Europarecht. Bernhard Kempen
Das Abfassen von Rechtstexten in derart vielen Sprachen bietet ein enormes inhaltliches wie linguistisches Fehlerpotenzial. Dies ergibt sich neben den unterschiedlichen Rechtssystemen, welche in den Mitgliedstaaten vorgefunden werden, v.a. aus der Übersetzung der Rechtstexte. Je nach Regelungsmaterie kommen neben den juristischen zudem fachsprachliche Herausforderungen hinzu (sog. doppelte Fachsprachlichkeit). Auch wenn es sich bei den Sprachfassungen juristisch betrachtet nicht um Übersetzungen handelt, so entstehen sie dennoch durch einen Übersetzungsprozess, welcher systemimmanent fehleranfällig ist. Daher war und ist es eine der zentralen Aufgaben des Gerichtshofs der EU, mögliche Unstimmigkeiten, Divergenzen oder Probleme in Bezug auf den Wortlaut der EU-Vorschriften aufzulösen und eine einheitliche Lesart herauszuarbeiten bzw. festzulegen.
2. Entscheidungskompetenz
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Der Gerichtshof der EU steht bei der Auslegung des EU-Rechts vor dem zusätzlichen Problem, dass er das Unionsrecht nur in der Weise interpretieren darf, wie die Mitgliedstaaten ihre gesetzgeberischen Kompetenzen ausdrücklich auf die Union übertragen haben. Andernfalls würde er mit einer zu weit gehenden Auslegung ggf. die mitgliedstaatlichen Regelungskompetenzen verletzen. Dabei kann die Grenzziehung zwischen den Kompetenzbereichen der EU und denen der Mitgliedstaaten durchaus schwierig sein, da mehrdeutige Rechtsnormen u.U. gerade keine klare Trennschärfe erlauben. Insoweit musste und muss sich der Gerichtshof der EU teilweise mit Rechtsnormen auseinandersetzen, die entweder unwissentlich mehrdeutig geblieben sind oder aber ganz bewusst offen formuliert wurden, da auf politischer Ebene kein Konsens bezüglich eines konkreten Wortlautes erzielt werden konnte. So wurde die Interpretation vieler Rechtsnormen anscheinend absichtlich der juristischen Bewertung durch den Gerichtshof der EU überlassen.
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II. Auslegungsmethodik des Gerichtshofs der EU
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Grundsätzlich bedient sich der Gerichtshof der EU zur Auslegung des EU-Rechts der klassischen juristischen Methoden. So finden sich in den Entscheidungen von EuGH und EuG zahlreiche grammatikalische, historische, systematische oder teleologische Argumente. Innerhalb der Kategorien können die Argumentationsmuster jedoch zu kleineren Sinneinheiten zusammengefasst werden, insbesondere im Hinblick auf grammatikalische (Rn. 202 ff.) oder teleologische Argumente (Rn. 205 ff.). Stark diskutiert wurde in der Vergangenheit zudem die Rangfolge der Auslegungsmethoden zueinander (Rn. 210 f.). Insgesamt kann die Auslegung des EU-Rechts durch den Gerichtshof der EU als teleologisch-systematische Herangehensweise beschrieben werden (Rn. 212).
1. Sprachfassungsvergleichende Wortlautauslegung
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Die grammatikalische Auslegung durch den Gerichtshof der EU ist aufgrund der zahlreichen gleichrangigen Rechtstexte in verschiedenen Sprachfassungen höchst anspruchsvoll. Eine einsprachige Wortlautauslegung kann somit niemals der alleinige Ausgangspunkt der Interpretation sein. Vielmehr muss immer der Wortlaut aller authentischen Sprachfassungen interpretiert werden. Insofern erscheint eine Bezeichnung der grammatikalischen Auslegung als sprachfassungsvergleichende Wortlautauslegung inhaltlich treffender.
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Hierbei stellen sich dogmatische Herausforderungen. Divergieren die unterschiedlichen Sprachfassungen inhaltlich oder sprachlich voneinander, steht der Gerichtshof der EU bezüglich der Wortlautinterpretation vor einem dogmatischen Dilemma. Da alle Sprachfassungen gleichermaßen verbindlich sind, kann keiner Fassung nur aufgrund des Wortlautes ein Vorrang gegenüber den anderen eingeräumt werden. So können die rechtsprechenden Institutionen der EU weder der mehrheitlich noch der minderheitlich vorzufindenden Lesart folgen, da dies immer eine Auslegung gegen den Wortlaut der ebenfalls verbindlichen anderen Fassungen darstellen würde. Insofern kann die Wortlautauslegung in vielen Fällen nur als erstes Indiz für die Entscheidung dienen.
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Darüber hinaus bietet die Wortlautinterpretation eine leicht zu übersehende Fehlinterpretationsmöglichkeit. So sind unionsrechtliche Rechtsbegriffe – wie auch die Begrifflichkeiten der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen – ausschließlich relativ auszulegen, also in dem Sinnzusammenhang und Kontext, in welchem sie verwendet werden. Dies bedeutet, dass juristische Fachtermini, die etwa in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bereits über eine eingegrenzte oder gar eindeutige Semantik verfügen, im Unionsrecht nicht zwingend ebenso verstanden werden müssen, sondern unionsrechtlich autonom auszulegen sind (sog. Grundsatz der autonomen Begrifflichkeit des EU-Rechts).
2. Acte-clair-Theorie
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Für die Konstellation des eindeutigen Wortlautes hat sich im Völkerrecht der Grundsatz des in claris non fit interpretatio herausgebildet. Er besagt, dass der Wortlaut einer Norm immer dann verbindlich ist, wenn der natürliche oder gewöhnliche Sprachgebrauch eine unmissverständliche Bedeutung ergibt. Dieser Grundsatz wird auch als Acte-clair-Theorie, Acte-clair-Doktrin, plain oder ordinary meaning rule oder schlicht als acte clair bezeichnet. Prinzipiell wird dieser Grundsatz auch bei der Interpretation des Unionsrechts angewendet. So bezeichnen die rechtsprechenden Institutionen der EU den Wortlaut des EU-Rechts vielfach als eindeutig und urteilen dementsprechend. Allerdings wird für die Entscheidung einer Streitigkeit selten ausschließlich der Wortlaut einer Vorschrift als einziges juristisches Argument angeführt.
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Darüber hinaus bietet ein Fall des acte clair für die mitgliedstaatlichen Gerichte die Besonderheit, dass diese ausnahmsweise von ihrer grundsätzlichen Vorlageverpflichtung nach Art. 267 UAbs. 3 AEUV befreit sein können. Dies gilt jedoch nur unter besonderen Voraussetzungen, die in der Rechtsprechungswirklichkeit selten vorliegen. Diese Problematik wird in dem Begriff → Vorabentscheidungsverfahren näher dargestellt.
3. Implied-powers-Doktrin
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Die aus dem US-amerikanischen Rechtssystem stammende Implied-powers-Doktrin als besonderes teleologisches Argument wird in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU ebenfalls verwendet. Nach ihr sind die Kompetenzvorschriften völkerrechtlicher Verträge derart zu interpretieren, dass die ausdrücklich normierten Kompetenzen auch ungeschriebene Kompetenzen beinhalten können, wenn ohne diese die Wahrnehmung der explizit kodifizierten Kompetenzen nicht möglich wäre. Gerade die Implied-powers-Doktrin ist in besonderem Maße dazu geeignet, die Regelungskompetenz der Union auch für Bereiche anzunehmen, die nicht ausdrücklich geregelt wurden.
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Dieser Grundsatz weist Ähnlichkeiten zu den ungeschriebenen Gesetzgebungskompetenzen des Bundes gegenüber den Ländern in Deutschland auf. So sind auch in der Bundesrepublik nach Art. 70 Abs. 1 GG grundsätzlich die Länder zur Gesetzgebung befugt, soweit dem Bund ein Kompetenztitel nicht ausdrücklich durch das Grundgesetz verliehen wird. Gleichwohl wird angenommen, dass dem Bund eine Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, kraft Natur der