Fallout. Fred Pearce
eine Höhe von nahezu 14.000 Metern; das ist mehr als die Reiseflughöhe eines Passagierflugzeugs. Die radioaktive Wolke dehnte sich mit einer Höhe von erstaunlichen 33.500 Metern sogar bis in die Stratosphäre aus. Ein Großteil ihrer Bestandteile ging erst im Lauf von achtzehn Monaten nieder. Einerseits bedeutete das, dass einige der aggressiveren radioaktiven Isotope mit kürzeren Halbwertszeiten bereits zerfallen waren, ehe sie den Erdboden erreichten, andererseits breitete sich der Fallout über den gesamten Globus aus und bedeckte die Erde mit einer dünnen radioaktiven Schicht. Er sorgte für die höchste Strahlenbelastung durch Fallout in der gesamten Geschichte der weltweiten Atombombentests.4
Auf der ganzen Welt wuchs der Ärger über dieses Vergehen an der Menschheit. Die Angst wuchs, ein Krieg könne einen nuklearen Holocaust auslösen und alles Leben auf der Erde zerstören. In seinem Roman Das letzte Ufer aus dem Jahr 1957 erzählt Nevil Shute von einer Gruppe Australier, die den Tod durch den Fallout eines Atomkriegs erwarten, der bereits allen Bewohnern der Nordhalbkugel das Leben gekostet hat.5 Zum ersten Mal wurde sich die Menschheit bewusst, dass sie einer existenziellen Bedrohung gegenüberstand, die sie selbst geschaffen hatte. Für manche Bevölkerungsgruppen des Pazifikraums allerdings war diese Bedrohung ganz unmittelbar.
Die Korallenatolle der Marshallinseln zählen zu den entlegensten Orten der Erde. Schon bald nachdem die Vereinigten Staaten am Ende des Zweiten Weltkriegs die Kontrolle über den Archipel von den besiegten japanischen Soldaten übernommen hatten, erklärten die Generäle zwei der Atolle, Bikini und Eniwetok, als geeignet für Atomtests. 1946 wurden dort die ersten Kernwaffenversuche nach den Abwürfen von Hiroshima und Nagasaki durchgeführt, ehe die Dringlichkeit aufgrund des Wettrüstens 1951 eine Rückkehr nach Nevada nötig erscheinen ließ. Später, von 1954 bis 1958, fanden auf den Inseln die noch viel zerstörerischeren Wasserstoffbombentests mit ihren insgesamt 109 Megatonnen statt – dem rund Fünfundsiebzigfachen der Sprengkraft, die über die Wüste von Nevada gekommen war.6
Um den Weg für die ersten Tests frei zu machen, besuchte 1949 der Militärgouverneur der Marshallinseln, Kommodore Ben H. Wyatt, die 167 Bewohner des schmalen Inselrings rund um die Lagune von Bikini. Er »forderte sie freundlich auf«, die Inseln zu verlassen, und erklärte, es käme der gesamten Menschheit zugute und bedeute das Ende aller Kriege.7 Sie glaubten, was ihr Befreier ihnen sagte, und rechneten damit, nach kurzer Zeit wieder zurückzukehren. Wie es ihr Oberhaupt Dretin Jokdru kurz vor seinem Tod im Exil 2006 formulierte: »Sie sagten uns […]: ›Auch wenn ihr auf einer Sandbank lebt, werden wir für euch sorgen, als wäret ihr unsere Kinder.‹ […] In gewisser Weise freute es uns, dass sie für uns sorgen wollten. Die Welt kam uns damals eigenartig vor. Aber wir konnten einfach nicht verstehen, warum sie unsere Insel haben wollten.«8
Wie dann tatsächlich für sie »gesorgt« wurde, war schockierend. Sie wurden auf dem fast 250 Kilometer östlich gelegenen Rongerik-Atoll abgesetzt, wo sie fast verhungerten, ehe man sie auf der Insel Kwajalein neben der Landebahn eines US-Stützpunkts in Zelten unterbrachte. Von dort wurden sie auf die Insel Kili gebracht, wo es keine Lagune gab, sodass sie nicht einmal ihre traditionellen Fischfangtechniken einsetzen konnten.
Wenigstens hatte man sie überhaupt evakuiert. Als »Bravo« detonierte, waren achtzehn Bewohner der nur gut 140 Kilometer entfernten Insel Rongelap gerade dabei, auf einem anderen Atoll Kopra zu sammeln. Wie auf die japanischen Fischer, regnete auch auf sie radioaktiv belasteter Korallenstaub herab. Zwei Stunden später erreichte der Fallout Rongelap selbst und überraschte weitere achtundsechzig Bewohner in ihren Häusern. Am nächsten Tag erschienen amerikanische Soldaten in Schutzanzügen und nahmen Messungen vor. Zu diesem Zeitpunkt litten die meisten Bewohner, wie schon die Fischer, bereits an Verbrennungen und mussten sich übergeben – klare Anzeichen von Strahlenkrankheit. Eilig wurden sie nach Kwajalein evakuiert, und die Atomenergiekommission veröffentlichte eine Pressemitteilung, wonach die Evakuierung »als geplante Vorsichtsmaßnahme« erfolgt sei, »[…] Verbrennungen traten nicht auf. Offenbar geht es allen gut.«9
Nachdem 1963 die oberirdischen Tests eingestellt worden waren, hatte Amerika keine weitere Verwendung für die Inseln und wollte die Evakuierten wieder dort ansiedeln. 1968 erklärte Präsident Lyndon Johnson das Bikini-Atoll für sicher, und vier Jahre später kehrten über hundert Menschen aus Kili zurück. Im Zuge von Gesundheitsüberprüfungen wurden bei den Rückkehrern allerdings erhöhte Werte von radioaktivem Cäsium-137 durch den Fallout der Bombe festgestellt. Also evakuierte man sie erneut.10
Cäsium-137 hat eine Halbwertszeit von dreißig Jahren – das bedeutet, dass die Hälfte einer bestimmten Menge nach dieser Zeitspanne zerfallen und verschwunden ist. Heute dürfte der Strahlungswert also nicht viel mehr betragen als ein Viertel des nach den Tests gemessenen Werts. Trotzdem kam eine Studie noch im Jahr 2016 zu dem Schluss, dass Bikini »vermutlich noch nicht wieder bewohnbar ist«. Der im Boden verbleibende Fallout konzentriere sich demnach in den Kokosnüssen und in den Krabben, die sich von ihnen ernähren.11 Manche behaupten, die radiologischen Gefahren würden übertrieben hoch dargestellt. Eine Studie gibt die auf Bikini durch eine Ernährung mit lokal erzeugten Lebensmitteln erhaltene Strahlendosis mit 15 Millisievert pro Jahr an. Das ist zwar das Sechsfache der weltweit durchschnittlichen natürlichen Umgebungsstrahlung, liegt aber weit niedriger als alle Werte, die jemals nachweislich zu Gesundheitsschäden geführt haben. Die psychologischen Komplikationen eines Lebens im Exil sind wohl schlimmer als die radiologischen Gefahren nach einer Rückkehr.12 Dennoch nehmen die Menschen von Bikini den Amerikanern – verständlicherweise – nicht ab, dass eine Rückkehr gefahrlos möglich sei. Sie haben immer noch den Eindruck, dass man sie wie Kinder behandelt.
Noch größeres Chaos erlebten die vom Fallout betroffenen Bewohner von Rongelap, die nach dem »Bravo«-Test evakuiert worden waren. 1957, nur drei Jahre später, brachten die Amerikaner sie zurück auf ihre Insel, ohne sich zuvor um eine Dekontamination gekümmert zu haben.13 Dort lebten die Menschen dreißig Jahre lang und ernährten sich zum größten Teil von dem, was ihr verseuchtes Land hervorbrachte. Nachdem aber unter den Kindern eine erhöhte Anzahl an Schilddrüsenkrebsfällen und bei den Erwachsenen vermehrt Leukämie aufgetreten war, baten sie eindringlich darum, wieder evakuiert zu werden. Greenpeace kam zu Hilfe und brachte sie per Schiff nach Kwajalein. Dort litten sie unter den beengten Lebensverhältnissen und an Arbeitsplatzmangel, außerdem kam es zu einer Selbstmordwelle.14
1998 rief die US-Regierung endlich ein Programm zur Reinigung der radioaktiv kontaminierten Böden von Rongelap ins Leben. Seither sind einige Bewohner zurückgekehrt, und offenbar geht es mit ihnen wieder deutlich bergauf. Es gibt eine befestigte Landebahn, die Inseln betreiben Ökotourismus und handeln mit vor Ort gezüchteten schwarzen Perlen.15
Neben den Tests auf dem Bikini-Atoll führten die USA dreiundvierzig weitere Versuche auf dem evakuierten Eniwetok-Atoll durch. 1979 erschien das Aufräumkommando. Rund 100.000 Kubikmeter des am stärksten radioaktiv belasteten Bodens wurden abgetragen und unter eine Betonkuppel gepackt, den sogenannten Runit Dome. Glaubt man den Versprechungen, wird durch den weiteren Zerfall der Isotope, etwa von Cäsium-137, der größte Teil des Atolls Ende der 2020er-Jahre wieder für Menschen bewohnbar sein. Doch die Kuppel, die wie ein halb im Sand vergrabenes Ufo aussieht, hat bereits Risse, und laut einer Folgebegutachtung des US-Energieministeriums aus dem Jahr 2012 tritt möglicherweise ein Teil ihres Inhalts bereits wieder aus und gelangt zurück in den Boden.16
Es sind traurige Geschichten. Keiner kommt gut dabei weg. Im großen Ringen um die emotionale wie rationale Beurteilung der Risiken radioaktiver Strahlung sind die Inselbewohner viel zu oft die Bauernopfer gewesen.17 Und mangels einer angemessenen Entschädigung wurde ihre Not noch verschlimmert. Während US-Bürgern, die den Folgen von Atombombentests ausgesetzt waren, eine Milliarde Dollar ausgezahlt wurde, ist den Bewohnern der Marshallinseln, von denen viele wesentlich höhere Strahlendosen erhalten haben, weniger als ein Zehntel dieser Summe zugekommen.
Aber wie steht es um die Natur? Sind die Inseln zur nuklearen Todeszone geworden? Die Kernwaffentests haben in erheblichem Ausmaß Korallenriffe zerstört und Böden und Lagunen kontaminiert. Doch wie an vielen anderen radioaktiv belasteten Orten der Welt