Ius Publicum Europaeum. Robert Thomas
diese Kontroverse war die zu Beginn der Französischen Revolution 1789 erhobene Forderung nach einer Unterwerfung der Verwaltung unter die allgemeine (ordentliche) – von der Exekutive unabhängige (!) – Gerichtsbarkeit. Zwar ist dieser Ruf in Frankreich mit der Errichtung des Conseil d’État bald in Vergessenheit geraten, wo die Verwaltungsgerichtsbarkeit noch heute als besondere Form der Verwaltung begriffen wird;[16] in anderen Ländern hat er dagegen weniger als Vor- denn als Gegenbild gedient. Das gilt allerdings weniger für Deutschland, wo mit dem Scheitern der Revolution von 1848/49 auch in Vergessenheit geriet, dass die Paulskirchenverfassung bestimmt hatte: „Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte.“ (§ 182 RV 1849),[17] wohl aber für Großbritannien,[18] Schweden[19] und die Schweiz,[20] wo die Beibehaltung oder Etablierung einer allgemeinen (ordentlichen) Gerichtsbarkeit in einer mehr oder weniger reflektierten Abgrenzung zum französischen Modell erfolgte und typischerweise von einem Misstrauen gegen die (monarchische) Exekutive getragen war.
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Vor diesem Hintergrund haben sich in Europa im Wesentlichen drei Modelle des Verwaltungsrechtsschutzes herausgebildet:
– | Staaten mit einer einheitlichen Gerichtsbarkeit mit umfassender Rechtsprechungszuständigkeit, wie man sie mehr oder weniger in Großbritannien,[21] Dänemark und Norwegen[22] findet. |
– | Staaten, in denen der Rechtsschutz gegenüber der öffentlichen Gewalt zwischen der allgemeinen (ordentlichen) Gerichtsbarkeit und spezialisierten Verwaltungsgerichten aufgeteilt ist.[23] Das gilt für Belgien,[24] Deutschland,[25] Italien,[26] die Niederlande,[27] Österreich,[28] Polen,[29] Schweden[30] und Spanien.[31] Deutschland, Italien und Österreich kennen zwar eine eigenständige Verwaltungsgerichtsbarkeit. Der Verwaltungsrechtsschutz ist hier jedoch zwischen den Gerichtsbarkeiten mehr oder weniger systematisch aufgeteilt. |
– | Staaten mit einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit, die selbständig neben den allgemeinen (ordentlichen) Gerichten steht und eine weitgehend umfassende Zuständigkeit für den Verwaltungsrechtsschutz besitzt. Prototyp ist insoweit Frankreich,[32] dessen Conseil d’État seit dem 19. Jahrhundert für viele andere Staaten in Kontinentaleuropa Pate gestanden hat.[33] Auch Ungarn gehört neuerdings in diese Gruppe.[34] |
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Ein genauerer Blick zeigt freilich, dass die Prototypen nirgends vollständig verwirklicht oder kopiert worden sind. Das gilt in besonderem Maße für die Schweiz, wo sich auf kantonaler Ebene unterschiedliche Modelle für die Ansiedlung des Verwaltungsrechtsschutzes innerhalb oder außerhalb der allgemeinen Gerichtsbarkeit durchgesetzt haben (sog. „Berner Modell“, „Basel-städtisches Modell“ sowie ein Mischmodell),[35] auf Bundesebene 2007 ein (erstinstanzliches) Bundesverwaltungsgericht eingerichtet wurde[36] und sich die Verwaltungsgerichtsbarkeiten von Bund und Kantonen unter dem gemeinsamen Dach des Bundesgerichts als Beschwerdeinstanz befinden.[37] Blickt man auf die Systeme mit Einheitsgerichtsbarkeit, so finden sich – wie in Großbritannien mit den tribunals und dem Administrative Court – in jüngerer Zeit zumindest auf unterer Ebene organisatorisch verselbständigte Verwaltungsgerichte; auch haben die allgemeinen (ordentlichen) Gerichte – wie in Großbritannien,[38] den Niederlanden[39] oder Schweden[40] – in der Regel besondere, auf verwaltungsrechtliche Streitigkeiten spezialisierte Spruchkörper eingerichtet. Hingegen gibt es selbst in Frankreich, ungeachtet der dominierenden Rolle des Conseil d’État, auch einige begrenzte Zuständigkeiten der ordentlichen Gerichte im Bereich des Verwaltungsrechtsschutzes.[41]
b) Verwaltungsgerichtliche Zweckmäßigkeitskontrolle
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Die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit aus der Verwaltung heraus hat in einer Reihe von Staaten nicht nur dazu geführt, dass diese wie in Frankreich (theoretisch) noch immer als Teil der Verwaltung begriffen wird.[42] In anderen Rechtsordnungen ist es insofern gar nicht zu einer vollständigen Trennung von Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit gekommen, als die (Verwaltungs-)Gerichte teilweise auch dafür zuständig sind, die Zweckmäßigkeit des Verwaltungshandelns zu kontrollieren. Diese in Deutschland (§ 68 ff. VwGO) und anderen Staaten in verwaltungsrechtliche Vorverfahren[43] ausgelagerte Aufgabe wird in Polen,[44] Schweden,[45] aber auch durch die tribunals in Großbritannien[46] (auch) von Gerichten wahrgenommen. Um Verwaltungsrechtsschutz im engeren Sinne geht es dabei allerdings nicht, sondern um eine Funktionenverschränkung zwischen Zweiter und Dritter Gewalt.
§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › I. Grundzüge des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › 3. Richter als Quelle des Verwaltungsrechts
3. Richter als Quelle des Verwaltungsrechts
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Verwaltungsrecht ist in nahezu allen (Teil-)Rechtsordnungen historisch und funktional zudem vor allem Richterrecht. Das lässt sich für Deutschland an der Rolle des Preußischen Oberverwaltungsgerichts ebenso festmachen wie an jener des Bundesverwaltungsgerichts,[47] für Frankreich an der herausragenden Rolle des Conseil d’État,[48] für Griechenland an der Rolle des Staatsrats[49] und für die Europäische Union an der nicht minder prägenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Soweit es an normativen Vorgaben fehlte, waren bzw. sind die Gerichte jeweils dazu gezwungen, unter Rückgriff auf das Zivilrecht, das nationale Verfassungsrecht oder die Rechtsvergleichung allgemeine Rechtsgrundsätze zu entwickeln und weiter zu verfeinern.
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Diese Pionierfunktion hat die Rolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit geprägt – im Verhältnis zur Exekutive wie zur Legislative. In den meisten Veraltungsrechtsordnungen Europas konnte der Gesetzgeber Kodifikationen grundlegender Bereiche oder allgemeiner Teile nur bewerkstelligen, indem er an die richterrechtliche Entfaltung allgemeiner (Verfassungs-)Grundsätze angeknüpft hat.[50] Es ist auch kein Zufall, dass er dabei äußert behutsam zu Werke geht und sich – aus nachvollziehbarem Respekt vor der Vielfältigkeit und Unüberschaubarkeit der Materie – in der Regel auf die Nachzeichnung der in der Praxis entwickelten und einigermaßen etablierten Institute beschränkt. In Frankreich ist der Respekt vor dem Richterrecht so groß, dass von einer Kodifizierung sogar eine Bedrohung der historisch gewachsenen und allgemein akzeptierten Rolle des Conseil d’État befürchtet wird.[51]
§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › II. Verfassungsrechtliche Vorgaben für den Verwaltungsrechtsschutz
II. Verfassungsrechtliche Vorgaben für den Verwaltungsrechtsschutz
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Rechte sind nur und erst dann effektiv, wenn sie im Konfliktfall auch durchgesetzt werden können.[52] Das gilt insbesondere gegenüber der öffentlichen Gewalt, d.h. dem Staat und seiner Verwaltung. Aus diesem Grunde haben eine Reihe von europäischen Verfassungen ausdrückliche Rechtsschutzgarantien verankert, die jedenfalls auch den Verwaltungsrechtsschutz abdecken (1.). Teilweise ergibt sich dieser aus allgemeinen Grundsätzen (2.), wobei eigentlich jedem (Grund-)Recht die Durchsetzbarkeit schon wesensmäßig innewohnt (3.).
§ 127 Zur verfassungsrechtlichen Prägung des Verwaltungsrechtsschutzes im europäischen Rechtsraum › II. Verfassungsrechtliche Vorgaben für den Verwaltungsrechtsschutz › 1. Ausdrückliche Rechtsschutzgarantien