Ius Publicum Europaeum. Robert Thomas
die mit einem ausgebauten Rechtsschutzsystem einhergehen.[113] Als „formelles Hauptgrundrecht“[114] ist die Rechtsschutzgarantie insoweit eine „Bastion der Individualität“[115] und zugleich eine Systementscheidung für einen auf den Individualrechtsschutz konzentrierten Verwaltungsrechtsschutz.[116] Das gilt auch für Großbritannien, das unter Rückgriff auf die rule of law jedenfalls bei der Verletzung subjektiver Rechte eine quasi-verfassungsrechtliche Verbürgung von Verwaltungsrechtsschutz kennt[117] und obwohl die tribunals eine Zweckmäßigkeitskontrolle vornehmen, die zugleich der Korrektur der Verwaltung dient.
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In Frankreich[118] – aber auch in Belgien,[119] Polen[120] und Schweden[121] – werden Individualrechtsschutz und objektive Rechtmäßigkeitskontrolle hingegen nicht als dermaßen dichotomische Antipoden verstanden. Hier geht beides vielmehr Hand in Hand: (Gerichtliche) Rechtsbehelfe dienen der Sanktionierung rechtswidrigen Verwaltungshandelns und damit zugleich der Wahrung der Rechte und Interessen der Bürger, ohne dass Letzteres allerdings im Vordergrund stünde.[122] Obwohl Polen mit Art. 45 Abs. 1, Art. 77 Abs. 2 und Art. 78 Verf. über eine Rechtsschutzgarantie verfügt, räumt es dem Individualrechtsschutz keinen deutlichen Vorrang ein, sondern steht insoweit dem französischen Verständnis näher.[123] Der Akzent auf der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle bedeutet freilich nicht, dass Rechtsverletzungen keiner (verwaltungs-)gerichtlichen Überprüfung unterlägen. Vielmehr lässt sich gerade der Entwicklung des französischen Verwaltungsprozessrechts in den vergangenen Jahren durchaus entnehmen, dass dort individuelle Interessen und Belange an Gewicht gewonnen haben.
b) Individualrechtsschutz und Legalitätsprinzip
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Ein lückenloser Individualrechtsschutz wirkt sich zwangsläufig disziplinierend auf die Verwaltung aus, weil diese die mögliche Inanspruchnahme von Rechtsschutz stets in Rechnung stellen muss,[124] und dient insoweit auch der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bzw. dem Legalitätsprinzip. Mit jeder Inanspruchnahme von Verwaltungsrechtsschutz geht auch stets eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle der Verwaltung einher, die dem demokratisch legitimierten Recht zur Durchsetzung verhilft.[125] Dass die Inanspruchnahme von Individualrechtsschutz immer auch der Durchsetzung des Legalitätsprinzips bzw. der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung dient und damit jeder Kläger immer auch – als „citoyen“ im wahrsten Sinne des Wortes[126] – gewissermaßen als „Organ der Rechtspflege“ handelt,[127] ist eine aus dem Unionsrecht geläufige Einsicht, wo der EuGH den Kläger seit der Rs. van Gend & Loos für die Durchsetzung des Unionsrechts mobilisiert bzw. instrumentalisiert hat.[128] Das gilt über das Unionsrecht hinaus, auch wenn die objektive Rechtmäßigkeitskontrolle in einem durch die Prägekraft einer Rechtsschutzgarantie auf den Individualrechtsschutz ausgerichteten System des (Verwaltungs-)Rechtsschutzes stets nur ein – unvermeidlicher, aber willkommener – „Reflex“ bleibt.
c) Angleichung der Rechtsschutzsysteme durch Ausweitung subjektiver Rechte und einer bereichsspezifischen objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle
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Die Angleichung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum beruht vor allem auf den beiden Megatrends im Verwaltungsrecht der vergangenen 70 Jahre – der Konstitutionalisierung und der Europäisierung. Beide haben eine kontinuierliche Ausweitung subjektiver öffentlicher Rechte bzw. rechtlich geschützter Interessen angetrieben[129] und zudem zahlreiche Handlungen der Exekutive einer gerichtlichen Kontrolle unterworfen, die lange Zeit als nicht justitiabel gegolten haben.[130]
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Auch in Rechtsordnungen, die den Individualrechtsschutz ins Zentrum stellen, ist der gezielte Einsatz des Verwaltungsrechtsschutzes für eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle im Übrigen nicht ausgeschlossen.[131] Soweit Rechtsschutz ausschließlich der Wahrung öffentlicher Belange durch eine für die Durchsetzung des Rechts mobilisierte natürliche oder juristische Person dient – wie etwa die altruistische Verbandsklage im Umwelt- und Naturschutzrecht[132] –, stellt sich das der Sache nach als Durchbrechung der Systementscheidung für den Individualrechtsschutz dar.[133] Zwar schließt diese den Einsatz gerichtlicher Verfahren für eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle nicht aus; einer grundlegenden Systemverschiebung wird sie jedoch entgegenstehen, sodass die Belastung der Gerichte mit allein der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle der Verwaltung dienenden Verfahren die Gewährleistung effektiven Individualrechtsschutzes nicht faktisch aushöhlen darf.[134]
§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › IV. Verfassungsrechtliche Anforderungen an den „Rechtsweg“ und seine Ausgestaltung › 2. Gewährleistungsgehalt der Rechtsschutzgarantie
a) Verwaltungsrechtsschutz als Gerichtsschutz
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Effektiver Rechtsschutz wird – vorbehaltlich anderweitiger verfassungsrechtlicher[135] oder supranationaler Vorgaben[136] – grundsätzlich durch staatliche Gerichte gewährt.[137] Auch der Verwaltungsrechtsschutz liegt insoweit vorrangig in der Hand von Gerichten. Das gilt auch für Großbritannien, jedenfalls dann, wenn man die unabhängig und in einem gerichtsähnlichen Verfahren entscheidenden tribunals miteinbezieht.[138]
b) Verwaltungsinterner Rechtsschutz
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Die meisten europäischen Rechtsordnungen kennen aber auch Formen eines verwaltungsinternen Rechtsschutzes, vor allem in der Gestalt eines – dem gerichtlichen Verfahren vorgeschalteten – obligatorischen oder fakultativen Beschwerde- oder Widerspruchsverfahrens.[139] In der Regel beruht dies auf einer einfach-gesetzlichen Anordnung, mitunter ist es auch verfassungsrechtlich vorgegeben, etwa in Polen, wo die Verfassung die sog. instanzielle Verwaltungskontrolle ausdrücklich vorschreibt (§ 78 Verf.).[140]
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Zum verwaltungsinternen Rechtsschutz gehören auch die Konstellationen, in denen das Gesetz eine Streitentscheidung zwischen Bürger und Verwaltung besonderen verwaltungsinternen Ausschüssen überträgt. In Deutschland – vergleichbare Einrichtungen finden sich aber auch in anderen Rechtsordnungen[141] – gilt dies namentlich für die Beschlusskammern bzw. -abteilungen im Energiewirtschafts- und Kartellrecht (§ 59 Abs. 1 Satz 1 EnWG, § 51 Abs. 2 bis 4 GWB) sowie für die Vergabekammern (§ 155 ff. GWB). Mangels organisatorisch-institutioneller Trennung von der Exekutive sind solche Einrichtungen Behörden und keine Gerichte, auch wenn ihre Mitglieder unabhängig sind und sie in einem gerichtsähnlichen Verfahren entscheiden.[142] Davon zu unterscheiden ist, ob sie den Anforderungen des Art. 267 AEUV genügen und zu einer Vorlage an den EuGH berechtigt sind.[143] Denn dem EuGH geht es insoweit weniger um einen effektiven Rechtsschutz denn darum, die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts möglichst umfassend durchsetzen zu können.
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Soweit gegen die Entscheidungen des verwaltungsinternen Rechtsschutzes der Weg zu den Gerichten eröffnet ist – sei es die Klageerhebung nach Abschluss eines Vorverfahrens,[144] sei es als „Rechtsmittel“[145] – liegt in der Regel erst darin die den verfassungsrechtlichen Anforderungen bzw. Art. 6 EMRK genügende Einlösung der Garantie effektiven Rechtsschutzes.[146] Insoweit ist der verwaltungsinterne Rechtsschutz – vorbehaltlich spezifischer verfassungsrechtlicher Vorgaben – jedenfalls unter dem Blickwinkel der Rechtsschutzgarantie nicht entscheidend, sodass auch gegen seine Streichung in der Regel keine verfassungsrechtlichen Einwände bestehen dürften.[147]
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Zum Befund der Rechtsschutzgarantie in Europa gehört in diesem Zusammenhang auch,