Ius Publicum Europaeum. Robert Thomas
Geprägt ist der im konkreten Einzelfall durchaus komplexe Eilrechtsschutz durch die Mindestanforderung einer summarischen Prüfung sowie eine Interessenabwägung, im Rahmen derer die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs maßgeblich mitberücksichtigt werden.[248] Die als verfassungsrechtliche Vorgabe in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes[249] bedeutet für den Eilrechtsschutz in Deutschland, dass dieser im Grundsatz den Rechtszustand beim Einzelnen erhalten soll und nicht etwa auf eine spätere Entschädigung gegen die rechtswidrig handelnde Behörde verwiesen werden soll.[250]
§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › III. Die rechtlichen Grundlagen der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Kontext › 4. Kontrolldichte und Entscheidung
a) Kontrolldichte
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Die Frage der „Kontrolldichte“ der Verwaltungsgerichte gegenüber dem Verwaltungshandeln ist die zentrale Frage im Verhältnis der rechtsprechenden zur ausführenden Gewalt. Diese ist eng verbunden mit der Problematik administrativer Entscheidungsspielräume im Verwaltungsrecht, welche insbesondere die deutschsprachige Rechtswissenschaft bereits seit Langem beschäftigt.[251] Die Verfassungsgarantie eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) lässt eine Grundvermutung für eine hohe Kontrolldichte entstehen.[252] Zugleich legt der Gewaltenteilungsgrundsatz nahe, dass die ausführende Gewalt eine eigene Legitimität, Funktionalität und Sachkunde aufweist, die nicht durch die Gerichte vollumfänglich überspielt werden kann. Es geht bei der Frage nach der Kontrolldichte aber auch um eine Machtfrage und darum, wer das letzte Wort über konkrete Entscheidungen hat. Je höher die Kontrolldichte der Verwaltungsgerichte, desto geringer der Spielraum der Verwaltung. Je geringer die Kontrolldichte, desto eher bestehen endgültige Entscheidungen der Verwaltung, die der Bürger nicht mehr von einem unabhängigen Gericht überprüfen lassen kann. Dies steht in einem Spannungsverhältnis zur Rechtsschutzgarantie der Verfassung. Eine nicht unerhebliche Steuerung kann dabei der Gesetzgeber vornehmen, indem er mehr oder weniger detaillierte Vorgaben an die Verwaltung vorsieht, etwa indem er eingeschränkt überprüfbare Beurteilungsspielräume festlegt. Nach der normativen Ermächtigungslehre[253] ist dem Gesetzgeber nämlich der erste Zugriff auf die Machtverteilung zwischen Exekutive und Judikative zugewiesen. Damit geht es nicht nur um ein zweipoliges Verhältnis Verwaltungsgerichte – Verwaltung, sondern um ein dreipoliges Gefüge Gesetzgeber – Verwaltungsgerichte – Verwaltung. Die Kontrolldichte stellt sich dabei als akzessorisch zum Kontrollmaßstab dar, der durch das jeweilige materielle Recht und damit – jenseits verfassungsrechtlicher Vorgaben – maßgeblich durch den Gesetzgeber bestimmt wird.[254] Die gerichtliche Kontrolle kann demnach nicht über die gesetzlich vorgegebene Bindung der Verwaltung hinausgehen. Sie endet, wie es das BVerfG seit einiger Zeit formuliert, dort, wo das materielle Recht die Entscheidung „nicht vollständig determiniert“.[255] Zugleich geben gesetzliche Vorgaben dabei aber in aller Regel keine stets hundertprozentig konkret determinierten Instruktionen, sondern werden von den gerichtlichen Kontrolleuren interpretiert – dann kommt es für die Machtverteilung aber eben gerade doch vor allem auf die Gerichte an.
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Eine Rolle spielt bei alldem möglicherweise auch die Grundkonfiguration des Rechtsschutzsystems in all ihren historischen und psychologischen Zusammenhängen. So ist für Großbritannien und Frankreich, wo die Funktionsfähigkeit der Verwaltung im Vordergrund steht, von einem „Vertrauensvorschuss“ zugunsten der Verwaltung gesprochen worden, wohingegen in Österreich oder in Deutschland im Vergleich ein eher geringes Vertrauen in die Verwaltung diagnostiziert wird, was durch die den Gerichten beigemessene wichtige Rolle „kompensiert“ werde.[256]
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In der Langzeitentwicklung ist die Tendenz zu beobachten, dass einer gerichtlichen Überprüfung nicht zugängliche Spielräume der Verwaltung zwar einerseits explizit mittels verschiedenster dogmatischer Einzelfiguren wie Beurteilungsspielräumen oder Ermessen durch die Gerichte anerkannt und respektiert werden. Zugleich nehmen die Freiheiten der Verwaltung innerhalb dieser Figuren aber eher ab, wobei sicherlich je nach Sachbereich Unterschiede bestehen. Die dogmatischen Figuren, die die Rechtsprechung hier verwendet, betonen im Ausgangspunkt den Unterschied zwischen der Tatbestandsseite und der Rechtsfolgenseite einer in Rede stehenden Norm. Anerkannt ist, dass vor den Gerichten abgeschirmte administrative Entscheidungsspielräume in unterschiedlichen Formen auftreten können, sei es als tatbestandliche Beurteilungs- oder als rechtsfolgenseitige Ermessensspielräume. Dahinter steht möglicherweise ein ganzheitliches Problem, das von der jeweiligen rechtsdogmatischen Einzelfigur unabhängig ist.[257] Die Spielraumlehren des Unionsrechts oder anderer Rechtsordnungen deuten in diese Richtung.[258] Für Rechtsprechung und Lehre in Deutschland aber ist der Unterschied zwischen der Tatbestandsseite und der Rechtsfolgenseite gleichwohl nach wie vor von großer Bedeutung. Während ein unbestimmter Rechtsbegriff auf Tatbestandsseite nur ausnahmsweise einen unüberprüfbaren Beurteilungsspielraum der Verwaltung begründet, liegt bei Eröffnung von rechtsfolgenseitigem Ermessen stets ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer administrativer Entscheidungsspielraum vor (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).
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In jüngerer Zeit verwischen dabei die Grenzen zwischen tatbestandlichem Beurteilungsspielraum und Rechtsfolgenermessen in manchen Konstellationen, wie sich in der Diskussion um das „Regulierungsermessen“ zeigt. Dabei handelt es sich um einen administrativen Entscheidungsspielraum, den BVerwG und BVerfG im Bereich des Telekommunikationsrechts anerkannt haben und der sich sowohl auf die Tatbestands- als auch auf die Rechtsfolgenseite erstreckt.[259]
aa) Überprüfbarkeit des Sachverhalts, unbestimmter Rechtsbegriffe
und von Beurteilungsspielräumen
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Der Untersuchungsgrundsatz nach § 86 VwGO gibt den Gerichten nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht zur Ermittlung des Sachverhaltes.[260] Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen, im Unterschied zum Zivilprozess, in dem der Verhandlungsgrundsatz gilt.[261]
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Abgrenzungsfragen stellen sich gleichwohl, wenn das für die streitbefangenen realen Vorgänge maßgebliche Gesetz mit unbestimmten Rechtsbegriffen operiert, weil es um Wertungs- und Einschätzungsfragen geht oder um Fragen, die eine besondere Sachkunde erfordern, die so nicht ohne Weiteres dem Gericht zur Verfügung steht, oder um Sachverhaltskonstellationen, die zeit- oder situationsgebunden sind.
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Grundsätzlich überprüfen die Gerichte wegen der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG die Tatbestandsseite in vollem Umfang. Gleichwohl gestehen die Gerichte auf der Tatbestandsseite für bestimmte Fallgruppen der Verwaltung einen Beurteilungsspielraum zu, der nur eingeschränkt überprüft wird. Beispiele sind Prüfungsentscheidungen, bestimmte Prognoseentscheidungen oder dienstliche Beurteilungen. Die Gerichte überprüfen dabei lediglich, ob der Beurteilungsspielraum verkannt wurde (Beurteilungsausfall), ob ein unzutreffender Sachverhalt angenommen, anerkannte Bewertungsmaßstäbe verkannt oder sachfremde Erwägungen angestellt wurden (Fehlgebrauch) oder ob eine Beurteilungsüberschreitung vorliegt. Diese Fehlerlehre ist an die Ermessensfehlerlehre angelehnt.[262]
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Besondere Schwierigkeiten bereiten sog. Kopplungsvorschriften. Dies sind Normen, die einen unbestimmten Rechtsbegriff auf der Tatbestandsseite mit Ermessen auf der Rechtsfolgenseite der Norm verbinden.[263] Hier stellt sich die Frage, in welchem Umfang die Gerichte prüfen dürfen, insbesondere ob für die Normelemente die jeweiligen Regeln gelten oder eine Gesamtbetrachtung anzustellen ist oder die Regeln für das eine Normelement auf das andere Normelement ausstrahlen. Hierzu besteht keine allgemeine Antwort, es kommt letztlich auf die konkrete Norm an.
bb)