Gegenwindschiff. Jaan Kross

Gegenwindschiff - Jaan Kross


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zu kommen, zum astronomischen Christus unseres Jahrhunderts.

      Er vereinbarte mit seinen Jüngern, dass sie sich um zehn Uhr versammeln würden – beachten Sie, es war schon nach halb neun, somit gab er meinem Vater und dessen Vorschlag (von mir ganz zu schweigen) etwas über eine Stunde Zeit. Die Jünger sollten um zehn Uhr zusammenkommen – nein, nicht im Garten von Gethsemane, sondern am Tor zu Hetzgers Garten. Er würde ihnen dort die Ringe des Saturn zeigen. Wenn ich mich richtig erinnere.

      Und als diese kleine oder im Grunde recht große Unverschämtheit vorüber war, die Jungen gingen und Vater auf seinen Vorschlag zurückkam – denn er war beharrlich, und hatte er sich etwas in den Kopf gesetzt, kam er darauf zurück –, erhielt er immer noch keine Antwort. Denn genau in dem Moment marschierte Schmidts Fräulein klopfenderweise, aber ohne eine Reaktion abzuwarten, herein.«

      »Oh!«, ich kann einen Aufschrei nicht unterdrücken, »Sie sind also Johanna begegnet! Was für ein Geschenk, dass ich jetzt hören darf, welchen Eindruck Sie von ihr hatten …«

      »Ich weiß nicht recht«, sagt Herr Kelter, »welche Rolle diese Frau in Schmidts Leben gespielt hatte. Wir hörten – oder vielmehr wir hatten gehört –, dass Schmidt während seiner ersten Jahre in Mittweida trotz seiner Behinderung ein ziemlicher Schürzenjäger war. Ob trotz oder gerade wegen seiner Behinderung werden wir nie genau erfahren. Später und auch zu der Zeit, als Vater und ich Mittweida besuchten, war die junge Dame offenbar seine nichteheliche Frau. An ihren Familiennamen erinnere ich mich leider nicht«, Herr Kelter lächelt entschuldigend, »Herr Schmidt hat uns ihre Adresse nicht geschickt und im Firmenarchiv ist sie auch nicht. Welchen Eindruck ich von ihr hatte? Nun, eine kurvige Brünette mit rosigen Wangen. Damals war sie vielleicht fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahre alt. Und ein bisschen zu groß für Schmidt. Fast so groß wie er. Für damalige Verhältnisse ungewöhnlich groß. Heute würde sie damit in keiner Basketballmannschaft aufgenommen werden. Ein nettes, lebhaftes Mädchen, das ein billiges blaues Kostüm und etwas abgelaufene Straßenschuhe trug. Mit niedrigen Absätzen, sicher wegen Schmidt. Aber an sich würde ich sagen: eine ganz und gar gewöhnliche Frau. Eine Tippse aus der Kommunalverwaltung oder so was. Wissen Sie, viele außergewöhnliche Männer hatten ganz gewöhnliche Frauen.«

      Herr Kelter sieht mir in die Augen. Er verfolgt meinen Gesichtsausdruck wie ein triumphierender alter Fuchs und reckt lehrerhaft einen Finger in die Luft. »Nein, nein, schließen Sie daraus nicht, dass ich mit Fräulein Johannas Gewöhnlichkeit Schmidts Außergewöhnlichkeit verstärken möchte. Viele außergewöhnliche Männer hatten gewöhnliche Frauen – aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Der andere Teil ist, dass wirklich auch nahezu alle gewöhnlichen Männer gewöhnliche Frauen haben. Wie dem auch sei. Ich erinnere mich nicht mehr, weshalb Johanna vorbeikam. Ich meine, dass sie Schmidt sein Abendessen brachte, irgendeine Kohlsuppe oder dergleichen. Wichtiger ist vielleicht mein Eindruck, wie sich Schmidt ihr gegenüber verhielt. Nein, nein, ganz normal natürlich. Er stellte uns sogar vor. Aber während Johannas halbstündiger Anwesenheit hatte Schmidts Verhalten etwas jungenhaft Ungehaltenes. Er schämte sich vor uns Fremden wie ein Dreikäsehoch über Johannas Erscheinen und gleichzeitig schien er über ihr Kommen eine, wie soll ich sagen, mit Unzufriedenheit vermischte Freude zu spüren. Wobei das Mädchen ihn, so schien mir, mit mütterlichem Stolz behandelte, einem besorgten mütterlichen Stolz. Wie ein schlaues Kind. Das die Mutter natürlich für außergewöhnlich schlau hält. Wie alle Mütter. Johanna trank mit uns eine Tasse Kaffee, doch Schnaps lehnte sie ab. Ja, mir kam es vor, als hätte Schmidt beim Erscheinen der Schulkinder ein wenig vor uns geprahlt, ohne Worte, selbstverständlich. Aber Johanna verunsicherte ihn irgendwie. Während die junge Frau selbst damit prahlte – recht dezent, muss ich sagen, aber dennoch –, wie zu Hause sie sich bei ihrem Schmidt fühlt und überhaupt wie wohl mit ihm. Trotz aller vermeintlicher Feinfühligkeit wirkte das, so erinnere ich mich, ein klein wenig sentimental. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen. Aber all das war nur ein flüchtiger Eindruck. Den ich im Gespräch mit Ihnen aufgewärmt habe. Dann ging die junge Frau ihres Weges und ich sah sie nie wieder. Und einige Jahre später verschwand sie auch aus Schmidts Leben, soviel ich weiß, als Schmidt zunächst vorübergehend und schließlich dauerhaft nach Hamburg zog. Nun ja. Dann waren wir wieder zu dritt in Schmidts Mittweida-Zimmer und Vater kam ein zweites Mal auf seinen Vorschlag zurück:

      ›Herr Schmidt, ich warte immer noch auf Ihre Antwort.‹

      Die Verzögerungen hatten Schmidt Zeit gegeben, seine Antwort abzuwägen, sodass er augenblicklich die Karten auf den Tisch legte. Nebenbei hatte ich den Eindruck, dass er auch sonst ein wortkarger Mensch war, vielleicht nicht so wortkarg, wie der Mythos es will, aber seine Worte waren wohl formuliert und äußerst schnell ausgesprochen. Er sagte:

      ›Ich stimme unter einer Bedingung zu. Die Firma bezahlt mir zweihundert Mark im Monat …‹

      Vater unterbrach ihn: ›Zweihundertfünfzig.‹ Woraus ich überrascht schlussfolgerte, wie sehr er daran interessiert war, Schmidt für sich zu gewinnen. Schmidt wiederholte:

      ›Zweihundert Mark, aber mit dem Status eines freiwilligen Mitarbeiters. Die Firma stellt keine konkreten Anforderungen an mich.‹

      ›Wie habe ich das zu verstehen?‹, wunderte mein Vater sich. ›Das wäre ja recht ungewöhnlich. Solche freiwilligen Mitarbeiter, wie Sie sagen, gibt es in meiner Firma nicht. Sie bekommen zweihundertfünfzig Mark im Monat und einen Posten als Junioringenieur. Und wenn Sie eingearbeitet sind, die Aussicht auf eine Stelle als Senioringenieur und dreihundert Mark im Monat. Ungeachtet dessen, dass Ihr Ingenieursdiplom lediglich vom Technikum in Mittweida ausgestellt wurde.‹

      ›Nein‹, sagte Schmidt, ›ich werde in keiner Weise Verantwortung für die Produkte von Kelter übernehmen.‹

      ›Warum?! Sind die Produkte von Kelter Ihnen nicht gut genug?!‹, fragte Vater schockiert.

      ›Wollen Sie das wirklich wissen?‹, fragte Schmidt zurück.

      ›Unbedingt will ich das wissen!‹, rief mein Vater, ohne sich provozieren zu lassen.

      Schmidt sagte: ›Nun gut. Wenn es um mechanische Schliffe geht, gehört Kelter zu den besten Firmen. Aber alle Firmen mit ihren Michels und anderen Bänken sind in Hinblick auf Feinschliffe Graupenmühlen. Ich wäre bereit, mit Ihnen Folgendes zu vereinbaren: Ich arbeite weiterhin selbständig. Aber im Laufe eines Jahres würde ich mir von Ihren Aufträgen ein bis zwei angemessene Dinge aussuchen und erledigen. Unter dem Markennamen Bernhard Schmidt bei Kelter. Und dafür bezahlen Sie mir zweihundert Mark im Monat.‹

      Vater schrie auf: ›Das heißt ohne jegliche Verpflichtungen Ihrerseits und ohne Kontrolle seitens der Firma?!‹

      Schmidt sagte: ›Mit dem nötigen Vertrauen beider Seiten.‹

      Mein Vater schwieg und verkniff sich, Schmidt zur Hölle zu schicken und lachte:

      ›Herr Schmidt – normale Verpflichtungen, Disziplin, ein Arbeitstag mit acht Stunden. Als Markenname Kelter. Aber der Titel Chefkonstrukteur und vierhundert Mark im Monat.‹

      Ich sah, wie Vater mit der Zunge winzige Schweißtropfen vom Rand seiner Oberlippe leckte und Schmidt mit verengten Augen ansah.

      Schmidt schüttelte den Kopf. Und wissen Sie, mir scheint, dass dieser Flegel die Situation genoss. Als ich vor unserer Fahrt auf Geheiß meines Vaters ein paar Informationen über Schmidt sammelte, erzählte man mir, dass er vor dem Krieg sonntags hin und wieder nach Dresden gefahren sei, um auf Pferde zu wetten. Vor dem Krieg hatte er manchmal Geld übrig. Kurz gesagt musste er tief in sich eine Spielernatur sein. Und da kam es mir augenblicklich vor, als zuckte in seinem kleinen roten Schnauzer eine Art wilde Spielfreude auf. Umso mehr stieg mein Vater auf das Spiel ein:

      ›Fünfhundert Mark im Monat!‹

      Schmidt schüttelte den Kopf. Ich trat meinem Vater unter dem Tisch auf den Fuß. Er befreite seinen Fuß und schob meinen davon. Vielleicht hatte ich geahnt, dass in ihm die Möglichkeiten zu derartigen elementaren Impulsen, sich selbst zur Geltung zu verhelfen, stecken, aber nie zuvor hatte ich so etwas erlebt. Vater rief:

      ›Verdammt nochmal – was denken Sie eigentlich, wie viel Sie wert


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