Besonderes Verwaltungsrecht. Mathias Schubert
Die Novellierung des Kommunalrechts Mitte der 90er-Jahre in NRW und Niedersachsen hatte auch im Kreisorganisationsrecht parallele Veränderungen zur Gemeindeebene (vgl oben Rn 124) zur Folge. So wurde in beiden Ländern die sog. Doppelspitze abgeschafft und die Aufgaben des bisherigen hauptamtlichen Oberkreisdirektors (OKD) und des ehrenamtlichen Landrats in einer Person, dem hauptamtlichen Landrat als kommunalem Wahlbeamten, zusammengefasst (vgl § 42 KrO NRW).
Teil I Kommunalrecht › § 4 Die innere Gemeindeverfassung › VII. Der kommunale Organstreit
VII. Der kommunale Organstreit[133]
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Allgemein anerkannt ist inzwischen trotz des prinzipiellen Verbots eines verwaltungsinternen In-Sich-Prozesses die Möglichkeit, verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz auch für Streitigkeiten innerhalb einer kommunalen Körperschaft zu erreichen, da die organisatorische Aufgliederung hier gerade auf eine kontrastierende, mehrpolige Willensbildung abzielt. Dieses Ergebnis wäre am Ende des 19. Jahrhunderts wegen der seinerzeit vertretenen sog. Impermeabilitätstheorie, nach welcher der Staat ein für das Recht undurchdringliches (impermeables) Gebilde darstellt, dessen Organe keine Adressaten von Rechtssätzen sein können, noch undenkbar gewesen[134]. Heutzutage ist ein solcher Rechtsstreit wegen der Garantie effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 IV GG nur logisch und stringent[135]. An Stelle der missverständlichen Benennung als „Kommunalverfassungsstreit“ sollte allerdings besser die treffendere Bezeichnung „kommunaler Organstreit“ Verwendung finden. Sie umgreift Rechtsstreitigkeiten zwischen zwei Organen einer kommunalen Körperschaft (sog. Inter-Organ-Streit)
Beispiele:
Widerruf der Betrauung eines Beigeordneten mit der allgemeinen Vertretung des verantwortlichen Hauptverwaltungsbeamten.[136] Klage eines Ratsmitglieds gegen den Hauptverwaltungsbeamten auf Akteneinsicht in die Dienstpostenbewertung der Verwaltungsmitarbeiter[137].
und solche zwischen einem oder mehreren Mitgliedern eines kommunalen Kollegialorgans und diesem selbst (sog. Intra-Organ-Streit).
Beispiele:
Klage eines Ratsmitgliedes gegen seinen Ausschluss durch den Rat[138] oder gegen einen Ordnungsruf[139]; Klage eines Ratsmitgliedes gegen den Ratsvorsitzenden auf Erlass eines Rauchverbotes[140]; Klage gegen einen Ratsbeschluss über Missbilligung der Verletzung der Amtsverschwiegenheit eines Ratsmitgliedes[141]; Klage gegen die Nichtaufnahme eines von einer Fraktion oder Einzelmandatsträgern beantragten Tagesordnungspunktes für die Ratssitzung[142]. Anspruch der Gemeinderatsmitglieder auf angemessene Unterrichtung über die Gegenstände anstehender Ratsentscheidungen[143].
1. Rechtsnatur
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Unklarheiten bestehen beim kommunalen Organstreit bereits hinsichtlich der Rechtsnatur dieses Verfahrens. Während das OVG NRW zunächst durchgehend von einem „Verfahren sui generis“ sprach[144] und nicht auf Klagearten der VwGO zurückgegriffen hatte, gehen Rechtsprechung und Literatur heute fast einhellig davon aus, dass es für einen Organstreit keiner besonderen Klageart bedarf, sondern dass es sich um einen Rechtsstreit handelt, für den die üblichen Rechtsschutzformen der VwGO zur Verfügung stehen[145]. Weil aus dem Kanon der möglichen Rechtsschutzformen die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage beim kommunalen Organstreit regelmäßig ausscheiden, weil Maßnahmen, die Wahrnehmungszuständigkeiten von Organen oder Organteilen betreffen, nicht „auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet“ und somit keine Verwaltungsakte iSd § 42 II iVm § 35 VwVfG sind. Gleiches gilt im Falle der Erledigung innerorganisatorischer Maßnahmen für die Fortsetzungsfeststellungsklage. Damit verbleiben als regelmäßig zu Gebote stehende Klagearten im Organstreit die allgemeine Leistungsklage, die (subsidiäre) Feststellungsklage sowie ggf. auch die Normenkontrolle gem. § 47 I Nr 2 VwGO.[146] Auch ein vorläufiger Rechtschutz nach § 80 V VwGO scheidet wegen der fehlenden Verwaltungsaktsqualität der organschaftlichen Maßnahme aus, doch bleibt die Möglichkeit der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO, wenn es gilt, den Eintritt irreparabler Tatsachen zu hindern[147].
2. Rechtsschutzinteresse/Klagebefugnis
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Fraglich erscheint weiter, wann das spezifische Rechtsschutzinteresse für die Initiierung eines kommunalen Organstreits bejaht werden kann. Immerhin geht das verwaltungsprozessuale Rechtsschutzsystem, wie sich namentlich bei der Bestimmung des § 42 II VwGO über die Klagebefugnis bei Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen zeigt, die jedenfalls bei allg. Leistungs- und Gestaltungsklagen entsprechend anzuwenden ist[148], grundsätzlich davon aus, dass ein Kläger geltend machen können muss, in seinen Rechten verletzt zu sein. Im Organstreit geht es jedoch nicht um die üblichen subjektiv-öffentlichen Rechte, sondern um organschaftliche Kompetenzen. Es besteht daher Einigkeit dahingehend, dass es im Rahmen eines Organstreits, bei dem die Vereinbarkeit innerorganisatorischer Akte mit den Kompetenzen des jeweiligen Klägers zu klären ist, ausreichend ist, wenn der Kläger geltend machen kann, in gesetzlich begründeten, spezifischen kontrastierenden eigenen Organkompetenzen, Wahrnehmungszuständigkeiten resp. „Mitgliedschaftsrechten“ verletzt zu sein[149].
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Entscheidend ist also, ob das geltend gemachte Recht dem klagenden „Organ oder Organteil als wehrfähiges subjektives Organrecht zur eigenen Wahrnehmung zugewiesen ist“, was durch Auslegung der jeweils einschlägigen Norm zu ermitteln ist[150]. Dies wurde von der Rspr für das Recht, gemeinsame Wahlvorschläge mehrerer Fraktionen bei der Wahl von Ausschussmitgliedern einzureichen, ebenso bejaht wie für die Wahrung des Grundsatzes der Sitzungsöffentlichkeit seitens einzelner Ratsmitglieder oder Fraktionen[151].
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Umgekehrt folgt daraus, dass Organteilen wie Ratsmitgliedern oder Fraktionen dementsprechend gerade keine prozessstandschaftliche Wahrnehmung der Rechte der Gemeindevertretung eröffnet ist. Reaktionsrechte aus einer Kompetenzverletzung können grundsätzlich nur von dem in seinen Organrechten verletzten Organ selbst, nicht von dessen Mitgliedern, geltend gemacht werden. Rechte des Rates sind also vom Rat als Ganzem geltend zu machen. An der Klagebefugnis wird es also fehlen, wenn die mögliche Rechtswidrigkeit einer Maßnahme nicht eigene Rechte eines Organteils, sondern nur solche des Gesamtorgans verletzt.
Beispiele: Daher besteht keine Klagebefugnis eines Ratsmitgliedes gegen die Mitwirkung eines anderen, möglicherweise „befangenen“ Mitgliedes[152], keine Klagebefugnis einer Ratsfraktion gegen eine Maßnahme, die Kompetenzen des Gemeinderates verletzt[153], keine Klagebefugnis des vom Rat entsandten Vertreters im Aufsichtsrat einer GmbH mit Blick auf seine Abberufung[154] oder auch keine Klagebefugnis einzelner Ratsmitglieder gegen die mangelhafte Vorbereitung einer Ratssitzung durch den Ratsvorsitzenden[155].
3. Sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen
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Die Beteiligtenfähigkeit im Verwaltungsprozess ergibt sich aus § 61 Nr 2 VwGO, da dem Organ bzw Organteil insoweit eigene Rechte zustehen. Dies betrifft nicht nur Fraktionen oder Ausschüsse der Vertretung, sondern gilt etwa auch für eine Gruppe von Gemeindevertretern im Streit um die Frage, ob ihnen ein Fraktionsstatus zukommt.
Dies gilt analog (da nicht „Vereinigung“) auch für die Klage eines einzelnen Ratsmitgliedes,