Ius Publicum Europaeum. Robert Thomas
überlassen soll, nimmt sich im demokratischen Rechtsstaat aber unangemessen und überholt aus. Die grundsätzliche Bindung des Verwaltungsrechtsschutzes an die Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte verweist den Bürger letztlich auf die Rolle des „bourgeois“.[275] In dieser Interpretation besitzt die Garantie effektiven Rechtsschutzes als „Schlussstein des Rechtsstaats“ eine durchaus obrigkeitsstaatliche Konnotation. Das kann nicht das letzte Wort sein. So sehr die Fixierung des Verwaltungsrechtsschutzes auf den Individualrechtsschutz vor dem Hintergrund des Zivilisationsbruchs der NS-Zeit aus dem Bemühen nach 1949 um die Perfektionierung des Rechtsstaats zu erklären sein mag,[276] so unangemessen ist doch deren Verabsolutierung.[277]
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In Frankreich hat sich in der Vorstellung, das gerichtliche Verfahren diene auch oder gar in erster Linie der Gewährleistung des Legalitätsprinzips, dagegen das Leitbild des „citoyen“ verwirklicht, wonach sich der einzelne Bürger durch die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes auch um das Gemeinwohl sorgen kann und darf. Öffnet man sich daher der in Frankreich,[278] aber auch in Belgien,[279] Großbritannien,[280] Polen,[281] Schweden[282] und Ungarn[283] oder auf Ebene der Europäischen Union[284] geläufigen Einsicht, dass (Verwaltungs-)Rechtsschutz notgedrungen immer auch eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle der Verwaltung beinhaltet und dadurch der Implementation rechtlicher Maßstäbe dient, erleichtert das nicht nur, den Beitrag zu erkennen und einzuordnen, den eine Klägerin/ein Kläger für die Aufrechterhaltung und Durchsetzung des Gesetzmäßigkeitsprinzips leistet. Es erschließt auch eine demokratiespezifische Ventil- oder Kompensationsfunktion des (Verwaltungs-)Rechtsschutzes und seinen möglichen Beitrag zur Sicherung eines hinreichenden demokratischen Legitimationsniveaus[285] staatlicher Entscheidungen.[286]
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Eine Brücke zu einer objektiven Dimension des Rechtsschutzes findet sich im Übrigen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit der seit 1993 auf der Grundlage von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG entfalteten Rechtsprechung zum „Anspruch“ bzw. „Recht auf Demokratie“,[287] die das Wahlrecht – und damit verbunden die Rügefähigkeit im Verfahren der Verfassungsbeschwerde – inhaltlich um den Schutz vor einer dauerhaften Entleerung der politischen Mitbestimmungsmöglichkeit angereichert hat. Das relativiert ein Stück weit die aus dem Liberalismus und Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts überkommene kategorische Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft, dem ausschließlich gemeinwohlbezogenen Staatsorganisationsrecht und den dem Individualschutz dienenden Grundrechten, und nimmt den Bürger erstmals[288] in seiner Rolle als „citoyen“ ernst.[289] In diesem Sinn erscheint auch die in Bayern bereits seit 1946/47 vorgesehene Popularklage (Art. 98 Satz 4 BayVerf., Art. 55 BayVfGHG), die es dem Bürger ermöglicht, auch an der Kontrolle der Politik ohne die Rüge einer subjektiven Rechtsverletzung mitzuwirken, weniger als landesspezifische Skurrilität, denn als eine demokratiespezifische verfassungsrechtliche Innovation, die ihrer Zeit weit voraus war.[290]
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Das hier aufscheinende Verständnis eines demokratisch radizierten status procuratoris vermag die objektiv-rechtliche Dimension des Verwaltungsrechtsschutzes angemessen zu erfassen und seine integrative Wirkung dogmatisch zu reflektieren und ermöglicht darüber hinaus einen bruchlosen Anschluss an unionsrechtliche Vorgaben.[291] Vor allem aber ermöglichte es den Brückenschlag zu der französisch radizierten Konzeption des Verwaltungsrechtsschutzes und trüge damit zur Herausbildung eines gemeineuropäischen Verwaltungsrechtsschutzes bei, in dem sich individualschützende und objektiv-rechtliche Funktionen gleichermaßen niedergeschlagen haben.[292]
§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › Bibliographie
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§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › Anhang: Der Fragebogen
Anhang: Der Fragebogen
I. Genese und Entwicklung
1. Vorgängerinstitutionen, gerade auch administrative Rechtsschutzverfahren, historischer Kontext der Einrichtung (bzw., etwa im Vereinigten Königreich oder Schweden, die Entwicklung der verwaltungsgerichtlichen