Food Code. Olaf Deininger

Food Code - Olaf Deininger


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großen Mengen von Gesundheitsdaten sucht Brightseed nach bislang unentdeckten Phytonährstoffen, die unsere Ernährung verbessern könnten.

      Im Jahr 2007 gründeten die beiden amerikanischen Wired-Journalisten Gary Wolf und Kevin Kelly die Website quantifiedself.com. Zunächst fanden sich dort einige Gleichgesinnte aus der Region um San Francisco zusammen, um ihre Self-Tracking-Erfahrungen online auszutauschen. In den folgenden Jahren entstanden auf der ganzen Welt weitere Quantified-Self-Gruppen. Seit 2011 finden internationale Konferenzen mit Anwendern, Entwicklern, Journalisten und Unternehmensvertretern aus der Gesundheitsbranche statt. In Deutschland existieren mittlerweile Gruppen in Aachen, Berlin, Hamburg, Köln, München und Stuttgart. Heute beschreibt sich The Quantified Self als ein Netzwerk aus Anwendern und Anbietern von Methoden und von Hard- und Softwarelösungen, mit deren Hilfe umwelt- und personenbezogene Daten aufgezeichnet, analysiert und ausgewertet werden können: »Wir haben ein gemeinsames Interesse an der Selbsterkenntnis durch Zahlen«, lautet das Credo dieser Bewegung. Ihre Vorstellung ist, dass der Mensch eine Art Maschine sei. Ganz so, wie es et liche Illustrationen aus dem 19. Jahrhundert nahelegen. Darauf ist der Verdauungstrakt etwa als Fließband dargestellt, an dem Maschinen die Nahrung zerkleinern, andere Maschinen Nährstoffe aus dem Nahrungsbrei saugen, in Energie umwandeln und diese über ein Rohrsystem in den Kreislauf bringen, zu den Kraftzentren, den Muskeln.

      Diese Vorstellung erlebte mit der Digitalisierung in technikaffinen Szenen und Communities ein Comeback – wenn auch in anderer Form: Der Körper ist zwar immer noch eine Maschine, aber eine intelligente, eine programmierbare und eine sensible, die optimiert werden müsse und durch das Betanken mit dem besten Treibstoff die effektivsten Ergebnisse liefert. Lebensmittel geben mehr oder weniger guten Brennstoff ab. Der Körper ist ein Überwachungs- und Optimierungsraum, den wir möglichst gut beobachten und einstellen müssen.

      So versprechen viele neue digitale Produkte und auch etliche Web-Influencer Heilung oder zumindest einen »gesünderen Lebensstil«, einen Schutz vor Krankheit und eine Verlängerung des Lebens.

      Nicht selten beinhaltet das Narrativ der neuen Digital-Unternehmer in diesem Bereich auch Heilungserlebnisse von mehr oder weniger schweren Krankheiten.

      Der israelische Historiker Yuval Noah Harari spricht in seinem Buch Eine kurze Geschichte der Menschheit von einer »Silicon Valley Religion« und »Silicon Valley Gurus«, für die der »Tod nur ein technisches Problem ist«, das gelöst werden kann: »Auf kommerzieller Ebene ist die Gesundheit der ultimative Markt. Andere Märkte sind endlich, sie sind erschöpfbar. Es gibt beliebig viele Autos, Schuhe oder Lebensmittel, die man besitzen kann. Aber Gesundheit ist ein unendlicher Markt – man kann nie genug davon haben.«

      So entsteht ein neues Körperbild, und die Zahl der Menschen wächst, die sich und ihre Körper mithilfe von Daten aus DNA- oder Darmflora-Analysen, vernetzten Armbändern, Smartphones und an deren Gadgets selbst überwachen. Und ganz gleich, ob Fitness-, Diät- und Gesundheits-Apps die Menschen tatsächlich gesünder oder zufriedener machen, sie wachsen bei vielen regelrecht »am Körper oder am Leben fest«.

      Studien der englischen Wissenschaftlerin Rachael Kent zeigen, dass die ständige Selbstüberwachung durch Gesundheits-Software und Fitness-Gadgets Angst und Suchtverhalten, Scham- und Schuldgefühle auslösen kann: »Der eigene Selbstwert hängt an Leistungsdaten, welche die App permanent ermittelt.«

      Die Soziologin Deborah Lupton vermutet, dass Gesundheits-Food-Apps eine »Mensch-App-Assemblage« schaffen. Apps und Wearables werden damit »aktive Teilnehmer an der Ausprägung des Körpergefühls und Selbst-Bewusstseins«. Die Handlungskompetenz, also die Fähigkeit, sich in der heutigen Lebensmittelwelt zurechtzufinden, werde dabei auf zwei Akteure verteilt: den Menschen und seine App. Das Körperbild verändere sich, der Mensch vertraue den eigenen Sinnen, dem eigenen Bauchgefühl immer weniger, denn das erledige die Technik für ihn. Er entfremde sich von sich selbst.

      Zudem zeigen die Untersuchungen von Lupton, dass die Regelwerke, Normvorgaben und Zielwerte vieler Fitness-Apps auf den »Werten« der wohlhabenden weißen Ober- und Mittelschicht der west lichen Welt basieren. Diese Gruppe wolle abnehmen oder zumindest ihr Gewicht halten und körperlich fitter werden. Nur diese Menschen haben überhaupt Zeit, die existierenden Apps mit den nötigen Informationen zu füllen. Wer diesem Körperideal nicht entspricht, wie etwa andere Ethnien, Vorerkrankte, Menschen mit einem anderen Körperbau oder mit anderen Werten, ist als Nutzer schnell frustriert. Und fühlt sich ausgegrenzt, im schlimmsten Fall diskriminiert.

       Das Internet der Körper

      Immer mehr Fitness-Apps, Wearables und Gadgets erheben und produzieren Daten: Bewegungsprofile, Anzahl von Schritten, erklommene Treppen, Aufwach- und Einschlafzeitpunkte, Schlafdauer, Biorhythmus, Herz- und Atemfrequenz, Stimmmodulation, verzehrte Nahrungsmittel, Kalorien, Kohlenhydrate, Eiweiß und Fett. Angereichert werden sie um die digitalen Daten der Analysen unserer Darmflora und unserer DNA. Dazu kommt noch die Analyse dieser Daten: Das sind Zuwachs- und Schrumpfungsraten, Entwicklungen, Fortschritte. Außerdem Geodaten, Daten von Kontakten, Einkäufen, Transaktionen. So entstehen große Mengen vernetzter Gesundheitsdaten, die unsere digitalen Fitness-Helfer sammeln, ergänzen, ver arbeiten und abgeben.

      Im ersten Schritt unterstützen sie den Nutzer vielleicht lediglich bei seiner Selbstoptimierung. In einem zweiten Schritt dienen sie möglicherweise dazu, sich mit anderen Nutzern zu messen oder sich gegenseitig abzugleichen: virtuelle Wettbewerbe darüber abzuhalten, wer am schnellsten abnimmt oder am schnellsten Muskelmasse aufbaut. Wer am schnellsten, häufigsten, längsten joggt, schwimmt, geht, rudert. Oder wer auf seinem Trimmrad im heimischen Keller als Erster seiner Online-Gruppe beim virtuellen Straßenrennen auf den legendären 2.115 Meter hohen Col du Tourmalet strampelt, den Schicksalsberg der Tour de France. Die Geräte sprechen also miteinander – und tauschen die Körperdaten ihrer Eigentümer aus.

      Bereits heute existieren Suchmaschinen wie etwa Shodan.io, mit denen Internetadressen und offene Schnittstellen von Maschinen, Lkws, Baugeräten, Videokameras auf öffentlichen Plätzen, Behörden und privaten Firmen, aber auch von Kraftwerken und anderen öffentlichen Anlagen der Infrastruktur gesucht und gefunden werden können. Leicht vorstellbar, dass es so etwas für Körper-, Fitness- und Ernährungsdaten demnächst auch geben könnte. Schließlich verfügt jedes Smartphone über eine individuelle IMAI-Nummer, über die es identifiziert werden kann. So könnten Daten durch Hackerangriffe auf unabgesicherte Einfallstore der Apps herunterkopiert werden. Oder ganz offiziell beim Hersteller oder einem seiner Partnerunternehmen landen – wie es bei Facebook und Cambridge Analytica der Fall war. Wer weiß außerdem schon genau, welche Daten seine Fitness-App selbstständig im Hintergrund und ohne zu fragen an Dritte weitergibt oder welche offenen Schnittstellen von außen problemlos angezapft werden können? Haben Sie etwa die Datenschutzerklärung Ihrer neuen Smartwatch vollständig gelesen, bevor Sie damit joggen gegangen sind?

      So gesellt sich zum »Internet der Dinge«, dem Internet der Maschinen, Kameras und Sensoren, ein »Internet der Körper«, sagt Andrea M. Matwyshyn, Professorin an der Stanford University in Kalifornien und Co-Autorin der Studie der US-Denkfabrik RAND »Das Internet der Körper«. Daten, die nicht nur für den Hausarzt, Fitness-Berater, Personal-Trainer oder den Coach der Thekenfußballmannschaft interessant sind, sondern auch für Krankenversicherungen, Arbeitsämter, Personalchefs oder den direkten Konkurrenten um einen lukrativen Job auf dem Arbeitsmarkt. Und natürlich: für Lebensmittelhersteller und -händler, die ihre Produkte verkaufen wollen.

      Doch für Matwyshyn ist das erst der Anfang: Das Internet der Körper verbindet in der ersten Generation Fitness-Tracker mit intelligenten Brillen, intelligenten Exoskeletten (das sind Apparaturen, die Menschen unterstützen, etwa schwere Lasten zu heben etc.), Herzschrittmachern und Gehirnsensor-Stirnbändern. In der zweiten Generation kommen Körperimplantate, digitale Pillen, Cochlea-Implan tate (Hörprothesen), Geräte zum Management innerer Organe und Hirnimplantate (etwa für Epileptiker) hinzu. »Die Grenze zwischen der ersten und der zweiten Generation des Internets der Körper, zwischen gesundem Lebensstil und nicht-medizinischer Technologie beginnt bereits zu verschwimmen«, schreibt sie. Schätzungen gehen davon aus, dass derzeit etwa 50.000 bis 100.000 Menschen


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