Fallout. Fred Pearce

Fallout - Fred Pearce


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ein halbes Jahrhundert zuvor in den Meeresboden gerissen hatte, fanden sie neu gewachsene Korallenriffe von mehr als 7,5 Meter Höhe vor. Das Riff wurde von Korallen aus den benachbarten Atollen zurückerobert. »Ich wusste nicht, was mich erwarten würde – ich vermutete, eine Art Mondlandschaft. Aber es war unglaublich«, sagte Zoe Richards von der australischen James Cook University gegenüber der Agentur Reuters.18

      Auf dem Grund der Lagune von Bikini liegt eine Armada alter Kriegsschiffe, die die US-Marine dort vor der Detonation von »Bravo« versenkt hatte, um die Zerstörungskraft der neuen Waffe zu testen, darunter auch die Nagato. Ihre Symbolkraft ist offensichtlich: Sie war das japanische Flaggschiff, auf dem Admiral Isoroku Yamamoto den Befehl zum Angriff auf Pearl Harbour gegeben hatte. Im Jahr 2010 erklärte die UNESCO das Bikini-Atoll zum Weltkulturerbe, da es »den Beginn des Atomzeitalters symbolisiert«.

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      Die Briten führten ihre ersten Atomwaffentests in Australien durch, verlegten die Versuche mit Wasserstoffbomben dann aber auf Inseln im Pazifik. Unter den abgelegenen Besitzungen des Empires fiel ihre Wahl auf die Weihnachtsinsel und die Insel Malden, die heute zu dem unabhängigen Staat Kiribati gehört. Da die Briten viel weniger Tests durchführten als die USA und die Sowjetunion, wollten sie aus jedem einzelnen so viele Informationen wie möglich gewinnen; keine günstigen Voraussetzungen für die Armeeangehörigen und die örtlichen Bewohner, die zur Unterstützung einberufen wurden.

      Die größte Bombe, die über der Weihnachtsinsel zur Explosion gebracht wurde, »Grapple Y«, hatte drei Megatonnen Sprengkraft. Gleichwohl erhielten Piloten den Befehl, dicht an den Detonationsort heran- und durch die Pilzwolke hindurchzufliegen, um Proben des radioaktiven Fallouts zu nehmen. Der Rat, bei der Detonation die Augen zu schließen, nützte nicht viel. Einer berichtete, sie hätten »das Licht sogar durch die Augenlider gesehen. Es war unfassbar. Das hat uns richtig umgehauen.«19 Diejenigen, die nicht in ein Flugzeug gesetzt wurden, ließ man am Strand antreten, und sie erhielten, wie sich der damals neunzehnjährige Kenneth McGinley erinnert, die Anweisung, »Fäuste zu machen und sie in die Augenhöhlen zu drücken«, während knapp zwanzig Kilometer entfernt die Bombe detonierte.20 Anschließend nahmen sie Obst und Wasser von der Insel zu sich und schwammen in der Lagune. Ehe sie wieder abgezogen wurden, erhielten sie noch den Befehl, Wildvögel zu töten, die durch die Explosion blind geworden waren.21

      Die Bewohner der Weihnachtsinsel waren nicht evakuiert worden, obwohl »Grapple Y« dort radioaktive Niederschläge verursachte. Eine unter ihnen, Suitupe Kirotomi, erinnerte sich, wie sie »zu der schwarzen Explosionswolke aufschaute, die direkt über uns war, dann begann es zu nieseln«. Später bildete sich auf ihrer Stirn eine rötliche Verbrennung und die Haare begannen ihr auszufallen. Im Jahr 2006 erzählte sie Journalisten: »Die Narbe habe ich bis heute.«22

      Es ist nach wie vor umstritten, wie sehr es Soldaten und Einwohnern geschadet hat, Strahlung und Fallout so unvermittelt ausgesetzt zu sein. Im Jahr 2015 zahlte die Republik Fidschi siebzig ihrer Bürger, die damals vor Ort gewesen waren, eine Entschädigung. Im Rahmen einer Studie mit fünfzig neuseeländischen Soldaten allerdings, die an den Tests auf der Weihnachtsinsel beteiligt gewesen waren, beurteilte Al Rowland von der Massey University, Neuseeland, die Daten zur Entwicklung von Krebserkrankungen als wenig aussagekräftig.23 Der britische Soldat McGinley gab an, er leide unter wiederholt auftretenden Hautproblemen und Unfruchtbarkeit. Um für eine Entschädigung zu kämpfen, gründete er den Betroffenenverband Britischer Antomtest-Veteranen.

      Die britische Regierung argumentiert, Armeeangehörige hätten keine ausreichenden Beweise für Schädigungen vorgelegt. Wissenschaftlich betrachtet ist sie womöglich im Recht, doch dass ihre Bürokraten offenbar vorsätzlich auf die Erfassung solcher Beweise verzichtet haben – trotz aller Warnungen staatlicher Wissenschaftler, dass ihnen das Ärger einbringen könne –, macht einen schon stutzig: Wie das Protokoll einer Sitzung am britischen Atomwaffeninstitut in Aldermaston vom Juli 1958, einen Monat vor einem der Grapple-Tests, offenbart, wollten die dortigen Wissenschaftler bei den beteiligten Soldaten zuvor Blutproben entnehmen. So hätte geprüft werden können, ob die Anzahl der weißen Blutkörperchen im Anschluss gesunken wäre – ein mögliches Vorzeichen für Leukämie.

      Wie das Protokoll festhielt, waren die Wissenschaftler außerdem »besorgt darüber, welche politischen Rückschläge drohen, sollte der Vorwurf der Fahrlässigkeit laut werden, und sei er noch so unbegründet. Falls keine Blutproben genommen werden und eine Person später tatsächlich erkrankt, würde das den Ausgang von vornherein ungünstig beeinflussen.«24 Militärangehörige, die an der Sitzung teilnahmen, lehnten den Vorschlag ab. Die befürchteten Rückschläge wurden vierzig Jahre später Wirklichkeit, als die Europäische Kommission für Menschenrechte entschied, die britische Regierung habe gegenüber ihren Soldaten rechtswidrig und unredlich gehandelt.25

      Die Franzosen führten ihre oberirdischen Kernwaffentests zunächst in der algerischen Wüste durch. Doch nach der Unabhängigkeit Algeriens wandte sich auch Frankreich seinen Inseln im Pazifik zu. Zwischen 1966 und 1974 verursachten einundvierzig Tests auf den unbewohnten Atollen Mururoa und Fangataufa Fallout, der über großen Teilen Polynesiens niederging. Die Tests verstießen gegen das internationale Verbot von Kernwaffenversuchen gemäß dem Vertrag von 1963, den Frankreich nicht hatte unterzeichnen wollen. Wie die Amerikaner und Briten vor ihnen, betrachteten die Franzosen die Bewohner vor allem als lästig. Sie praktizierten eine hartnäckige Politik der Geheimhaltung und Leugnung und wiesen lautstark alle Vermutungen zurück, dass der Fallout eine Gefahr darstellen könne.

      Im ersten Jahr der Tests wurde auf den Gambierinseln, vierhundert Kilometer von Mururoa entfernt, das Fünffache der zugelassenen jährlichen Strahlendosis gemessen. Keiner der mehreren Hundert Bewohner war evakuiert worden. Im folgenden Jahr mussten zwei französische Meteorologen, die gut hundert Kilometer entfernt stationiert waren, ins Krankenhaus gebracht werden, nachdem Fallout auf sie niedergegangen war. Die sechzig Bewohner dieses Atolls untersuchte trotzdem niemand.26

      Nach dem Ende der oberirdischen Tests setzten die Franzosen das Programm unterirdisch fort. Als 1985 das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior in die Sperrzone des Testgebiets eingedrungen war, zog der französische Geheimdienst andere Saiten auf. Nachts versenkten Agenten das Schiff in einem neuseeländischen Hafen, wobei unbeabsichtigt ein Fotograf ums Leben kam, der noch einmal zurück an Bord gegangen war. 1996 wurden die Tests ganz beendet; sie hinterließen ein zerrissenes Atoll, übersät mit radioaktivem Material, darunter auch 18 Kilogramm Plutonium, das beim Auseinanderbrechen einer Bombe in die Lagune gefallen war.27

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      Nach 1945 wurden auf den dreizehn wichtigsten Testarealen mehr als fünfhundert Atomwaffen mit einer Sprengkraft von insgesamt 440 Megatonnen getestet, das entspricht der erschütternden Menge von 29.000 Hiroshima-Bomben. Die Gesamtmenge ihres Fallouts betrug das rund Sechshundertfache dessen, was 1986 beim Unfall von Tschernobyl, der größten nicht-militärischen Nuklearkatastrophe, frei wurde. Mehr als die Hälfte dieser 440 Megatonnen – 239 – wurden auf die gebirgige Insel Nowaja Semlja in der russischen Arktis losgelassen.

      Dort wurde auch am 30. Oktober 1961 die bis heute größte Testbombe gezündet. Mit ihren 50 Megatonnen Sprengkraft war die Zar-Bombe mehr als dreimal so stark wie ihr größtes amerikanisches Gegenstück. Sie hatte das Zehnfache der Sprengkraft aller im Zweiten Weltkrieg abgeworfenen Bomben zusammen, und ihr Atompilz erreichte bei einem Durchmesser von fast 100 Kilometern die siebenfache Höhe des Mount Everest. Ihre Hitze verursachte 110 Kilometer entfernt Verbrennungen dritten Grades, und noch in fast tausend Kilometern Entfernung gingen Fensterscheiben zu Bruch. Nie wieder haben Menschen etwas Vergleichbares getan. Mit einem Viertel der beim Ausbruch des Vulkans Krakatau frei gewordenen Energie erinnerte die Explosion mehr an ein geologisches Ereignis als an eine Bombe. Ähnliches könnte man auch von den 133 unterirdischen Tests behaupten, die nach 1963 auf Nowaja Semlja durchgeführt wurden. Einer löste einen Erdrutsch aus, der zwei Gletschern den Weg versperrte, und ein mehr als anderthalb Kilometer langer See entstand. Durch einen weiteren Test taute der Permafrostboden bis zu einer Tiefe von über 90 Metern auf.28


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