Geist & Leben 3/2021. Verlag Echter
in der Nähe von Paris, um dort in einer Art personalistischer Kommune zu leben. In der Nachkriegszeit bereist Mounier eine ganze Reihe europäischer Länder (u.a. Deutschland) sowie das unter französischer Kolonialherrschaft stehende Westafrika. Es entstehen neben den vielen Beiträgen für Esprit einige Monographien wie Traité du caractère, Introduction aux existentialismes, L’affrontement chrétien, Le personnalisme und schließlich Feu la chrétienté. Am 22.03.1950 stirbt Emmanuel Mounier an Herzstillstand.
Warum schreibt Mounier die Entretiens?
Wer die 14 Cahiers und drei Journaux d’un détenu zur Hand nimmt, findet unterschiedliche Textgattungen, wie die ersten Protokolle der Grenobler Arbeitsgruppe, Gefängnistagebücher oder Reflexionen, warum Mounier diese Notizen festhält – so z.B. am 20.06.1935, also in dem Jahr, in dem er Paulette heiratet, was für ihn auch eine Zäsur in Hinsicht auf die Entretiens bedeutet: „Immer weniger Zeit, sofort Notizen zu machen. Doch sind sie nützlich. Vor einigen Jahren waren sie es aufgrund des lyrischen Bedürfnisses, des Bedürfnisses, mit mir einen Dialog zu führen, mein inneres und privates Leben eingeschlossen, welches ohne Spiegel umhergeirrt wäre. Seit ich Poulette kenne, seit es vor allem kein beabsichtigtes Geheimnis mehr zwischen uns gibt, Dinge, über die man nicht spricht, ist sie mein Spiegel und mein Schreibzeug. Auch das, was ich ihr gegenüber nicht ausspreche, stößt nicht mehr auf eine Mauer der Abwesenheit, welche es zu sich zurückströmen lässt. Deshalb ist hier, um der Überbelastung abzuhelfen, nur noch von äußeren Ereignissen die Rede, einem Bruchteil meines Lebens, für dessen Ortung ich gerade noch die Zeit habe, ohne all ihre Resonanzen benennen zu können. [Die Notizen sind] jedoch von Nutzen, um mich nicht über ihre wahre Geschichte zu täuschen, wenn ich später darüber Zeugnis abzulegen habe, worin ich mich überall eingemischt habe, oder bloß, um mich in dem zurechtzufinden, was daraus hervorgeht. Um mir nicht selbst die Vergangenheit passend zu machen, wenn ich ein Alter erlange, wo man zurückschaut, um das zu regeln, was uns an Zeit bleibt.“ (539f.) Die Notizen haben also den Sinn, ihrem Verfasser selbst den Spiegel vorzuhalten – eine Aufgabe, die endet, als er ein vorbehaltloses Leben mit seiner Lebenspartnerin beginnt.
„Seelendialog“ und Zeugnis
Neben dieser Funktion des Seelendialogs (vgl. Platons Sophistes 263 e 3–5) gibt es aber auch noch die Zeugnisfunktion der Cahiers: Mounier will sich der tatsächlichen Ereignisse versichern, um gewissermaßen ein zukünftiges Wahrheitsarchiv gegen sich selbst, d.h. seine Erinnerung, anzulegen. Die innere wie die äußere Funktion zeigen das Spannungsverhältnis, in der sich die menschliche Person befindet: Das eigene Selbst meditierend, aber immer in Beziehung zur Welt und zu den anderen Personen, die dadurch ein Recht auf ein „wahres“ Zeugnis erlangen.
Die anderen Personen treten aber nicht erst im Nachgang zur eigenen Person hinzu, sondern sind ihr immer schon ko-präsent. Mouniers Notizen modellieren daher nicht seine Begegnungen nach seinem Gusto, sondern bezeugen die Gegenwart der eigenen Person in der Gegenwart der anderen Personen – und sind diese nicht vorhanden, tritt an ihre Stelle in Anlehnung an die platonische Dialogdefinition ein „innerer Gesprächspartner“: „Die wichtigste von allen [unseren Arbeitsmethoden] ist die, dass die Intelligenz ein Werk des Dialogs ist. Wenn sie niemanden hat, mit dem sie in Dialog treten kann, erschafft sie sich selbst einen imaginären Gesprächspartner, um mit sich selbst in Dialog zu treten. Ihre Erfahrung besteht darin, dass der Monolog tötet. Sie kennt ihn und nennt ihn fixe Idee, und die fixe Idee treibt in den Wahnsinn. Eine physische Kraft geht ihren Weg geradeaus und alle Widerstände, die ihr begegnen, sind für sie nur Reibungsverluste. Eine Idee lebt nur dadurch, dass sie sich auf diese Widerstände stützt. Sie festigt sich durch ihre Opposition, vervielfacht sich durch ihr Netz, entsteht durch ihre Kontaktnahmen.“4 Erkenntnis ist also nicht, wie in cartesianischer oder kantischer Perspektive, die alleinige Leistung eines Subjekts, sondern immer schon in einen intersubjektiven Prozess eingebunden, und das Gespräch ist in diesem niemals etwas Zweitrangiges. Diese philosophische Positionierung, die Mounier stark an die zeitgenössischen phänomenologischen Arbeiten eines Maurice Merleau-Ponty und die personalistischen eines Maurice Nédoncelles heranrücken, ist an dieser Stelle wichtig, um zu verstehen, dass auch seine Notizen diesen intersubjektiven Prozess widerspiegeln.
Als Person Personen begegnen
Die Entretiens werden hier also als die praktische Umsetzung von Mouniers personalistischem Ansatz verstanden, oder vielleicht eher andersherum: Aus seinen Begegnungen erwächst in gewisser Weise seine philosophische Position – und die Notizen dokumentieren die Erfahrungen, auf denen der Personalismus gründet, weil die Begegnung des Selbst mit anderen als eine universelle menschliche Grunderfahrung interpretiert wird. In den Entretiens zeigt sich, was es heißt, eine Person zu sein und als Person zu leben. Dass dieser Anspruch nicht nur von außen an die Texte herangetragen wird, sondern dass auch Mounier eine „personalistische Praxis“ intendierte, geht aus einem Brief hervor, den er an seine spätere Frau Paulette am 01.09.1933 schreibt. Rückblickend auf sein bisheriges Leben heißt es dort: „Personen zu begegnen, das erwartete ich vom Leben.“5 Und in Le personnalisme heißt es darüber, wie man die Person „beweisen“ könne: „[M]an lebt öffentlich die Erfahrung des personalen Lebens und hofft, damit eine große Anzahl zu überzeugen, die wie Bäume, Tiere oder Maschinen leben.“6 Denn darin besteht „das Paradox der personalen Existenz: Sie ist die eigentlich menschliche Art und Weise der Existenz. Und doch muss sie unablässig errungen werden.“7 Die Entretiens lassen sich also sowohl als Zeugnis des (inter-)personalen Lebens als auch als Aufruf dazu lesen.
Spiritualität des Gesprächs
In ihnen spiegelt sich zudem eine Art „Spiritualität“ oder „Meditation“ des Gesprächs und der zwischenmenschlichen Begegnung, die Mounier in sich als Verantwortung „spürt“: „Ich bin ein Mensch der Konversation, der Meditation, des Dialogs, welcher die strenge Verantwortung seiner Meditation zwischen den Menschen spürt und der ihr nur nachkommen will in einer stetigen Kommunikations- und Dienstbereitschaft.“ (721) Die Meditation geschieht in Begegnung mit anderen, im Ereignis des Gesprächs. Deshalb schreibt Mounier Mitte September 1949, wenige Monate vor seinem Tod, an seinen Freund Jean-Marie Domenach: „Das Ereignis wird unser innerer Meister sein.“8 Die Aufzeichnungen zu den Ereignissen, die Entretiens, sind so auch Spuren dieses „inneren Meisters“, von dem sich Mounier geleitet weiß. Er schreibt in der ersten Person Plural: Auch das Ereignis ist keine alleinige Angelegenheit eines autonomen Subjekts, sondern hat intersubjektiven Charakter und wird auch immer die Person des anderen bezeugen – womit auch die Wahrheit des Zeugnisses eine Rolle spielt. Nach der Niederlage Frankreichs im Sommer 1940 sieht er in seinen Aufzeichnungen ein „Konservatorium der Wahrheit“: „Diese Aufzeichnungen haben nichts von einem ‚intimen Tagebuch‘. Ich schrieb Ähnliches, als ich jung war – vertraulicher. Mir ist der Gedanke daran ganz einfach abhandengekommen, als wir zu zweit dasselbe Leben führten. Auch um Fakten aufzuschreiben, welche ich bereute, eines Tages nicht mehr wiederzufinden. Warum komme ich darauf zurück? (…) Das Motiv: Jacques [Lefrancq] und Paul Fraisse zu erlauben, sich dadurch zwischen uns wiederzufinden, wenn die Mauer des Schweigens fällt. Der Grund: Wir treten in eine Periode des Untergrunds ein, in der nicht mehr jeder Gedanke ausgesprochen, jede Tatsache veröffentlicht, jede Absicht verdeutlicht werden kann. Für einige und für die Zukunft ein kleines Konservatorium der Wahrheit anlegen.“ (592) Dieses Zitat zeichnet noch einmal die Entwicklung nach, welche Mounier selbst in seiner Aufzeichnungspraxis sieht und in der drei Phasen unterschieden werden können. Die Aufzeichnungen der ersten Phase, vor der Freundschaft und Ehe mit seiner Frau, kennzeichnet er als „vertraulicher“ – die Notizen als Spiegel, weil er sich selbst gegenüber Zeugnis ablegen will, dass er den anderen in den Begegnungen gerecht wird. In der zweiten Phase halten seine Notizen lediglich äußere Fakten fest – als Stütze für die richtige Rekonstruktion der Ereignisse. Schließlich ist die dritte Phase durch die Umstände bestimmt und hat eine klare Aufgabe: Die Wahrheit in Zeiten der Lüge bewahren, als Zeugnis für die Freunde (Lefrancq ist ein langjähriger Freund, bei dem Mounier Paulette kennengelernt