Der Fortschritt dieses Sturms. Andreas Malm

Der Fortschritt dieses Sturms - Andreas Malm


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Strukturen und Prozesse, die unabhängig von menschlicher Aktivität bestehen (in dem Sinne, dass sie kein von Menschenhand geschaffenes Produkt sind), deren Stärken und kausalen Kräfte die notwendigen Bedingungen jeglicher menschlicher Praxis sind und die darüber entscheiden, welche mögliche Gestalt diese annehmen kann.19

      Diese Definition verdient es, erneut gelesen und im Gedächtnis behalten zu werden. Viele andere wurden vorgeschlagen – einige davon werden wir weiter unten eingehender betrachten –, aber wir wollen diese realistische Definition als diejenige behandeln, die bestmöglich einfängt, was wir uns unter dem von uns als Natur bezeichneten Bereich vorstellen. Allein die Existenz dieses so definierten Bereichs ist jedoch bereits heftig umstritten.

       DIE PRODUKTION DER NATUR?

      Können wir tatsächlich sagen, dass das Klima des Planeten Erde – als eine der wesentlichen Komponenten der Natur – von menschlichen Aktivitäten unabhängig ist, das heißt: nicht von Menschenhand geschaffen? Ist es mittlerweile nicht genau umgekehrt? Dies scheint zumindest für die Theorie »der Produktion der Natur« zu gelten. Von Neil Smith in Uneven Development. Nature, Capital, and the Production of Space dargelegt, besagt sie, dass Natur alles andere als unabhängig sei; in einem lang vergangenen, vormenschlichen Nebel mochte das womöglich sogar noch der Fall gewesen sein, aber mittlerweile sei das eindeutig vorbei. Heutzutage sei die Natur durch und durch gemacht, von innen her und in ihrer Gesamtheit, da die Kräfte des Kapitals die Materie gemäß ihrer jeweiligen Logik umstrukturierten und umarbeiteten. Wann aber die urzeitliche Natur einer solch beeindruckenden sozialen Macht gewichen sein soll? Smith bleibt in diesem Punkt vage. An manchen Stellen wirkt es, als würde er sich dafür aussprechen, dass die Produktion der Natur tatsächlich ein kapitalismusspezifisches Phänomen sei; an anderen deutet er wiederum ein sehr viel früheres Datum menschlicher Vereinnahmung an. Nicht-produzierte Natur erlösche, wo immer eine Spezies Fuß gefasst habe: »Menschen haben jedwede Natur hervorgebracht, die ihnen zugänglich wurde« – nicht erst in den letzten Jahrhunderten, sondern schon seitdem sie sich in Höhlen zusammengerottet und Wälder nach Essen durforstet hätten.20 Der Zweck der Theorie scheint hier nicht darin zu bestehen, eine historische Verschiebung nachzuvollziehen, als vielmehr in dem Versuch, das Natürliche mit dem Sozialen in eins fallen zu lassen, ungeachtet der Daten und Epochen, gewissermaßen a priori. Smith deklariert geradezu »eine gesellschaftliche Priorität der Natur; Natur ist nichts, wenn nicht sozial«.21 Noel Castree, der sich als Geograf oft für Smiths Theorie starkgemacht hat, erklärt, dass diese »beabsichtigt, der Vorstellung einer unabhängigen, nicht-sozialen Natur entgegenzuwirken«, und pocht auf die Vermischung von Gesellschaft und Natur »seit Anbeginn«.22

      Worin genau bestehen nun die analytischen Vorteile dieses Schritts? In der Erstausgabe seines 1984 erschienenen Klassikers erwähnt Smith noch den anthropogenen Klimawandel als ein Beispiel für die Produktion von Natur, aber im Nachwort der dritten Auflage von 2008 hat er etwas ganz anderes darüber zu sagen: Wir können nicht wissen, in welchem Maße sich das Klima aufgrund menschlicher Aktivitäten verändert.23 Allein der Versuch würde bereits die irrige Trennung voraussetzen:

      Die Bemühung, zwischen dem gesellschaftlichen und dem natürlichen Anteil zu unterscheiden, stellt nicht bloß eine müßige Diskussion dar, sondern entspringt auch einer närrischen Philosophie: Sie belässt die Kluft zwischen Natur und Gesellschaft unangetastet – Natur in der einen Ecke, Gesellschaft in der anderen –, genau jenes Schibboleth modernen westlichen Denkens also, das »die Produktion der Natur«-These zu zerschlagen angetreten war.24

      Fast klingt es wie das Zugeständnis, dass dieser Theorie bei der Erforschung der Erderwärmung im Grunde keine sonderlich relevante Rolle zuzugestehen sei. Denn wenn wir darauf verzichten sollten, die Erwärmung als etwas zu beschreiben, das durch soziale und nicht natürliche Faktoren hervorgebracht wurde, wir also auch aufhörten, zwischen den beiden zu unterscheiden – indem wir das eine erwägen und das andere verwerfen –, wie ließe sich dann überhaupt ihre Existenz anerkennen, geschweige denn als Resultat der Geschichte erforschen?

      In Alienation and Nature in Environmental Philosophy, der erhellendsten Arbeit, die seit Sopers Buch aus diesem Forschungsgebiet hervorgegangen ist, betont Simon Hailwood, dass gerade die Vorstellung anthropogener Kausalität das Konzept der unabhängigen Natur zwingend erforderlich mache. »Insofern es wichtig ist zu behaupten, dass Menschen das gemacht haben, verursacht haben, dass sie für dies und jenes verantwortlich sind, müssen wir uns auch mit der Vorstellung vertraut machen, dass zumindest manche Vorkommnisse nicht innerhalb unseres Einflussbereichs liegen« – in unserem Fall also das, was der Fossilwirtschaft voranging und ohne sie fortbestanden hätte: das für das Holozän charakteristische Klima.25 Wie Smith selbst einräumt, ließe sich die globale Erwärmung nicht mehr in den Blick nehmen, sobald man den nicht-sozialen Naturhintergrund entfernen würde (und entsprechend seiner Logik würde deshalb nur ein Narr es überhaupt versuchen).26 Offensichtlich folgt daraus, dass irgendeine Form von Unterscheidung zwischen »Gesellschaft« und »Natur« sowohl für die Erforschung der Geschichte der fossilen Ökonomie als auch für die Klimawissenschaft selbst unabdingbar bleibt; nebenbei bemerkt, werden im Bereich der Ereignisattribution Simulationen jüngster Stürme Modellen gegenübergestellt, die zeigen, wie das Wetter in Abwesenheit menschlichen Einflusses verliefe.27 Dadurch werden historische Spuren offengelegt.

      Und dennoch: Ist nicht gerade das heutige Klima produziert? Die Erhaltung einer Natur ohne menschlichen Einfluss in kontrafaktischen Computermodellen ist noch lange kein Beweis für ihren tatsächlichen Fortbestand. Könnte sich die Theorie also doch als nützlich erweisen, insofern man sie lediglich auf die letzten beiden Jahrhunderte beschränkte? Um diese Möglichkeit zu untersuchen, müssen wir uns ein paar der anderen Ansätze zuwenden, die behaupten, Natur sei mittlerweile grundlegend sozial.

       DAS ENDE DER NATUR?

      Im Jahr 1990, ein Jahr nach der Veröffentlichung von Jamesons Postmodernism, verkündete Bill McKibben in dem gleichnamigen, heute als das erste populäre Buch über den Klimawandel geltenden Buch »das Ende der Natur«. Er war einer der Ersten, die das Gefühl hatten, dass die veränderte Zusammensetzung der Atmosphäre alles auf den Kopf stellte, angefangen mit der Bedeutung des Wetters. Denn ein plötzlicher Wolkenbruch ließ sich nicht länger ignorieren und ein Nachsommer nicht mehr als Laune der Natur genießen. Alles Wetter müsse mittlerweile als ein Artefakt »unserer Lebensweise« beargwöhnt werden, selbst noch auf einem Spitzbergener Berggipfel oder auf einer Sanddüne in der Atacama-Wüste, in Gebieten also, die als abgeschiedene Wildnis gälten: Aufgrund des Kohlenstoffdioxids finde sich der menschliche Fingerabdruck überall. »Wir haben das CO2 produziert – wir machen der Natur ein Ende« – oder:

      Indem wir das Wetter verändern, machen wir jeden Fleck auf der Erde zu etwas Künstlichem, zu Menschenwerk. Wir haben die Natur ihrer Eigenständigkeit beraubt, und das hat verhängnisvolle Folgen für ihr Wesen. Das Wesen der Natur ist ihre Eigenständigkeit; ohne sie gibt es nur noch uns.28

      Innerhalb welcher Definition aber ist die Natur verschwunden? Auf den ersten Blick mag es den Anschein haben, als bediente sich McKibben einer Definition, die derjenigen Sopers nicht unähnlich ist – mit »Eigenständigkeit« bzw. »Unabhängigkeit« als Schlüsselbegriff –, doch geht er noch einen entscheidenden Schritt weiter. Er bezieht sich nicht auf die Natur als eine Reihe an materiellen Strukturen und Prozessen mit eigenen kausalen Kräften, nicht auf das Ende der Fotosynthese, der Atmung oder der Wolkenformation; all diese Dinge, beteuert er, bestünden auch weiterhin. Vielmehr »haben [wir] dem ein Ende gemacht, was zumindest in der Neuzeit Natur für uns definiert hat … ihrer Trennung von der menschlichen Gesellschaft«, das heißt ihre Reinheit, ihr vollkommen ursprünglicher, unberührter, vom Menschen unbeeinträchtigter Zustand.29 Nur unter Anerkennung dieser Definition ließe sich behaupten, die Natur sei an ihr Ende gelangt. Aber handelt es sich dabei überhaupt um eine vernünftige Definition?

      Wenn ich Zucker in meinen Kaffee mische, folgere ich daraus nicht, dass der Kaffee sein Ende gefunden hat. Ich nehme eher an, er hat den


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