Klausurenkurs im Öffentlichen Wirtschaftsrecht. Stefan Storr
Rechtfertigung der Beschränkung
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Die für die Niederlassungsfreiheit anwendbare ausdrückliche Schranke des Art. 52 AEUV umfasst bereits nach ihrem Wortlaut nur Regelungen, die nach der Staatsangehörigkeit bzw. dem Sitz differenzieren. Deshalb lassen sich unterschiedslos geltende Maßnahmen wie das Genehmigungserfordernis nach § 34a Abs. 1 GewO nicht nach dieser Vorschrift rechtfertigen[55]. Auch für die Niederlassungsfreiheit ist allerdings die ungeschriebene Schranke der „zwingenden Erfordernisse“ im Sinne der Cassis-Formel anerkannt[56], in deren Rahmen der EuGH den Mitgliedstaaten im Übrigen im Wege des a fortiori-Schlusses auch bei unterschiedslos geltenden Maßnahmen u.a. die Berufung auf die in Art. 52 AEUV genannten Belange gestattet[57].
Für die Rechtfertigung ist zwischen einzelnen Genehmigungsvoraussetzungen und einem Genehmigungserfordernis als solchem zu unterscheiden. Hier wendet sich die MS Ltd. nicht gegen bestimmte Genehmigungsvoraussetzungen oder deren Anwendung auf sie, sondern die Erlaubnisbedürftigkeit als solche. Erlaubnisvorbehalte lassen sich als verhältnismäßige Schranke rechtfertigen, da sich ein Selbstständiger mit der (Zweig-)Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat integriert und insoweit keine Besserstellung gegenüber den Inländern beanspruchen kann[58]. Dies gilt auch für das Erlaubnisverfahren für das Sicherheitsgewerbe, das dem Schutz der Allgemeinheit vor unqualifizierten Gewerbetreibenden dient[59].
Nach alledem liegt in der Genehmigungsbedürftigkeit des Bewachungsgewerbes kein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit.
Folglich ist auch der Tatbestand des § 15 Abs. 2 S. 1 GewO verwirklicht.
Exkurs:
Für normative Erlaubnisvoraussetzungen wird man dies durchaus differenziert sehen müssen. Für das Sicherheitsgewerbe kann sich insbesondere das Gebot, die Tätigkeit nur in Form einer juristischen Person auszuüben, als unverhältnismäßige Beschränkung darstellen, weil sie die Gründung von Zweigstellen in einem anderen Mitgliedstaat erschwert[60]. Auch das Gebot, sowohl ein bestimmtes Gesellschaftskapital zu besitzen als auch eine Sicherheit im Aufnahmestaat zu hinterlegen ohne die Möglichkeit einer Anrechnung, ist nach Ansicht des EuGH nicht durch zwingende Erfordernisse gedeckt[61]. Gewerbezulassungsschranken wie Qualifikationsanforderungen für die Ausübung bestimmter Berufe lassen sich aber durch den Schutz der Bevölkerung vor unqualifizierten Gewerbetreibenden rechtfertigen[62]. Die Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen hat aber insoweit auch für das Sicherheitsgewerbe Erleichterungen gebracht, als sie die Berücksichtigung des in einem anderen Mitgliedstaat erlangten Sachkundenachweises des Gewerbetreibenden[63] iSd § 34a Abs. 1 S. 3 Nr. 3 GewO oder eines Unterrichtungsnachweises für das Bewachungspersonal iSd § 34a Abs. 1a S. 1 Nr. 2 GewO gebietet[64]. Der deutsche Gesetzgeber hat die richtlinienrechtlichen Gebote nunmehr übergreifend in § 13c GewO geregelt.
c) Ermessen
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Die Untersagung der Gewerbefortsetzung steht nach § 15 Abs. 2 S. 1 GewO im Ermessen der Behörde. Für die Ermessensausübung sind die Kriterien des § 40 VwVfG maßgeblich. Hier kommt ein Fall des Ermessensfehlgebrauchs in Betracht, sofern die Stadtverwaltung die verfassungsrechtlichen Grenzen der Ermessenseinräumung verkannt hat[65]. Die Fortsetzungsuntersagung könnte sich im Hinblick auf die Gewerbefreiheit der MS Ltd. als unverhältnismäßig erweisen, wenn sie allein auf die formelle Illegalität des Bewachungsbetriebs gerichtet ist, der Betrieb sich aber als materiell genehmigungsfähig erweist[66]. Indes ist die formelle Gewerberechtswidrigkeit ausreichend für eine Untersagung nach § 15 Abs. 2 S. 1 GewO, wenn der Betriebsinhaber kategorisch eine Antragstellung ablehnt[67]. So stehen die Dinge nach den klaren Äußerungen der MS Ltd. hier. Auf die materielle Genehmigungsfähigkeit des Bewachungsbetriebs kommt es deshalb im Ergebnis nicht an. Da die Genehmigungspflicht als solche mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar ist, gebietet auch das Unionsrecht kein Absehen vom Erlass der Verfügung.
4. Besonderes öffentliches Vollzugsinteresse
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Die Rechtmäßigkeit der Fortsetzungsuntersagung begründet allein noch nicht ein das Aussetzungsinteresse der MS Ltd. überwiegendes Vollzugsinteresse der S. Nach § 80 Abs. 1 VwGO stellt die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage die vom Gesetzgeber vorgesehene Regel dar, der Sofortvollzug die Ausnahme. Im Fall von § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO beruht der ausnahmsweise Sofortvollzug im Unterschied zu § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 bis 3 VwGO zudem nicht auf gesetzgeberischer, sondern nur auf behördlicher Anordnung. Daher ist er in besonderem Maße rechtfertigungsbedürftig. Dazu genügt nicht bereits die Rechtmäßigkeit des zu vollziehenden Verwaltungsaktes[68], weil ansonsten jeder rechtmäßige Verwaltungsakt für sofort vollziehbar erklärt und das gesetzliche Regel-Ausnahme-Verhältnis verkehrt werden könnte. Es muss daher zusätzlich ein besonders öffentliches Interesse bestehen, das über das Interesse am Erlass des Verwaltungsaktes hinausgeht[69]. Das Erlaubnisverfahren dient dem Schutz der Allgemeinheit vor unqualifiziertem Sicherheitspersonal. Infolge der Weigerung der MS Ltd., eine Erlaubnis zu beantragen, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie ihr Fehlverhalten auch während des Hauptsacheverfahrens fortsetzen wird, so dass eine akute Gefahr für die Allgemeinheit gegeben ist. Diese erfordert eine sofortige Einstellung der Tätigkeiten und rechtfertigt damit nicht nur die Fortsetzungsuntersagung, sondern darüber hinaus die Anordnung des Sofortvollzugs[70].
5. Ergebnis
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Bei summarischer Prüfung der Rechtslage ist die Fortsetzungsuntersagung rechtmäßig und es besteht ein besonders öffentliches Interesse an der Anordnung der sofortigen Vollziehung. Damit überwiegt das öffentliche Vollzugsinteresse der S das Aussetzungsinteresse der MS Ltd.
C. Gesamtergebnis zum 1. Teil
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Ein Antrag der MS Ltd. auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung wäre zwar zulässig, aber unbegründet.
2. Teil: Rechtmäßigkeit des an B gerichteten Bescheids
A. Ermächtigungsgrundlage
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Bei der Untersagung handelt es sich um einen (formellen) Verwaltungsakt iSv § 35 VwVfG, der wegen § 1 GewO bzw wegen Art. 12 Abs. 1 GG einer Rechtsgrundlage bedarf. Als Grundlage für den an B gerichteten Bescheid kommt einerseits § 35 Abs. 7a S. 1 GewO in Betracht. Nach dieser Vorschrift kann „die Untersagung“ auch gegenüber der mit der Leitung des Betriebs beauftragten Person ausgesprochen werden. Damit ist die Untersagung nach § 35 Abs. 1 S. 1 GewO gemeint, also die Untersagung der selbstständigen Ausübung des Bewachungsgewerbes durch B[71]. Aus § 35 Abs. 7a S. 3 iVm § 35 Abs. 1 S. 2 letzte Alt. GewO folgt die Befugnis, B auch die selbstständige Ausübung anderer oder aller Gewerbe iSv § 35 GewO zu untersagen. Schließlich liefert § 35 Abs. 7a S. 3 iVm § 35 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 GewO nicht nur die Möglichkeit, B die Betriebsleitung im bislang ausgeübten Bewachungsgewerbe zu untersagen, sondern die gewerbliche Leitungsposition generell zu unterbinden[72].
Hinweis:
Grundsätzlich handelt es sich um unterschiedliche materielle Verwaltungsakte, die aber von der Behörde regelmäßig in einem formellen Bescheid miteinander verbunden werden. Von den Bearbeiter/innen ist verlangt, die jeweilige Eingriffsgrundlage zu identifizieren, was Genauigkeit und ein wenig Knobelei erfordert.
Voraussetzung ist aber, dass § 35 Abs. 7a GewO anwendbar ist. Die Anwendbarkeit des § 35 Abs. 7a GewO könnte ausgeschlossen sein, wenn ein Fall des § 35 Abs. 8 GewO vorliegt. Nach § 35 Abs. 8 S. 1 GewO sind § 35 Abs. 1–7a GewO nicht anwendbar, soweit für einzelne Gewerbe besondere Untersagungs- oder Betriebsschließungsvorschriften bestehen, die auf die Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden abstellen, oder eine für das Gewerbe erteilte Zulassung wegen Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden zurückgenommen oder widerrufen werden kann. Die zweite Variante scheidet aus. Zwar kann eine