Geist & Leben 4/2021. Verlag Echter
erfuhr.2 Er starb 1665.
Der hl. Josef und die Mystik
Surin erlaubt es uns, die Entwicklung der Mystik im Jesuitenorden nachzuzeichnen. Wir konzentrieren uns auf ein Element, nämlich die rätselhafte „neue“ Verehrung des hl. Josef. Diese ist in einem berühmten, weit verbreiteten und häufig kopierten Brief erkennbar, den Surin an seine Mitbrüder von La Fleche (Department Sarthe) schrieb. Der Brief ist auf das Jahr 1630 datiert; Surin hatte gerade sein Tertiat vollendet und stand am Ende seiner Formation. Er wurde angehalten, nach Bordeaux zu gehen, um eine neue Aufgabe zu übernehmen. In Bordeaux angekommen, schrieb er einen Brief an seine frühere Gemeinschaft in La Fleche, vor allem an zwei befreundete Mitbrüder, Jean Bagot und Achille Dony d’Attichi. Der Brief beinhaltet eine detaillierte Beschreibung einer Begegnung, welche er auf dem Weg nach Bordeaux hatte. Dort traf er einen jungen Mann, Sohn eines Bäckers aus Le Havre, welcher gerade achtzehn Jahre alt war. Dieser war auf dem Weg nach Paris, um als Laienbruder einer religiösen Gemeinschaft beizutreten. Obwohl ungebildet, schien er in die tiefsten Geheimnisse Gottes eingeweiht, genoss eine tiefe und intime Beziehung zu Gott und hatte außergewöhnliche Einsichten in das mystische Leben. Surins Brief beschreibt die Gespräche, die er mit dem jungen Mystiker führte:
„Ich fragte ihn, ob er den hl. Josef verehrte. Er antwortete, dass der Heilige für die letzten sechs Jahre bereits sein Beschützer war und dass der Herr selbst ihm ihn als Beschützer gab, niemand anderen. Er fügte hinzu, dass nach seiner klaren Einsicht der heilige Patriarch der größte Heilige gleich nach der Heiligen Jungfrau Maria war und dass dieser den Heiligen Geist auf eine ganz andere Weise besitzt als die Apostel, dass er über Seelen wacht, eine Tugend, die vor der Welt verborgen bleiben muss – wie es der Fall war mit seiner eigenen Seele –, dass so wenig über ihn bekannt war, dass Gott indessen beschlossen hatte, dass nur die reinsten Seelen über seine Größe erleuchtet werden sollten. Er fuhr fort und sagte, dass der heilige Josef ein Mann der großen Stille war und dass er nur sehr wenig im Haus Gottes sprach, und dass Maria noch weniger sprach und Gott sogar noch weniger als die beiden sprach, dass seine Augen ihn ausreichend lehrten, wie er mit unserem Gott sprechen solle.“3 Allem Anschein nach pflegte der junge Mann also eine besondere Verehrung des hl. Josef. Obwohl gänzlich ungebildet und auch ohne spirituelle Bildung, hatte er den hl. Josef als geistlichen Führer gewählt.
Hoch bedeutsam ist der folgende Umstand: Jean-Joseph Surin beschreibt das Treffen, nachdem er kurz zuvor das Terziat beendet hatte. Der junge, faszinierende, ungebildete Erleuchtete (illettré éclairé) kommt, wie es scheint, als Geschenk des Himmels, um die Formation Surins zu vollenden. Die Freude, die Surin während dieser Begegnung erfährt, hängt sicherlich mit dem Erkennen eines Elements aus seinem eigenen Leben zusammen. Es überrascht nicht sehr, dass Surin seinen Gesprächspartner nach dessen Verehrung des hl. Josef fragt. Tatsächlich hatte Surin selbst eine mystische Erfahrung, und zwar 1612, als er gerade zwölf Jahre alt war, im selben Alter wie der Bäckerssohn, als Gott diesem den hl. Josef als Seelenführer zur Seite gab. Diese Erfahrung fand in der Kirche der Karmelitinnen in Bordeaux statt – und diese war dem hl. Josef geweiht. Surins Biograph beschreibt die Erfahrung so: „Ein übernatürliches Licht, das ihn auf unaussprechliche Weise die unbeschreibliche Erhabenheit von Gottes faszinierendem Sein erfahren ließ“4. Dieses Ereignis hatte einen großen Einfluss auf Surins Leben. Es ist kaum vorstellbar, dass er diese Begebenheit ebenso wie den Umstand, dass sie sich in einer dem hl. Josef geweihten Kirche zutrug, jemals wieder vergessen würde. Surins Schwester trat der Gemeinschaft ein paar Jahre später bei (1619); seine Mutter verbrachte bei den Karmelitinnen ihren Lebensabend.
Der junge, mystisch begabte Bäckerssohn war nicht die einzige Person, die Surin getroffen hatte und die dem hl. Josef zugetan war. Zwei Jahre später erwähnt er in einem anderen Brief eine Frau namens Marie Baron († 1642), Ehefrau eines Kaufmanns in Marennes und ebenfalls mystisch begabt. In Bezug auf deren spirituelles Leben schrieb Surin: „Es wäre falsch von mir, den heiligen Josef nicht zu nennen, den Patron aller großartigen Seelen unserer Tage. Dieser Heilige warnte sie und versprach ihr seinen immerwährenden Schutz, sogar bevor sie ihm überhaupt zugetan war. Eines Tages, an seinem Fest, zeigte er sich ihr überraschend und versprach ihr zukünftige Erleuchtung.“5
Die „neue, unübliche Art“ der Josefs-Verehrung
Die Relevanz all dieser Bezüge zum hl. Josef wird nur klar, wenn man sie in den historischen Kontext einfügt. 1629 – ein Jahr, bevor Surin den Brief nach La Flèche schrieb – hatte der Generalobere Muzio Vitelleschi (1563–1645) den jungen Jesuiten verboten, den hl. Josef auf die „neue, unübliche Art“ zu verehren. Dies mag auf den ersten Blick als eine eher merkwürdige Verordnung erscheinen. Es ist klar erkennbar, dass Surin ihr nicht folgt. Was konnte solch eine Entscheidung motiviert haben?
Um Muzio Vitelleschis Brief von 1629 zu verstehen, müssen wir zu einer früheren Quelle zurückgehen, nämlich zu Teresa von Ávila (1515–1582). Sie pflegte eine besondere Sympathie für den hl. Josef. Sie wusste sich im Alter von 26 Jahren aufgrund der Fürsprache des Heiligen von einer schweren Krankheit geheilt. Das war der Grund ihrer Josefs-Verehrung. Entscheidender für unser Thema ist jedoch ein Hinweis Teresas in ihrer Autobiographie. Für den Fall, dass man niemanden hat, der einem den Weg ins Gebet zeigt, schlägt Teresa vor, man möge sich einen Heiligen als spirituellen Führer wählen: „Dabei nahm ich mir den glorreichen heiligen Josef zu meinem Anwalt und Herrn und empfahl mich ihm sehr. (…) Mir fällt nichts ein, worum ich ihn bislang gebeten und was er mir zu gewähren unterlassen hätte. Es ist zum Staunen, welch große Gnaden mir Gott durch diesen glückseligen Heiligen geschenkt und wie er mich aus Gefahren für Leib und Seele errettet hat. (…) Nur bitte ich den, der mir nicht glauben sollte, es Gottes wegen auszuprobieren, dann wird er selbst erfahren, wie viel Gutes es bringt, sich diesem glorreichen Patriarchen zu empfehlen und ihn zu verehren. Besonders Menschen des inneren Betens sollten ihm immer zugetan sein. (…) Wer keinen Lehrmeister finden sollte, der ihn im Gebet unterweist, möge doch diesen glorreichen Heiligen als Lehrmeister nehmen, und er wird sich auf dem Weg nicht verirren.“ (Vida VI, 6.8)
Dies war für Teresa klarerweise keine zweitrangige Sache. Welch große Bedeutung sie der kontemplativ-mystischen Verehrung des hl. Josef beimaß, zeigt sich an der Tatsache, dass sie die erste Gründung des reformierten Karmel in Ávila unter den Schutz dieses Heiligen stellte. Elf anderer ihrer Gründungen haben denselben Heiligen als Patron. Schließlich wurde der hl. Josef zum Patron der gesamten karmelitischen Reform in Spanien; dies gilt auch für die Karmel-Reform in Frankreich. Teresa hatte eine explizite Verbindung zwischen dem hl. Josef und den kontemplativ-mystischen Aspekten ihres Gebetslebens kreiert. Josef wurde zum Patron einer Wiederentdeckung der kontemplativ-mystischen Dimension. Mit seinem Interesse für den hl. Josef schließt Surin an diese Sichtweise an – keineswegs zur Begeisterung seiner Vorgesetzten.
Generationenkonflikt: zu viel oder zu wenig Gebet?
Dank der historischen Recherche von Michel de Certeau wissen wir, dass sich diese Entscheidung in eine Grundsatzdebatte einfügte, die eine gesamte Generation junger Jesuiten – auch jene Surins – beschäftigte.6 Certeau arbeitete zwei verwandte Aspekte heraus, die mit zwei unterschiedlichen Generationen von Jesuiten verbunden waren. Der erste Aspekt ist abzulesen aus einem auf das Jahr 1605 datierten offiziellen Schreiben des Provinzials der Provinz Aquitanien. Dieser Brief beantwortete eine Frage, die P. General Claudio Aquaviva (1543–1615) an die gesamte Gesellschaft Jesu gerichtet hatte. Aquaviva war sich nicht sicher, ob der Orden nach Jahren spektakulären Wachstums in der ersten Dekade seiner Existenz noch auf dem richtigen Weg war und ob etwa eine Reform angebracht wäre. Die Stimme aus der Provinz Aquitanien besagte: Das innere Leben der Mitglieder lässt zu wünschen übrig. Diese gaben ihr Bestes, um im akademischen und intellektuellen Leben gute Leistungen zu erbringen. Demgegenüber fielen sie im Gebet und in der lectio divina zurück. Als Grund wurde die effusio ad exterioria genannt: Die Brüder verloren sich so in äußere Angelegenheiten, dass sie nicht mehr fähig waren zum inneren Beten, nicht einmal in den Momenten, die für das Gebet vorgesehen waren.
Der zweite Aspekt ist gegenteilig. Viele