Konstruktion über eine Realofferte erscheint freilich eleganter und ohne dogmatische Folgeprobleme.
b) Pflichtverletzung
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S müsste eine objektive Pflichtverletzung i. S. v. § 280 I 1 BGB begangen haben. Gemäß § 241 II BGB kann dies die Verletzung einer bloßen Nebenpflicht sein, wozu auch Sorgfaltspflichten zählen. Es kommen wiederum zwei unterschiedliche Anknüpfungspunkte in Betracht:
Sofern man ein pflichtwidriges und fahrlässiges Unterlassen des F bejaht, ist dies auch der S-AG zuzurechnen, da F als ihr Erfüllungsgehilfe handelte (§ 278 BGB). Näherer Ausführungen bedarf es in diesem Fall nicht.
Verneint man die Pflichtverletzung des F, ist die Prüfung noch nicht zu Ende. Die S-AG trifft als Betreibergesellschaft eine Verkehrspflicht, die sie nur teilweise auf die Fahrer zu delegieren vermag. Unter anderem bleibt sie zur Überwachung und Anleitung ihrer Mitarbeiter verpflichtet. Versäumnisse in diesem Bereich sind ihr als Organisationsverschulden anzulasten.[55]
Der F ist ein bewährter Mitarbeiter. Er arbeitet schon viele Jahre beanstandungsfrei für die S-AG. Ein Mangel bei der Auswahl des F ist der S-AG gewiss nicht vorzuwerfen. Allenfalls könnte man überlegen, ob sie die Pflicht getroffen hätte, genauere Dienstanweisungen zu geben, in denen auch das Verhalten ihres Betriebspersonals gegenüber erkennbar betrunkenen bzw. hilflosen Personen ausdrücklich geregelt ist.
Der BGH hat im zugrundeliegenden ähnlichen Fall eine Pflicht der verklagten Betreibergesellschaft zur Normierung eindeutiger Anweisungen verneint.[56] Allerdings lag der Sachverhalt dort etwas anders. Die einschlägige Dienstanweisung enthielt zumindest die pauschale Anweisung, hilflosen Personen zu helfen. Davon ist hier mangels einer entsprechenden Angabe im Sachverhalt nicht auszugehen.
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Gleichwohl ist sehr fraglich, ob eine solche allgemein gehaltene Anweisung geeignet gewesen wäre, Unfälle wie den vorliegenden zu verhindern. Es spricht einiges dafür, dass ein entsprechendes pflichtwidriges Unterlassen jedenfalls nicht als kausal anzusehen ist. Will man das Gegenteil annehmen und eine ursächliche Pflichtverletzung bejahen, könnte zur Begründung der Kausalität eine Beweislastumkehr zugunsten des Geschädigten in Betracht gezogen werden, da der Mangel an der Dienstanweisung zumindest das Gefahrenpotential erhöht.
Diese Pflichtverletzung wäre dann auch schuldhaft i. S. d. § 280 I 2 BGB. Bei gebührender Aufmerksamkeit wäre die Unvollständigkeit der Dienstanweisung leicht vermeidbar gewesen. Etwaige Versäumnisse ihres Vorstands und anderer verfassungsmäßiger Vertreter, die letztlich für die Dienstanweisung verantwortlich sein werden, hat sie nach § 31 BGB analog wie eigenes Verschulden zu vertreten. Diese Vorschrift aus dem Recht des eingetragenen Vereins ist nach allgemeiner Meinung auch auf die Aktiengesellschaft anzuwenden.[57]
Zum Schaden, dem Umfang des Schadens und eines schadensmindernden Mitverschuldens ergeben sich gegenüber den vorstehenden Ausführungen keine Unterschiede.
2. Anspruch auf Schadensersatz aus § 823 I BGB
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Zu Rechtsgutsverletzung und Schaden kann auf die Ausführungen oben verwiesen werden. Aus dem Betrieb einer Straßenbahn erwachsen spezifische Gefahren. Die S-AG ist als Betreiber dieses Verkehrs dafür verantwortlich, Vorkehrungen gegen vorhersehbare Gefahren zu treffen. Sofern man bei Prüfung des § 280 I BGB eine zu vertretende Pflichtverletzung angenommen hat, muss hier, um Selbstwidersprüche zu vermeiden, auch von der schuldhaften Verletzung einer Verkehrspflicht ausgegangen werden. Die Voraussetzungen entsprechen sich in diesem konkreten Fall
3. Anspruch auf Schadensersatz aus § 831 BGB
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A könnte gegen die S-AG ferner einen Schadensersatzanspruch aus § 831 BGB haben. Verrichtungsgehilfe ist derjenige, der mit Wissen und Wollen des Geschäftsherrn in dessen Interesse tätig wird und dabei von dessen Weisungen abhängig ist.[58] F ist als Fahrer bei S angestellt und muss die Dienstanweisungen befolgen. Er ist somit Verrichtungsgehilfe. Der Schaden entstand auch in Ausführung der übertragenen Verrichtungen, nicht nur bei deren Gelegenheit.
§ 831 BGB setzt eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlung des Verrichtungsgehilfen voraus. Das ist dann, aber auch nur dann zu bejahen, wenn im ersten Teil der Arbeit ein objektiv pflichtwidriges Unterlassen des F i. S. v. § 823 I BGB bejaht wurde.
Nach § 831 BGB haftet der Geschäftsherr nicht für ein Verschulden des Gehilfen, wie es bei der Zurechnungsnorm des § 278 BGB der Fall ist, sondern für ein eigenes, vermutetes Verschulden. Der Verrichtungsgehilfe muss deshalb nur tatbestandsmäßig und rechtswidrig handeln, aber nicht schuldhaft i. S. v. § 276 I BGB. Trotzdem haftet der Geschäftsherr nach dem Schutzzweck der Norm nicht, wenn sich der Verrichtungsgehilfe objektiv fehlerfrei, also sachgerecht und vernünftig verhalten hat.[59] Dies hängt wiederum von