Der Tod setzt Segel. Robin Stevens
alt="image"/>
Dies ist ein Bericht über den letzten Mordfall, den die Detektei Wells & Wong je gemeinsam gelöst hat.
Mein Name ist Hazel Wong und ich bin am Boden zerstört. Bisher habe ich fest daran geglaubt, dass sich die Dinge zwischen meiner besten Freundin Daisy und mir niemals ändern könnten, zumindest nicht wirklich. Selbst wenn der Rest der Welt aus den Fugen geraten und wie eine Weihnachtskugel auf dem Boden zerschellen sollte, könnte nichts uns beiden je etwas anhaben. Immerhin waren wir Wells & Wong. Wir waren die Detektei und würden immer Oberwasser behalten.
Doch nun muss ich einsehen, dass ich den Fehler begangen hatte, wie Daisy zu denken. In meinem Kopf haben sich ihre Stimme und meine eigene inzwischen so sehr miteinander vermischt, dass ich sie kaum noch auseinanderhalten kann, es sei denn, ich gebe mir bewusst die Mühe, innezuhalten und darüber nachzudenken – aber gerade das, nämlich innehalten, wollte ich nicht, nicht in diesem Fall. Außerdem hat Daisy mir versprochen … sie hat versprochen …
Allmählich sollte ich alt genug sein, um zu wissen, dass Versprechen gebrochen werden können, dass niemand unantastbar und auch der Mythos von Daisy Wells, dem Mädchen, das dem Tod die Stirn bietet, ohne auch nur einen Kratzer davonzutragen, eben nur das ist: ein Mythos.
Ich beginne mit diesem Bericht zu Hause bei Daisy, auf Fallingford, am Tag vor Heiligabend. Als ich zuletzt an Weihnachten hier war, waren in jedem Kamin prasselnde Feuer entzündet, neben der großen Haupttreppe stand ein herrlich beleuchteter, riesiger Baum und Hetty, das Hausmädchen der Familie Wells, brachte aus der Küche unzählige Teller voll Weihnachtsküchlein, importierter Gewürze und dampfender Leckereien. Dieses Weihnachten jedoch ist vollkommen anders. Im Haus ist es kalt und irgendwie andauernd dunkel, egal wie viele Lampen und Kerzen Chapman und Hetty anzünden. Mrs Doherty, die Köchin, hat die Plätzchen verbrennen lassen und selbst die Hunde wirken todtraurig. Meine kleinste Schwester May versucht gerade, sie mit Keksen zu füttern, doch die Hunde ignorieren sie, weshalb May die beiden anbrüllt.
»Ich glaube, ich hasse englische Weihnachtsfeiern«, hat meine andere Schwester, Rose, gerade gesagt und ich kann ihr nur recht geben.
Aber nicht über England will ich nun schreiben, sondern über Ägypten: die Helligkeit dort, wie die Sonne auf dem Nil glitzert, das Dröhnen und Rütteln unseres Kreuzfahrtschiffs unter meinen Füßen – und Daisy. In dem Augenblick, als wir die Kabine betraten und das Blut sahen, hielt ich alles für nichts anderes als ein weiteres aufregendes Abenteuer, ein neues Rätsel, das es zu lösen galt, doch nun muss ich einsehen, wie falsch ich lag. Ich habe es lange vor mir hergeschoben, diesen Fall zu dokumentieren. Doch nun, endlich, will ich diese letzten Tage – unseren letzten Mordfall – noch einmal Revue passieren lassen, um noch einmal bei ihr zu sein.
Vielleicht kann ich Daisy so wieder zum Leben erwecken.
2
Vermutlich nahm alles während des Herbsttrimesters auf der Deepdean seinen Anfang. Daisy und ich waren inzwischen Elftklässlerinnen, was sich schrecklich erwachsen und vielversprechend anhört – nur leider entpuppte sich die Realität als ebenso vernebelt und verwirrend wie das englische Herbstwetter.
Unsere Detekteikolleginnen hatten schlechte Laune – und einen ausgesprochen guten Grund dafür. Der Mutter unserer Freundin Küken ging es von Tag zu Tag schlechter, ohne dass irgendjemand etwas daran ändern konnte. Im Sommer hatten wir alle erstmals davon erfahren, dass ihre Krankheit unheilbar war. Sobald der Schock darüber allmählich nachgelassen hatte, begriffen wir, dass es in der englischen Sprache einfach nicht die richtigen Worte dafür gibt, um auszudrücken, wie sehr wir das bedauerten. Außerhalb von Büchern ist diese Trauer irgendwie viel weniger dramatisch, dafür kostet sie wesentlich mehr Kraft, als einem in Büchern vorgemacht wird.
»Ich will nicht, dass ihr mich bemitleidet«, sagte Küken entschieden. »SEHT mich nicht so an!« Also mussten wir so tun, als würde uns nicht auffallen, wie sie immer dünner wurde, bis die großen Augen in ihrem schmalen Gesicht riesig wie Kutschenlampen wirkten.
Wir mussten ungeheuer vorsichtig sein, wenn es in irgendeiner Form um Mütter ging. Sobald Küken den Schlafsaal betrat, verkniff Kitty sich die Beschwerden darüber, dass ihre Mutter ein Baby erwartete (»Es wird genauso furchtbar werden wie Binny! Wahrscheinlich sogar schlimmer!«). Und Lavinia entsorgte die aufmerksamen Nachrichten, die sie gemeinsam mit wunderschön verpackten Paketen voller Süßigkeiten und Kuchen von ihrer Stiefmutter Patricia bekam, damit Küken sie nicht zu sehen bekam.
Daisy dagegen behandelte das Thema natürlich in typischer Daisy-Manier. Sie war die Einzige von uns, die tatsächlich die meiste Zeit vergaß, dass Küken überhaupt eine Mutter hatte. Sie stürzte sich wieder in Lacrosse und Reiten und mogelte voller Hingabe einfallsreiche Fehler in ihre Aufsätze – und sie legte sich erneut mächtig ins Zeug, unseren Kleinkrieg mit dem anderen Schlafsaal anzufeuern, vor allem mit Amina El Maghrabi.
Zuerst war ich darüber ziemlich überrascht. Immerhin hatten wir nach den Ereignissen des vergangenen Sommers mit Amina Freundschaft geschlossen, hatte ich zumindest angenommen – und Amina war zu uns auch freundlich. Sie winkte uns auf dem Flur, sie plauderte mit uns beim Abendessen und sie wartete auf uns, damit wir gemeinsam zum Wohnheim laufen konnten. Gezwungenermaßen bedeutete das, dass wir automatisch wesentlich mehr Zeit mit Clementine Delacroix verbrachten als je zuvor, und zu meiner Verblüffung stellte ich fest, dass sie gar nicht so schlimm war, wie ich immer angenommen hatte. Außerdem mochte ich Amina sehr – sie war witzig, schlau und mutig. Ich war fest entschlossen, nett zu ihr zu sein, weil ich nur zu gut wusste, wie schwer man es auf der Deepdean hatte, wenn man nicht dem Ideal einer englischen jungen Dame entsprach.
Daher verstand ich einfach nicht, warum Daisy jede von Aminas freundschaftlichen Gesten mit einer Gehässigkeit quittieren musste. Ich ärgerte mich über Daisy, außerdem war es mir peinlich – eines Morgens, drei Wochen nach Schulbeginn, entschuldigte ich mich daher am Frühstückstisch bei Amina, während Daisy uns über eine Scheibe Toast hinweg erdolchende Blicke zuwarf.
»Ach, das macht mir nichts aus«, sagte Amina. »Sie meint es ja nicht so, oder, Daisy?« Sie zwinkerte Daisy zu, während sie sich Marmelade vom Daumen lutschte.
»WOHL KAUM!«, sagte Daisy unsinnigerweise, während ihre Wangen Farbe annahmen.
In diesem Moment hätte ich es begreifen sollen; nur tat ich das nicht.
Es dämmerte mir nicht, als Amina Daisy im Unterricht Zettel zuschob, die Daisy zerfetzte und unter dem Absatz zertrat. Es dämmerte auch nicht, als Amina Daisy fragte, was sie von ihrem Sonntagskleid hielt, und Daisy ihr voller Zornesröte im Gesicht antwortete, dass sie wie eine Vogelscheuche aussehe.
Der Groschen fiel erst, als ich während der fünften Schulwoche mitten in der Nacht aufwachte, weil etwas leise, eigentlich kaum wahrnehmbar, raschelte. Noch vor einem Jahr hätte mich das nicht geweckt, doch inzwischen waren meine Detektivinnensinne schärfer, daher war ich sofort in Alarmbereitschaft. Ich öffnete die Augen sehr vorsichtig und nur einen winzigen Spalt breit, atmete gleichmäßig und langsam weiter und spähte durch meine Wimpern zu Daisy, die in ihrem Bett saß. Flink wie eine Katze schwang sie die Füße zu Boden und setze sie behutsam auf. Eine Detekteibesprechung war nicht angesetzt – es gab gar keinen Fall zu bearbeiten; das Trimester war bisher völlig frei von Verbrechen gewesen. Daher war es mir ein Rätsel, was sie vorhatte. Ich gab acht, vollkommen reglos zu warten, bis sie sich ans Fenster geschlichen hatte, und setzte mich erst auf, als ich hörte, wie der Fensterrahmen quietschend nach oben geschoben wurde, gefolgt von den leisen Geräuschen von Händen und Füßen, die am Regenrohr hinaufkletterten.
Ich stand auf und stahl mich durchs Zimmer – obwohl Daisy es vermutlich nicht zugeben würde, hatte ich gelernt, mich ebenso leise zu bewegen wie sie, sodass keine der anderen aufwachte. Dann stand ich am Fenster. Abwartend sah ich Daisy nach, bis sie hoch über mir aufs Dach verschwand, dann erst streckte ich die Hände aus und kletterte selbst vorsichtig nach oben – auch darin bin ich inzwischen gut.
Schließlich