100 Boyfriends. Brontez Purnell

100 Boyfriends - Brontez Purnell


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Er sagte das so oft, bis ich es irgendwann glaubte.

      Ich nahm nur fünfzig Dollar für Termine, die lediglich einen Blowjob umfassen und eine Stunde dauern sollten, sich aber zu sehr viel mehr entwickelten und erst bei Sonnenaufgang endeten.

      Irgendwann musste er Frau und Kinder gehabt haben, so viel reimte ich mir zusammen. Ältere Fotos, auf denen er eine Frau und zwei kleine Jungs umarmte, hingen überall in seinem Loft – im Flur und im Wohnzimmer, den einzigen Räumen, die ich, abgesehen von Bad und Arbeitszimmer, betreten durfte. Mein Verdacht bestätigte sich, als er zu mir sagte: «Weißt du, ich hab Söhne in deinem Alter.»

      Wenn ich zu ihm kam, führte er mich jedes Mal in sein Arbeitszimmer. Ich wusste nur, wenn ich ihm in einem Monat oft genug den Schwanz lutschte (er holte mich viermal im Monat zu sich, immer nur am Wochenende), dann hatte ich genug Geld für Gras oder die neuesten Jordans zusammen. Ich liebte ihn – wenigstens glaubte ich, Liebe würde sich so anfühlen.

      Einmal zündete er sich, nachdem ich ihm einen geblasen hatte, eine Zigarette an und sagte: «Du bist nicht wie andere Jungs – du bist gern bei Daddy.» Er hatte recht.

      An einem Wochenende ging er mit mir wandern. Unterwegs fiel er über mich her und riss mir Hose und Unterhose runter. Er nahm mich mitten auf dem Wanderweg, was mir peinlich war, weil ja jederzeit Leute hätten vorbeikommen und uns sehen können.

      Aber nein sagen, konnte ich nicht. Ich fand es aufregend, auf einem Wanderweg mitten in der Natur gefickt zu werden. Als wäre ich etwas Besonderes. Aber ich wusste auch, auf lange Sicht würde das mit uns nicht halten.

      Eines Tages sah ich ihn dann auf der Straße, mit zwei jungen Männern in meinem Alter. Seine Söhne, wie ich vermutete. Als ich näherkam, trafen sich unsere Blicke und er schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: «Nein – nicht hier, nicht jetzt.» Gern wäre ich gekränkt gewesen, aber in Wahrheit war dieser Mann eben ein Fremder, nicht mein Vater. Wie wenig man sich auf Männer im Allgemeinen verlassen kann, sollte ich kurz darauf erfahren. An dem Tag ging ich einfach weiter.

      Die Jahre vergingen und wir mit ihnen – irgendwann funktionierte sein Schwanz nicht mehr, und ich entwickelte mich vom Stricher zum Kellner zum College-Absolventen. Ich musste nicht mehr für Geld ficken und überließ das den Jüngeren.

      Ich weiß noch, dass er bei unserer letzten Begegnung richtig geschockt war, weil meine Haare bereits grau wurden. Wir verloren uns natürlich aus den Augen, aber immer, wenn ich an ihn denke, fällt mir wieder ein, wie hübsch ich bin.

       DER GEERBTE WINTERMANTEL

      Mein Vater hat mal einen umgebracht. Es war ein Unfall.

      Er war Lokführer auf der Strecke zwischen Tennessee und Alabama und sah einen jungen Mann reglos auf den Gleisen stehen – offenbar ein Selbstmörder.

      Mein Vater sagte, er hätte geschrien und geschrien, aber um einen fahrenden Zug zum Stehen zu bringen, braucht man volle zwei Meilen. Er hat gesehen, wie es den Jungen beim Aufprall zerriss, wie die Gliedmaßen vom Torso abgetrennt wurden. Und er sagte, bevor der Zug ihn erfasst hatte, hätte er die Augen des Jungen gesehen – das war der Teil der Geschichte, den er nie vergessen konnte und selbst dann noch vor sich sah, wenn er die eigenen Augen schloss.

      Ich hatte auch so ein Gefühl, als würde es mich innerlich zerfetzen, wenn auch weniger gewaltsam; ich saß verkatert in einem Auto, das an der Grenze zwischen Tennessee und Alabama entlangfuhr, und sah einen Zug vorbeirauschen und dachte wieder an meinen Vater, der nun ebenfalls tot war. Vor einigen Monaten war er überraschend gestorben und ich trauerte immer noch um ihn – manchmal versiegte der Schmerz, dann wieder prasselte er auf mich nieder wie Regen. Momentan erlebte ich eine Trockenphase.

      Ich war auf dem Weg zum Haus meiner Großmutter, um mir mein eigenartiges Erbe abzuholen: ein paar Gewehre und Wintermäntel meines Vaters.

      Am Steuer des Autos saß der Mann, den ich liebte. Er hatte mich begleiten wollen – damit ich eine Schulter hatte, an der ich mich ausweinen konnte. Denn es würden ganz sicher Tränen fließen, wie er gesagt hatte.

      Ich hatte die Landschaft am Fuß der Appalachen vergessen, diese Decke aus Hügeln und Bäumen, die sich je nach Jahreszeit grün, golden, braun oder weiß färbt. Ich war schon zu lange in Kalifornien und hatte die Jahreszeiten und ihre dramatischen Phasen vergessen – die drückende Schwüle im Sommer, die überraschenden Schneestürme im Winter, die Überschwemmungen, Orkane. Ich hatte das Gefühl für Jahreszeiten verloren und ignorierte seit Kurzem auch meine inneren Jahreszeiten. Mein Leben unter der kalifornischen Sonne näherte sich dem Ende – das spürte ich. Oft saß ich nur da und wartete darauf, dass mein Instinkt mich zu etwas Neuem hinführte, ganz gleich, was es sein mochte.

      Ich hatte vergessen, dass die Berge hier Wasser bluten. Wasserfälle schossen aus den Felsen, als hätte jemand eine Dusche angestellt. Und bei mir fand eine Eruption der Emotionen statt.

      Mein Lover fuhr. In der letzten Nacht hatte ich ihn im Bett festgehalten und war ganz bei ihm und ganz bei mir gewesen. Warum fühlte sich das so gut an? Mein Sexleben war absurd. Wenn ich mich wie üblich in Saunen herumtrieb, dann um mich zu verlieren; mit ihm war Sex weder geil noch «machomäßig» noch voller unausgesprochener Wut. So was wie mit ihm hatte ich schon lange nicht mehr erlebt. Es war beinahe vertraut. Als wäre ich wirklich ganz nah bei ihm – ich war DA. Fühlte sich so Liebe an?

      Doch zurück zu unserer Mission. Mein Vater hatte sich auf dem Grundstück meiner Großmutter im Süden Alabamas einen Bunker gebaut. Dort lagerten seine Vintage-Wintermäntel aus der Mod-Ära und seine Sammlung von alten Gewehren. Im Schaft einer Flinte war der Name «Jody» eingraviert, so hieß mein Ur-Urgroßvater. Wir wollten auf dem Grundstück meiner Großmutter die Mäntel und Gewehre einsacken und dann für zwei Tage nach New Orleans, bevor wir zu Loverboys Haus in Tennessee weiterfuhren. Von dort aus würde ich nach Kalifornien zurückfliegen. Wenn wir Waffen über die Grenzen dieser ganzen Bundesstaaten schmuggeln wollten, dann ließ ich den Wagen lieber von einem Weißen fahren, wie ich mir überlegt hatte – das gelang ihnen besser.

      Ich dachte an meinen Vater – er war old-school, immer sehr gepflegt, und besonders stolz war er auf seine Mantelsammlung gewesen; selbst ich, als sein einziger Sohn, hatte nicht gegen sie ankommen können. Als ich klein war, hatte ich ihn mal gefragt: «Dei-dii» – so sprach ich Daddy aus – «darf ich deinen Mantel haben?» Er trug dieses braungrüne Hahnentrittteil mit Holzknöpfen und breitem Kragen, das ihm fast bis zu den Knien reichte. Sein älterer Bruder war in den 70ern Mod gewesen und hatte in Soulbands gespielt – seinen Style hatte er bei ihm geklaut.

      «Dads Mantel passt dir noch nicht. Aber du kriegst ihn, wenn ich tot bin.» Damals war ich bestimmt nicht älter als acht. Aber so, wie er es sagte, war mir schon klar, dass er nicht vorhatte, jemals zu sterben. Daran musste ich denken, als wir auf einen Rastplatz fuhren, und ich hätte beinahe geweint, riss mich aber zusammen.

      «Hey, Baby – halten wir bei Popeyes?»

      «Yes, Sir», sagte mein hübscher Fahrer.

      In meiner Kindheit war ich die Strecke zu meiner Großmutter unzählige Male gefahren. Wenn er mich in den Weihnachts- und Sommerferien hinbrachte, fuhr mein Vater vier Stunden Richtung Norden, ich saß daneben, folgte den Straßenschildern mit den Augen und war glücklich und zufrieden. Loverboy und ich machten in Birmingham Pause, wo wir einen Popeyes fanden, und waren nach weiteren anderthalb Stunden in Richtung Süden fast da.

      Der Weg zum Haus meiner Großmutter war so, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Meile um Meile Spanish Moss, zweispurige Landstraßen, Schotterwege und Ruinen aus der Zeit der Reconstruction. Alles – sogar die wenigen Häuser, in denen offenbar noch jemand wohnte – wirkte gespenstisch verlassen. Ich fühlte mich verlassen.

      Meine Großmutter stammte aus Gee’s Bend; vor Jahrzehnten hatte ein Trupp superängstlicher Weißer dort eine Fähre abgefackelt, um die Schwarzen daran zu hindern, zum Wahllokal zu gelangen. Mehr hatte meine Familie mir davon nicht erzählt. Mein Freund war white as fuck und (abgesehen von Versicherungsvertretern) schätzungsweise einer


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