Food Code. Olaf Deininger
Erscheinung, ein glücklicheres Leben.
Lebensmittelindustrie und Lebensmitteleinzelhandel haben erkannt, dass diese Programme künftig für ihr Geschäft wichtig werden können. Wenn die App schon sagt, was man essen sollte, warum Lebensmittel nicht gleich in der App an Ort und Stelle verkaufen? Wenn Ernährungs-Apps zum Massenmarkt werden, dann auch das Einkaufen im Fitness-Programm. Oder mit Alexa oder Siri. Denn die digitale Verarbeitung von gesprochenem Wort ist relativ simpel: eine Spracherkennung verwandelt die Töne in geschriebenen Text. Der wird verarbeitet. Als Ergebnis entsteht ebenfalls ein schriftlicher Text. Eine Sprachgenerierung liest diesen Text vor. Schon bald verfügt Alexa über alle Fähigkeiten und den gesamten Wortschatz, den sie braucht, um eine umfassend gebildete, wissende und vielleicht auch kluge, in jedem Fall aber geschäftstüchtige Gesprächspartnerin oder Assistentin abzugeben – mit einer hohen kommerziellen Eigeninitiative: »Soll ich das optimale Gemüse für dein Trainingsprogramm bestellen?«
Und da die Programme ein gutes Gedächtnis haben und praktisch kein Detail vergessen, fallen ihnen ganz automatisch Regelmäßigkeiten auf, die sie dann einfach in gut gemeinte Vorschläge umsetzen: »Soll ich dir eine Pizza bestellen? Du bekommst um 18:00 Uhr doch immer Hunger. Und ich habe mir gemerkt, dass ich dir in den letzten drei Jahren meistens am Dienstag eine Pizza bestellen durfte. Und heute ist Dienstag und es ist gleich 18:00 Uhr …« Wer kann so ein Angebot schon abschlagen? Und je länger man das Werkzeug nutzt, desto besser kann es auch vorhersagen, was geschehen wird: »Deinen Daten nach zu urteilen, wirst du heute um 18:10 Uhr Hunger bekommen – also in zwei Stunden. Soll ich schon mal …?«
Satt machende Pulver aus dem Web
Im Jahr 2013 beschloss der US-amerikanische Softwareentwickler Rob Rhinehart, keine normalen Lebensmittel mehr zu essen. Er wollte seine persönliche Ernährung als ein rein technisches Problem angehen und ein zeitsparendes Ernährungsprodukt für seinen Körper entwickeln. Eine Art Astronautennahrung, die alles enthält, was sein Organismus braucht. Als Grundlage dafür diente die offizielle Ernährungsempfehlung des Landwirtschaftsministeriums der Vereinigten Staaten (USDA). Nach diesen Vorgaben mischte er sich ein Pulver aus pflanzlichen Eiweißen wie etwa Sojamehl und Reisproteinen, aus Kohlenhydraten wie Maltodextrin, Vitamin-Präparaten und Ballaststoffen zusammen, das, mit Wasser zu einer Art Shake gemischt, seine einzige Nahrung sein sollte. Nach einigen Wochen stellte er fest, es reichte zum Leben und er fühlte sich gut dabei. Mit dieser Erfahrung, wonach er lediglich sein Konzentrat benötigte, um alle wichtigen Ernährungsbestandteile zu bekommen, gründete Rhinehart das Startup Soylent.
Rhineharts Pulvervollnahrung schuf damit nicht nur eine neue Produktgruppe, die heute Complete Food (CF) genannt wird. Er schuf damit auch einen neuen Massenmarkt und einen populären Lifestyle. Denn CF-Mahlzeiten sind im wahrsten Sinn des Wortes etwas für Erbsenzähler: Sie ermöglichen eine genaue Messung der jeweiligen Nährstoffe und damit eine genaue Kontrolle der Nahrungsaufnahme. Genau richtig für ihre Fans. CF-Mahlzeiten reduzieren außerdem die Komplexität der Auswahl, den Einkauf und die Zubereitung auf ein Minimum. Es genügt das Anrühren mit Wasser. Das findet gerade unter dauergestressten und am Computer arbeitenden Menschen großen Anklang. Complete Food ist das ultimative Fast Food: technologisch optimiert, zeitsparend, billig, unkompliziert. Getreu dem Motto: Ich muss mich um nichts mehr kümmern, denn es ist ja alles enthalten, was man braucht.
An Rhineharts Startup ist heute unter anderem die Firma GV, die Risikokapitalgesellschaft von Googles Mutterkonzern Alphabet, als Investor beteiligt. Wettbewerb gibt es auch schon: das von dem Briten Julian Hearn gegründete Startup Huel (steht für »Human + Fuel«, also Mensch + Treibstoff), das französische Startup Feed und Yfood aus Deutschland.
Die Studie zu Complete Food von Markéta Dolejšová »From Silicon Valley to Table: Solving Food Problems by Making Food Disap pear« sowie ein Selbstexperiment der tschechischen Forscherin kommen zu dem Ergebnis: »Complete Foods lehnen das als ungenau und emotional beeinflussbar betrachtete Bauchgefühl ab und folgen stattdessen der Idee, Brennstoff für den Verdauungstrakt zu sein, der auf exakten Daten basiert.« Diese Trinkmahlzeiten sind ein Beispiel für »Nutritionism«: die reduktionistische Sichtweise von Nahrung als eine Summe von Nährstoffen. Lebensmittel, Kochen, Essen sind aber komplexe Vorgänge, die soziale und kulturelle Bedeutung haben.
Auf Online-Vergleichsportalen wie etwa Blend Runner tauschen sich die Nutzer von CF über die ideale Zusammensetzung und Wirkung von Pulvernahrung aus. Man kann auf solchen Plattformen aufs Gramm genau die Rezepturen vergleichen und in Rankings nachvollziehen, welche Version derzeit als die beste von den Online-Fans bewertet wird. Ganz oben rangieren etwa »Plenny Shake v2.1« aus den Niederlanden und »Ruffood RTD v3.5« aus China.
Denn abgeglichen werden die Zusammensetzungen der Cocktails mit den persönlichen Selbstüberwachungsdaten der Fitness- und Gesundheits-Apps der Nutzer. Markéta Dolejšová stellt dazu fest: »Die Online-Weitergabe von persönlichen Körperdaten ist ein üblicher Bestandteil quantifizierter Ernährungspraktiken. Statt offizieller Lebensmittel- und Gesundheitsempfehlungen bevorzugten die Anhänger von CF datengestützte Nachweise, die durch ihre diätetischen Selbstversuche und Peer-to-Peer-Fehlersuche gewonnen wurden.«
Wenn die DNA-App den Speiseplan bestimmt
Die Analyse der Daten aus Tracking-Apps und aus Selbstversuchen mit unterschiedlichen Rezepturen sind dabei nur zwei Verfahren, um eine rationale und mathematisch quantifizierbare Rohstoff-Zusammenstellung für eine optimale, aber unkomplizierte Vollwerternährung zu erreichen. Eine Analyse der Darmflora und ihrer Mikroben bieten Startups wie etwa Viome, UBiome, Day Two und MyMicrobes an. Zu Beginn des Abonnements dieser digitalen Dienste schickt man eine Stuhlprobe ein, die analysiert wird. Auf Basis dieser Daten erstellen die Algorithmen der Startups dann einen individuellen, an die Verdauung angepassten Ernährungsplan und senden diesen persön lichen Food Code dann an die zugehörige App.
Andere Startups, wie etwa Atmo Biosciences im australischen Melbourne, nehmen mit einer »Atmo Capsule« Messungen im Körperinneren vor: »Unsere schluckbare smarte Pille ist die weltweit erste patentierte Lösung zur genauen Profilierung der Gase im Darm«, sagt Geschäftsführer Malcolm Hebblewhite. Die Kapsel erkennt und meldet unterschiedliche Gaskonzentrationen in Echtzeit, die als Indikator für bestimmte Krankheiten dienen, in der Welt der Experten »Biomarker« genannt. Das autonome Diagnosewerkzeug soll etwa Reiz darmsyndrome, chronisch-entzündliche Darm erkran kun gen, krankhafte Kohlenhydratabsorption und Kohlenhydratunverträglichkeiten erkennen können.
Auch die eigene DNA kann als Grundlage dienen, um eine optimale Ernährung zu definieren. Anbieter wie zum Beispiel 23andme, DNAfit oder Habit bieten »Lifestyle-DNA-Analysen« von eingesandten Speichelproben an. Wie tief die Analyse gehen soll, ob nur die Anfälligkeit für Übergewicht oder die Vitaminverträglichkeit getestet werden soll, hängt davon ab, wie viel der Kunde zu zahlen bereit ist. Die Ergebnisse kommen als digitale Daten direkt per App aufs Smartphone. Oder man bekommt von der Firma DNA Nudge gleich einen kompletten Einkaufsplan auf Genom-Basis: »Shop with your DNA«, lautet der Slogan. Ende 2019 konnten interessierte Londoner im Pop-up-Store des Startups DNA Nudge gleich vor Ort einen DNA-Schnelltest machen lassen, mit dessen Daten ein digitales Armband gefüttert wurde. Scannt man mit dem Gerät am Arm den Barcode von Lebensmittelprodukten ein, leuchtet eine kleine personalisierte Lebensmittelampel am Handgelenk rot oder grün auf – je nachdem, ob es laut Software zur DNA des Trägers passt oder nicht.
Wer dagegen der Ansicht ist, dass für die optimale Gesundheit eher Wirkstoffe von Pflanzen förderlich sind, der ist bei Brightseed an der richtigen Adresse. Das selbst ernannte »Google für Pflanzeneigenschaften« analysiert sogenannte Phytonährstoffe. Diese sekundären Pflanzenstoffe sind chemische Verbindungen, welche die Pflanze für sich selbst nicht braucht, die aber eine große Bedeutung für die menschliche Ernährung haben könnten – wissenschaftlich ist das noch nicht genau nachgewiesen: »Brightseed entstand aus der Überzeugung heraus, dass wir einen natürlichen und proaktiven Ansatz für Gesundheit brauchen und dass die verborgenen Nährstoffe der Pflanzen, die wir in unsere Ernährung