Stakeholder-Kapitalismus. Klaus Schwab
der öffentlichen Gesundheit. In den Tagen und Wochen danach stoppte ich die Arbeit an diesem Buch, und das Weltwirtschaftsforum ging in den Krisenmodus. Wir richteten eine spezielle Task Force ein, baten alle Mitarbeiter, von zu Hause aus zu arbeiten, und konzentrierten all unsere Bemühungen auf die Unterstützung der internationalen Notfallmaßnahmen. Es war keinen Moment zu früh. Eine Woche später erzwang das Virus einen Lockdown in weiten Teilen Europas, und ein paar Wochen später sah sich der Großteil der Welt einer ähnlichen Situation gegenüber, einschließlich der Vereinigten Staaten. In den folgenden Monaten starben mehrere Millionen Menschen oder wurden in Krankenhäuser eingeliefert, hunderte Millionen Menschen verloren ihre Arbeit oder ihr Einkommen, und unzählige Unternehmen und Regierungen gingen physisch oder virtuell bankrott.
Während ich dieses Vorwort im Herbst 2020 schreibe, ist der globale Ausnahmezustand, der durch die erste COVID-19-Welle ausgelöst wurde, weitgehend abgeklungen, aber schon versetzt eine neue Infektionswelle die Welt erneut in höchste Alarmbereitschaft. Länder auf der ganzen Welt haben das soziale und wirtschaftliche Leben vorsichtig wieder aufgenommen, jedoch verläuft die wirtschaftliche Erholung sehr ungleichmäßig. China gehörte zu den ersten großen Ländern, die ihre Lockdowns beendeten und die Geschäfte wieder öffneten, und es wird sogar ein Wachstum der Wirtschaft über das gesamte Jahr 2020 erwartet.
In Genf, New York, San Francisco und Tokio, unseren anderen ständigen Büros, wurden auch Teile des öffentlichen Lebens wieder aufgenommen, wenn auch auf viel fragilere Weise. Und überall auf der Welt gingen viele Menschenleben und Existenzen verloren; Milliarden wurden ausgegeben, um Menschen, Unternehmen und Regierungen über Wasser zu halten; bestehende soziale Spaltungen vertieften sich und neue entstanden.
Inzwischen haben wir uns von der anfänglichen Krise etwas entfernt, und viele von uns – mich eingeschlossen – sind zu der Erkenntnis gelangt, dass die Pandemie und ihre Auswirkungen eng mit Problemen verbunden sind, die wir bereits mit dem bestehenden globalen Wirtschaftssystem in Verbindung gebracht hatten. Diese Perspektive brachte mich zurück zu dem Gespräch, das ich im Februar 2020 am Tag jenes schicksalhaften Anrufs aus Peking geführt hatte. Viele der Analysen, an denen wir zuvor gearbeitet hatten, trafen nun mehr denn je zu. Sie werden in diesem Buch etwas darüber erfahren. Im Folgenden werde ich meine Beobachtungen zur zunehmenden Ungleichheit, zum verlangsamten Wachstum, zur stockenden Produktivität, zur unhaltbaren Verschuldung, zum immer schneller fortschreitenden Klimawandel, zur Verschärfung gesellschaftlicher Probleme und zur mangelnden globalen Zusammenarbeit im Hinblick auf einige der dringendsten Herausforderungen der Welt darlegen. Und diese Beobachtungen sind, wie Sie mir hoffentlich zustimmen werden, nach COVID-19 ebenso gültig wie vorher.
Eines hat sich jedoch in der Zwischenzeit zwischen Vorher und Nachher geändert: Ich stelle fest, dass es in der Bevölkerung, in der Wirtschaft und in der Regierung ein größeres Verständnis dafür gibt, dass man für eine bessere Welt zusammenarbeiten muss. Der Ansatz, dass der Wiederaufbau nach COVID anders sein müsse, wird weitgehend geteilt. Die plötzliche und allumfassende Wirkung von COVID-19 hat uns – viel mehr als die allmählichen Auswirkungen des Klimawandels oder die zunehmende Ungleichheit – vor Augen geführt, dass ein von egoistischen und kurzfristigen Interessen geleitetes Wirtschaftssystem nicht nachhaltig ist. Es ist unausgewogen, anfällig und erhöht die Wahrscheinlichkeit von gesellschaftlichen, ökologischen und gesundheitlichen Katastrophen. Wie COVID-19 zeigt, stellen solche Katastrophen eine unerträgliche Belastung für die öffentlichen Systeme dar.
In diesem Buch werde ich darlegen, dass wir nicht mit einem Wirtschaftssystem weitermachen können, das von egoistischen Werten angetrieben wird, wie kurzfristige Gewinnmaximierung, die Umgehung von Steuern und Auflagen oder die Externalisierung von Umweltschäden. Stattdessen brauchen wir eine Gesellschaft, Wirtschaft und internationale Gemeinschaft, die darauf ausgerichtet ist, für alle Menschen und den gesamten Planeten zu sorgen. Konkret sollten wir von einem System des »Shareholder-Kapitalismus«, das in den letzten 50 Jahren im Westen vorherrschte, und einem System des »Staatskapitalismus«, das in Asien an Bedeutung gewann und auf das Primat des Staates ausgerichtet ist, zu einem System des »Stakeholder-Kapitalismus« übergehen. Das ist die Kernbotschaft dieses Buches. Im Folgenden werde ich aufzeigen, wie ein solches System aufgebaut werden kann und warum es so notwendig ist, dies jetzt zu tun.
Teil I (Kapitel 1 bis 4) liefert einen Überblick über die globale Wirtschaftsgeschichte seit 1945, sowohl im Westen als auch in Asien. Er untersucht die wichtigsten Errungenschaften und Nachteile des Wirtschaftssystems, in dem wir leben, einschließlich des verstärkten Wirtschaftswachstums, aber auch der Ungleichheit, der Umweltzerstörung und der Schulden für zukünftige Generationen. Außerdem wird untersucht, wie gesellschaftliche Trends, wie z. B. die zunehmende politische Polarisierung, mit dem Zustand der Wirtschaft und unserer Regierungssysteme zusammenhängen. Teil II (Kapitel 5 bis 7) befasst sich eingehender mit den möglichen Ursachen und Folgen der Probleme und Fortschritte unserer Volkswirtschaften. Hierbei wird untersucht, welche Rolle technologische Innovationen, Globalisierung und Handel sowie die Nutzung natürlicher Ressourcen spielen. Teil III (Kapitel 8 bis 10) beschäftigt sich schließlich mit möglichen Veränderungen in unserem globalen Wirtschaftssystem. Er liefert eine Definition des Stakeholder-Kapitalismus und zeigt, was dieser in der Praxis für Unternehmen, Regierungen, internationale Organisationen und die Zivilgesellschaft bedeuten kann.
Im gesamten Buch habe ich versucht, fair und unparteiisch zu sein, sei es bei der Darstellung der globalen Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, ihrer möglichen Ursachen und Folgen sowie der Lösungen, die ich sehe, um in der Zukunft eine bessere Welt zu schaffen. Aber ich möchte gleich hinzufügen, dass die hier dargestellten Ansichten meine eigenen sind, zwangsläufig geprägt durch meine persönlichen Lebenserfahrungen. Über einige dieser prägenden Erfahrungen als Kind, Student und junger Berufstätiger spreche ich im ersten Kapitel dieses Buches. Ich hoffe, sie helfen Ihnen als Leser, meine Weltsicht zu verstehen, die auf der Überzeugung beruht, dass die besten Ergebnisse in einer Gesellschaft und Wirtschaft aus der Zusammenarbeit entstehen, sei es zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor oder zwischen Völkern und Nationen aus aller Welt.
Ich hoffe, dieses Buch inspiriert Sie, wer auch immer Sie sind, zum Aufbau eines solchen Systems beizutragen. Indem wir zusammenarbeiten, um ein Wirtschaftssystem aufzubauen, das auf Inklusivität, Nachhaltigkeit und Gleichberechtigung beruht, können wir das Erbe von COVID-19 verändern. Auch wenn es zwangsläufig Tod und zerstörte Leben und Existenzen beinhaltet, kann es uns vielleicht helfen, uns in Richtung einer widerstandsfähigeren Welt zu orientieren. Und so hoffe ich, dass die Welt nach der Pandemie für unsere Generation das sein kann, was die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg für die Generation meiner Eltern war: ein Moment der Einheit, in dem die jüngste Vergangenheit eine drastische Erinnerung an eine Welt ist, die niemand will, und wo Gegenwart und Zukunft die Chance bieten, eine Welt zu schaffen, in der alle ein erfolgreiches und erfülltes Leben führen können.
In den Jahrzehnten nach dem Krieg taten wir dies, indem wir gesellschaftliche Regeln im eigenen Land aufbauten – einschließlich einer sozialen Marktwirtschaft in Europa und einer »Great Society« in den USA. Wir haben auch ein multilaterales System geschaffen, das darauf abzielt, den Frieden zu erhalten, die Zusammenarbeit zu fördern und ein finanzielles Zuhause zu schaffen – einschließlich Institutionen wie der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds und der UN.
Nun hoffe ich, dass wir den Aufschwung nach COVID nutzen werden, um einen Stakeholder-Kapitalismus bei uns und ein nachhaltigeres globales Wirtschaftssystem auf der ganzen Welt zu etablieren.
Vielen Dank fürs Lesen,