Exit Covid!. Hubert Niedermayr
das Virus aus und findet keine neuen Opfer mehr. Dann wäre Covid-19 faktisch – bis auf Weiteres – besiegt. Versuche europäischer Staaten wie Schweden und Großbritannien, eine solche durch eine Durchseuchung der Bevölkerung zu erreichen, sind dramatisch gescheitert. Die Todesraten dieser beiden Staaten übertreffen jene von Deutschland und Österreich um ein Vielfaches – ohne dass man auch nur im Ansatz von Herdenimmunität sprechen könnte!
Die nun vorliegenden gesicherten Modelle sprechen davon, dass je nach viraler Variante bis zu neunzig Prozent der Bevölkerung geimpft sein müsste, um ein Absterben des Virus durch Herdenimmunität zu bewirken.10 Davon sind die europäischen Staaten noch weit entfernt: Deutschland11 und Österreich12 verfügen über eine Erstimpfungsrate von maximal rund zwei Dritteln der erwachsenen Bevölkerung. Die für die Mehrzahl der Impfstoffe notwendige zweite Impfung, um den vollen Impfschutz zu garantieren, hat gerade einmal gut die Hälfte.
Covid-19, ein Dauerzustand? So sieht es aus.13 Wenn nicht die Impfrate schnell und nachhaltig steigt, werden wir uns mit diesem Gedanken anfreunden müssen. Die Erfahrungen aus Israel, dem propagierten Impfweltmeister, zeigen das: Nach einer ursprünglich völlig aus dem Ruder gelaufenen Ansteckungsrate hat man voll auf die Karte breitbandiger Impfungen gesetzt. Die Ansteckungsrate hat sich massiv verringert und ist fast auf den Nullpunkt gesunken. Die Gegenbewegung folgte auf dem Fuße: Die Impfwilligkeit hat in der Folge deutlich abgenommen. Nun sind rund um Jerusalem und Tel Aviv wieder Ansteckungsraten gegeben, die an die verheerenden vorangegangenen Wellen gemahnen. Auch in Europa ist dieses Phänomen bekannt: Im Sommer 2021 haben Abertausende Personen vereinbarte zweite Impftermine nicht mehr wahrgenommen. Worauf dies auch immer zurückzuführen sein mag – eine Ausrottung des Virus wird auf diese Art nicht gelingen. Die nächste Welle steht vor der Tür.14
Dieses Buch ist ein Plädoyer. Ich plädiere für ein angemessenes Verantwortungsbewusstsein: Sich dessen bewusst zu sein, dass Covid-19 eine lebensbedrohliche Krankheit darstellt. Dafür, dass jede/r Einzelne von uns es in der Hand hat, einen eigenen Beitrag zur Eindämmung dieses Virus zu leisten. Aber auch dafür, sich ehrlich einzugestehen, dass mangelnde Einsicht erst recht für eine unkontrollierbare Verbreitung sorgt. Dafür, sich bewusst zu machen, dass eine Impfung Leben retten kann: Nicht nur das eigene, sondern gerade auch dasjenige von anderen, schutzbedürftigen Personen. Und nicht zuletzt dafür, sich aus Einsicht in diese Tatsachen selbst impfen zu lassen.
Wir alle hatten nun, Minderjährige ausgenommen, die Möglichkeit, uns impfen zu lassen.15 Wer dies nicht getan hat, hat dies aus individuellen Gründen verweigert. Dies könnten medizinisch relevante sein wie etwa Angst, ein eingeschränktes Immunsystem oder vorbestehende Krankheiten; aus meinem eigenen Bekanntenkreis weiß ich jedoch, dass es oft auch nur Nachlässigkeit (oder nicht sogar Ignoranz?) ist. So haben manche etwa noch keinen Impftermin vereinbart – oder einen solchen nicht eingehalten. Auch ein medizinischer Fachbegriff für dieses Phänomen wurde schon gefunden: „Vaccine Hesitancy“.16
Personen, die eine Impfung aus nachvollziehbaren medizinischen Gründen nicht wahrnehmen wollen, müssen dies nicht tun. Weder aus rechtlichen noch aus ethischen Gründen wird dies sachgerecht erscheinen. Was ist aber mit solchen, die sich darüber hinaus verweigern?
Dieser Fragestellung kann man sich aus mehreren Richtungen annähern. Die Wirtschaft, ohnedies in Zeiten von Corona schwer gebeutelt, wird Impfrisiken gegen deren Chancen abwägen: Wie wahrscheinlich ist es, dass Personen durch die Impfung Reaktionen zeigen, die sie einige Tage oder länger aus der Bahn werfen? Derartiges könnte die wirtschaftliche Entwicklung beeinträchtigen, da diese während der Dauer der Einschränkung als Arbeitskräfte in Unternehmen ausfallen, zu Hause keine Angehörigen mehr betreuen und auch nur sehr eingeschränkt, wenn überhaupt, konsumieren können. Sollte sich jedoch herausstellen, dass die geimpften Personen tatsächlich einer realistischen Krankheitsgefahr aus dem Weg gehen können, wäre viel gewonnen. Die berufliche Tätigkeit bliebe gesichert, ebenso der Status als Konsument*innen, das gesamtgesellschaftliche Vertrauen gewönne. Lockdowns wären auf absehbare Zeit Vergangenheit, wenn nur genügend diese Gelegenheit zur Impfung in Anspruch nehmen. Die Wirtschaft könnte neu durchstarten.
Auch die gesellschaftliche Realität wird sich äußern. Wer möchte nach wie vor abgekapselt leben, die Sozialkontakte soweit möglich reduzieren, Masken tragen müssen? Sehnen sich nicht alle danach, endlich wieder frei durchatmen zu können, unbeschwert von der Angst, selbst an Covid-19 zu erkranken oder geliebte Angehörige anzustecken?
Das medizinische Interesse geht sicherlich in die Richtung, eine baldige gesundheitliche Stabilität im Gesamten sicherzustellen. Auch wenn wir aktuell in einem breitbandigen Feldversuch leben, der noch auf Jahrzehnte Erkenntnisse gerade in epidemiologischer Hinsicht liefern wird –, der Auftrag der Medizin ist ein grundlegend kurativer. Die Heilung von Krankheiten und, in den letzten Jahren immer wichtiger, die Aufrechterhaltung der Gesundheit steht im Vordergrund.
An den einzelnen Aspekten des staatlichen Interesses scheiden sich die Geister. Ist es nun die Gesundheit der Staatsangehörigen, die zu schützen ist? Das Gesundheits-, das Versorgungssystem? Oder nicht vielmehr das Wirtschaftssystem, ohne das ein Staat nicht existieren könnte? Sind es die individuellen Freiheitsrechte, die unter allen Umständen bewahrt werden müssen? Oder müssen nicht gerade diese zurücktreten, wenn es um Leib und Leben von Menschen geht?
Diese Diskussion begleitet die modernen Staaten seit der Aufklärung. Zuvor hatte es ein Phänomen wie menschliche Individuen nicht gegeben. Als Einzelperson war man eingebunden in ein starres ständisches System: Man war entweder privilegiert (als Angehörige/r des Adels oder des Klerus) oder gehörte dem Dritten Stand an. Letzterer bot kaum Rechte, dafür aber jede Menge Pflichten. Die Arbeitsleistung hatte man dem adeligen Gutsherrn zur Verfügung zu stellen, das geistige Kapital der kirchlichen Sphäre. Der weltliche Herrscher bestimmte das menschliche Schicksal auf Erden, der göttliche sorgte für das Seelenheil im Jenseits – wenn man sich in seine Rolle fügte und den vorgegebenen Dogmen beugte. Der Mensch zählte nicht als Einzelperson, sondern als Gattungswesen. Er war austauschbar, Fähigkeiten und Neigungen waren irrelevant. Wer nicht mitspielte, wurde ausgestoßen. Meist wurde kurzer Prozess gemacht: Abtrünnige landeten im Kerker oder auf dem Scheiterhaufen.
Erst gegen 1700 setzte ein anderes Denken ein. Kirchliche Revolutionäre wie Giovanni Pico della Mirandola, Giordano Bruno und vor allem Martin Luther hatten ein anderes Menschenbild geprägt. Mensch, besinne dich deiner Möglichkeit – und gestalte dein Leben selbst! Immanuel Kant hat in seinen berühmten Worten vom „Ausgang des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit“ gesprochen. In Zentraleuropa war mehr als tausend Jahre lang der Gedanke einer möglichen Einzigartigkeit eines Menschen abgetötet worden. Der islamische Kulturkreis hatte diesen antiken griechisch-römischen Grundsatz zum Glück konserviert und teilweise noch nach Europa (Andalusien) gebracht. Die deutschsprachigen Gefilde blieben davon allerdings weitgehend unberührt.
Erst im Zuge dieses gewandelten Menschenbilds entstand die Idee sogenannter Menschenrechte. Vorher wäre, dies zu vertreten geradezu grotesk gewesen: Menschen waren, wenn nicht aus den herrschenden Schichten stammend, Eigentum. Die Bezeichnung „Leibeigene“ spricht noch immer Bände. Es stellten sich nun Fragen, die aktueller nicht sein könnten: Was ist der Mensch? Ein sprachbegabtes Wesen mit der Gabe der Vernunft, so lautete die einhellige Antwort der Aufklärer. Welche Rechte sollen ihm zukommen? Sind die Menschen gleich – so die Parole der Französischen Revolution ab 1789, deren Ausläufer fast ganz Europa in den Folgejahrzehnten überrollen sollten –, und wenn ja: in welcher Hinsicht? Soll diese Gleichheit nur Freiheitsrechte beinhalten oder auch solche auf soziale Sicherung? Diese Diskussion, die sich zwischen Liberalen und Sozialist*innen entfalten sollte, setzte zwei einander scheinbar widersprechende Schwerpunkte.
Freiheitsrechte sollten nicht nur überkommene Auffassungen wie Leibeigenschaft und Fronarbeit abwehren, sondern vor allem auch Übergriffe des Staates gegen das Individuum. Lange wurde gerungen, die Kämpfe waren zäh. Schließlich setzte sich vor gut 150 Jahren endgültig der bürgerliche Freiheitsgedanke durch: Versammlungen, Eigentum und Arbeit wurden großteils freigegeben.
Anders sollte sich zunächst die Frage einer anders gewendeten Freiheit darstellen. Setzt wirkliche Freiheit nicht voraus, dass man frei ist von existenziellen