Der Fortschritt dieses Sturms. Andreas Malm

Der Fortschritt dieses Sturms - Andreas Malm


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      Der Kapitänleutnant der Royal Navy, der die Expedition leitete, stellte die Szene später in einer Lithografie dar. Darauf sind zwei schwächliche weiße Männer abgebildet, die auf ein Kohleflöz deuten, das zwischen hohen Bäumen und einem Fluss hervorragt. Der Mann in der rechten Ecke trägt die Uniform eines Offiziers der Royal Navy: Er repräsentiert die Militärmacht, mit der das Empire in diesem Dschungel gelandet war. In einer eigentümlich aufrechten Haltung, den Blick in Richtung des Offiziers gewandt, gestikuliert der andere Mann an der Fundstelle ungestüm und enthusiastisch; höchstwahrscheinlich malt er sich die Kohle als Quelle des Glücks aus, ein Material, das sein Unternehmen gewinnen und an Dampfschiffe verkaufen kann, nicht zuletzt an die von der Navy betriebenen.38 Die Szene strahlt freudige Erregung aus, begleitet von einem Gefühl der Überlegenheit und des Anspruchs auf Eigentum. Sie erfasst jenen Moment, in dem ausländische Küsten integriert wurden in die fossile Ökonomie – bei der es sich um eine eindeutig britische Erfindung handelt, die am einfachsten als eine Ökonomie des selbsterhaltenden Wachstums definiert werden kann, die auf dem zunehmenden Verbrauch fossiler Brennstoffe und damit einhergehend auf einem anhaltenden Wachstum der CO2-Emissionen beruht.39 Nie zuvor war die Kohle von Labuan mit derartigen Bestrebungen in Verbindung gebracht worden. Die einheimische Bevölkerung wusste zwar von diesem Rohstoff, hatte ihn aber weitgehend unberührt gelassen: Erst mit der Landung der Briten wurde die Kohle in einen Kreislauf eingegliedert, der sich durch ihre Verbrennung immer weiter auszudehnen begann.

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       Über den Bau der Natur. Wider den Konstruktivismus

       EIN GEHÖRIGER FALL VON MISERABLEM HISTORISCHEM TIMING

      In Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima stößt Naomi Klein auf ein »miserable[s] historische[s] Timing«: Gerade als das Ausmaß der globalen Erwärmung Wissenschaftler:innen aufschrecken ließ und deren Forderung nach einem drastischen Kurswechsel lauter zu werden begann, verabschiedeten die unter neoliberalem Einfluss stehenden Regierungen die Idee, in den sich selbst regulierenden Markt einzugreifen.1 Dem lässt sich ein weiterer Fall zeitlicher Übereinstimmung zur Seite stellen: Gerade als die Biosphäre anfing, Feuer zu fangen, zog sich die Gesellschaftstheorie immer weiter vor der verstaubten Materie in die ungetrübte Luft ihrer textlichen Welten zurück. Die Einleitung zu einer dem Klimawandel gewidmeten Ausgabe von Theory, Culture and Society verzeichnet daher ein jähes Erwachen: »Die Welt der Kultur und Virtualität hat ihresgleichen gefunden. Die materielle Welt spielt allem Anschein nach doch eine Rolle und kann ›zurückbeißen‹.«2 Eine im Cultural turn verstrickte Gesellschaftstheorie war dem Wandel des Klimas allzu lange schon mit der Weigerung begegnet, dessen Realität außerhalb des Diskurses anzuerkennen – ganz zu schweigen davon einzugreifen –, und erwies sich somit als nicht weniger unvorbereitet als die Regierungen. Kein Wunder also, dass sie die Augen auch weiterhin verschlossen halten wollte.

      Als sich die CO2-Konzentration in der Atmosphäre bereits der 400-ppm-Marke näherte, machten sich postmoderne Philosoph:innen gerade für die Ansicht stark, Historiker:innen täten wenig mehr, als Bilder der Vergangenheit zu erfinden. Die wirkliche Vergangenheit, so behauptete etwa Keith Jenkins, »findet nicht tatsächlich, sondern lediglich rhetorisch Eingang in die Geschichtsschreibung«. Sobald die Historikerin vorgebe, Ereignisse zu vermitteln, tue sie nichts anderes, als eine leidenschaftliche, mit ein paar handverlesenen Daten verzierte Rede zu halten. Alle Interpretationen der Vergangenheit seien »fabriziert«, »erfunden«, »metaphorisch«, »selbstreferenziell« – ohne Grundlage außerhalb ihrer selbst – und folglich gleichermaßen valide. Der einzige Grund für die Bevorzugung einer Deutung vor einer anderen liege im persönlichen Geschmack.3 In seiner bereits klassischen Widerlegung einer solchen Geschichtsschreibung, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, führt Richard J. Evans Auschwitz als ein unanfechtbares Exempel an; mutatis mutandis können wir erwarten, von der globalen Erwärmung ähnlich Gebrauch zu machen. Um Evans zu paraphrasieren: Die globale Erwärmung ist kein Diskurs. Sie als Text anzusehen bedeutet, das Leid, das sie hervorbringt, zu verharmlosen. Die erhöhten Temperaturen sind keine rhetorische Figur. Die Erderwärmung an sich ist bereits eine Tragödie und lässt sich weder als Komödie noch als Posse ansehen. Wenn das nun für die globale Erwärmung gilt, dann muss es aber auch für andere Aspekte der Vergangenheit gelten, für andere Ereignisse, Institutionen und Menschen, jedenfalls in einem gewissen Grad.4

      Eine unumstößliche Prämisse postmoderner Geschichtsphilosophie lautet: Die Vergangenheit liegt ein für alle Mal hinter uns und lässt sich für die sensuelle Wahrnehmung nicht mehr wiedergewinnen. Historiker:innen haben lediglich Zugang zu Scherben und Fragmenten, die nur rein zufällig den Flammen der Zeit entkommen sind, und ihre Darstellungen der Vergangenheit können nicht für bare Münze genommen werden. Betrachten wir an dieser Stelle noch einmal das Bild der beiden Briten im Regenwald von Labuan. Wie können wir darauf vertrauen, dass die abgebildete Szene, die angeblich irgendwann einmal in der Realität stattgefunden haben soll, korrekt wiedergibt, was einst vorgefallen ist? Aus dieser skeptischen Haltung heraus – das Handwerkszeug der Historiker:innen, wie oftmals betont wurde – ziehen Postmodernist:innen den exzentrischen Schluss, dass Dokumente wie jenes Bild keineswegs als Schlüsselloch in die tatsächliche Vergangenheit dienen, schließlich seien sie durchdrungen von der Macht eines Diskurses, der die Sicht blockiere. Und gewiss, das Bild wird von einer ganzen Reihe diskursiver Konstrukte überlagert: In jungfräulicher Natur nehmen sich weiße Männer heraus, was ihnen zusteht, und beschreiten, gewillt das Chaos zu bändigen, den Pfad des Fortschritts, den »die Wilden« vernachlässigt haben. Gleichzeitig aber scheint es, als beruhe das Bild doch auf einem materiellen Substrat. Zumal wir allen Grund zu der Annahme haben, dass es sich nicht nur auf andere Bilder – von Männern, Natur, Fortschritt, Herrschaft – bezieht, sondern ebenso auf eine tatsächliche Identifizierung der Kohleflöze auf Labuan durch Repräsentanten des Britischen Imperiums.5 Einen dieser Gründe bildet die Erderwärmung selbst. Wenn die Temperatur der Erde steigt, muss es daran liegen, dass sich in der Vergangenheit unzählige Szenen wie jene im labuanischen Wald abgespielt haben, denn: »Die Ursachen realer Wirkungen können nicht unwirklich sein.«6 Die derzeitige Erwärmung legt nahe, dass sich weder Kommandanten der Royal Navy noch neuzeitliche Historiker:innen all die Berge an Beweisen über die vergangenen Verbrennungen fossiler Energieträger ausgedacht haben können. Im Gegenteil – die fossile Ökonomie muss schon lange Zeit vorhanden gewesen sein, bevor sie als historische Entität, unabhängig jeglicher Vorstellungen von ihr, in Erscheinung getreten ist, andernfalls würden wir nicht auf diesem sich erwärmenden Planeten leben. Eine generalisierte Verleugnung der wirklichen Vergangenheit würde bloß sicherstellen, dass sich die Geschichte dieser Wirtschaft nicht oder lediglich als frei flottierende Fiktion schreiben ließe, was uns schwerlich von Nutzen sein dürfte.

      So wie die globale Erwärmung lediglich ein weiterer, besonders dringlicher Grund ist, mit dem neoliberalen politischen Paradigma zu brechen, so scheint sie auch nur ein weiterer Nagel im Sarg des Antirealismus zu sein. Denn postmoderne Verleugnung lässt sich schwer totkriegen. Ein Großteil der Gesellschaftstheorie bestreitet nach wie vor nicht nur die Faktizität der Vergangenheit, sondern auch jene der Natur. In dem Buch Making Sense of Nature. Representation, Politics and Democracy etwa, das Forschungsarbeiten mehrerer Jahrzehnte


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