Die Utopie des Sozialismus. Klaus Dörre

Die Utopie des Sozialismus - Klaus Dörre


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gehenden ökologischen Expansionismus in nichts nachsteht. In Die Lage der arbeitenden Klasse in England beschreibt Engels detailliert Luftverpestung, Wasserverschmutzung und die daraus resultierenden gesundheitlichen Probleme als Teil der Lebensbedingungen des Industrieproletariats.26 Unter Berufung auf Schriften Liebigs beleuchtet er in der »Wohnungsfrage« das ökologische Destruktionspotenzial großer Städte.27 Sein Plädoyer für eine Aufhebung des Stadt-Land-Gegensatzes kann mit ein wenig Fantasie durchaus als frühe Vision einer ökologischen Kreislaufwirtschaft gelesen werden. Dementsprechend hat Engels lineares Fortschrittsdenken, das allzu oft als Charakteristikum Marx’scher Theorie attackiert wird, mit harscher Kritik bedacht:

      Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben. Die Leute, die in Mesopotamien, Griechenland, Kleinasien und anderswo die Wälder ausrotteten, um urbares Land zu gewinnen, träumten nicht, daß sie damit den Grund zur jetzigen Verödung jener Länder legten, indem sie ihnen mit den Wäldern die Ansammlungszentren und Behälter der Feuchtigkeit entzogen. […] Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und daß unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.28

      In ihrer Dialektik der Aufklärung argumentieren Horkheimer und Adorno mit kaum größerer Präzision, wenn sie feststellen, dass jeder »Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird«, »nur um so tiefer in den Naturzwang hinein« gerät.29 Allerdings, darauf weisen die beiden Vordenker der Frankfurter Schule mit Recht hin, ist das, was Engels als Vorzug der menschlichen Gattung betrachtet, im entwickelten Industriekapitalismus allenfalls noch eine vage Möglichkeit. Denn trotz und teilweise auch wegen sprunghafter naturwissenschaftlicher Erkenntnisfortschritte befinden wir uns inmitten eines gesellschaftlichen Umbruchs, der als ökonomisch-ökologische Zangenkrise mit lebensbedrohlichem Gefahrenpotenzial bezeichnet werden kann. Dieser Begriff, der dem ökosozialistischen Diskurs entlehnt ist30, hebt hervor, dass sich in der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise zwei langfristige Entwicklungslinien kreuzen, die beide mit der industriellen Revolution eingesetzt haben: rasches und permanentes Wirtschaftswachstum einerseits und beschleunigter Energie- und Ressourcenverbrauch sowie steigende Emissionen andererseits. Sofern Wirtschaftswachstum überhaupt noch generiert werden kann, zehren die mit ihm verbundenen ökologischen und sozialen Destruktionskräfte den äußert ungleich verteilten Wohlfahrtsgewinn nicht nur auf, sondern – und das ist historisch neu – sie kumulieren sich bis hin zu Schwellenwerten, an denen eine irreversible Destabilisierung globaler Ökosysteme einsetzt.

      Zangenkrise besagt somit, dass das wichtigste Mittel zur Überwindung ökonomischer Stagnation und zur Pazifizierung interner Konflikte im Kapitalismus, die Generierung von Wirtschaftswachstum nach den Kriterien des Bruttoinlandsprodukts, unter Status-quo-Bedingungen (hoher Emissionsausstoß, hohe Ressourcen- und Energieintensität auf fossiler Grundlage) ökologisch zunehmend destruktiv und deshalb gesellschaftszerstörend wirkt.31 Diese Zäsur ist keine Krise wie jede andere. Sie erfasst alle sozialen Felder und gesellschaftlichen Teilsysteme. Das wird in Begriffen wie dem der multiplen Krise zu Recht thematisiert.32 Die regulationstheoretische Kategorie der großen Krisen kapitalistischer Akkumulation33 bezieht sich freilich auf das gleiche Phänomen und ist zudem historisch präziser, weil sie qualitative Veränderungen kapitalistischer Vergesellschaftung thematisiert.

      In der Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus stellen, aus der Perspektive der industriellen Zentren betrachtet, die Große Depression (1873–1895), die Große Weltwirtschaftskrise (1929–1932) sowie die Neue Depression (1973–1974) große Krisen kapitalistischer Akkumulation dar.34 Derartige Krisen können, wie die Große Depression, lange Zeit andauern, weil die genannten Akteurs-Institutionen-Netzwerke ihre Regulationsfunktion nicht mehr erfüllen, ohne dass neue institutionelle Konfigurationen an ihre Stelle treten. In jedem Fall resultieren solch große Krisen aus der zunehmenden Inkompatibilität von Akkumulationsregimen und Regulationsweisen. Sie sind daher immer Krisen von (Re-)Produktionsmodellen, Staatsapparaten, Ideologien, sozialen Regeln und, soweit vorhanden, von demokratischen Institutionen. Es handelt sich, wenn man so will, stets um »multiple« Krisen, denn kein Funktionssystem, kein soziales Feld bleibt unberührt. Auch sind große Krisen kapitalistischer Akkumulation immer Wegscheiden. Sie können dazu führen, dass ein in die Krise geratener alter durch einen neuen Modus Operandi kapitalistischer Landnahmen abgelöst wird. Es kommt, mit Antonio Gramsci gesprochen, zu einer passiven Revolution, zur Revolutionierung des Kapitalismus in den Grenzen kapitalistischer Vergesellschaftung, um auf diese Weise gesellschaftliche Bedingungen für eine neue Prosperität zu erzeugen.

      Doch weder das Konzept der multiplen Krise noch das einer großen Krise kapitalistischer Akkumulation genügt, um das Besondere des Umbruchs einzufangen, den wir gegenwärtig erleben. Dies zunächst aus methodologischen Gründen. Krisen sind überwindbare Zustände. Wenn alles andauernd und irgendwie in der Krise ist, wie das Konzept der multiplen Krise nahelegt, macht das den Krisenbegriff eigentlich überflüssig.35 Deshalb ziehe ich eine Begrifflichkeit vor, die eine klare Hierarchie der Krisenursachen beinhaltet. Gegenwärtig sehen wir uns mit einer epochalen Krise der Gesellschafts-Natur-Beziehungen konfrontiert, die mit dem Übergang zu einem neuen Erdzeitalter, dem Anthropozän36, verbunden ist. Diese Krise kann dann als überwunden betrachtet werden, wenn es gelungen ist, einen Natur-Gesellschafts-Metabolismus zu etablieren, der die Reproduktionsfähigkeit der Netzwerke menschlichen und außermenschlichen Lebens sicherstellt. Misslingt dies, steht das Überleben der Gattung Mensch in ihren uns bekannten Formen auf dem Spiel.

      Anthropozän oder Kapitalozän?

      Anthropozän ist eine in den Erdsystemwissenschaften äußerst kontrovers diskutierte Bezeichnung für eine erdgeschichtliche Entwicklung, die dazu geführt hat, dass die Menschheit zum wichtigsten Faktor bei der Reproduktion auch von außermenschlicher Natur geworden ist.37 Erd- und Menschheitsgeschichte können nicht mehr separat gedacht werden, denn die Menschheit selbst ist zu einem »geologischen Faktor« geworden. Insofern darf die Natur nicht als bloßes »Opfer« eines gewinngetriebenen, menschengemachten Imperialismus betrachtet werden; sie ist selbst Agens, verrichtet »Arbeit« und beeinflusst so die Gesellschaft. Die Gesellschaft kann ihrerseits auf unterschiedliche Weise intervenieren. Anthropozän heißt zwar, dass die Menschheit ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstören kann. Sie hat es aber auch in der Hand, einen Gesellschafts-Natur-Metabolismus zu etablieren, der das instrumentelle Verhältnis zu Naturressourcen und nichtmenschlichen Lebewesen überwindet.

      Weil die Störungen des Erdmetabolismus in der Gegenwart nahezu ausschließlich von kapitalistischen Gesellschaften ausgehen, halten Sozialwissenschaftler wie Jason Moore die Bezeichnung Kapitalozän für angemessener. Der Kapitalismus selbst müsse als weltökologisches System begriffen werden. Nicht trotz, sondern wegen des hohen Vergesellschaftungsniveaus der Arbeit träten die Naturschranken der Akkumulation wieder stärker hervor. Moore wertet dies als »ein Indiz dafür, dass wir wohl nicht nur einen Übergang von einer Phase des Kapitalismus zu einer anderen erleben, sondern etwas Epochaleres: den Zusammenbruch jener Strategien und Verhältnisse, die in den letzten fünf Jahrhunderten die Kapitalakkumulation aufrecht erhalten haben«.38

      Wir haben es demnach nicht nur mit einer weiteren »großen Krise« der Kapitalakkumulation, sondern mit einem Bruch in der Geschichte menschlicher Zivilisation zu tun – ein Verständnis des Umbruchs, das ich uneingeschränkt teile. Der Begründung, die Jason Moore liefert, folge ich jedoch nur teilweise. Das geringste Problem ist noch, dass Moore seinen ehemaligen Referenzgrößen Marx und Engels ein dualistisch-cartesianisches Gesellschafts-Natur-Verständnis zuschreibt, das beide in einer solch schematischen Modellierung schon deshalb nicht geteilt haben, weil sie Menschen als vergängliche Naturwesen begreifen. Den Übergang zu einem neuen Erdzeitalter haben Marx und Engels gleichwohl nicht


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