El Niño de Hollywood. Oscar Martínez
eines Niemands, eines Vergessenen, eines Mannes, der war, wie viele andere sind. Das mikroskopisch Kleine, um das Globale zu verstehen.
Wir haben auf die Beute der Beute zurückgegriffen und versucht, sie zum Schlüssel für das Verständnis der Geschichte zu machen, gemäß dem Satz, den wir einmal zu Miguel Ángel, dem wir versprochen hatten, aufrichtig zu sein, gesagt haben.
»Warum wollt ihr meine Geschichte erzählen?«, hatte er uns nach Jahren unserer Bekanntschaft an dem staubigen Ort, an dem er geboren wurde, gefragt.
»Weil wir leider glauben, dass deine Geschichte von größerer Bedeutung ist als dein Leben«, antworteten wir verlegen.
Wir hoffen, dass wir jenem Versprechen alle Ehre machen.
Óscar und Juan José Martínez 28. Februar 2018
ERSTES KAPITEL
Das Ende
Nicht mal im Tod wird Miguel Ángel Tobar seinen Frieden finden.
An einem Sonntag, dem 23. November 2014, machen sich sieben Männer daran, ihn unter die Erde zu bringen. Es ist zwölf Uhr mittags auf dem Friedhof von Atiquizaya, im Westen des kleinen zentralamerikanischen Staats El Salvador. Die Sonne brennt einem direkt auf den Schädel, und man muss sich nicht erst bewegen, um zu schwitzen.
Während der Schwiegervater und die Brüder des Toten das Grab ausgehoben haben, stand die Mutter von Miguel Ángel Tobar, eine kleine, grauhaarige Alte, still daneben. Jetzt, da ihr Sohn in dem billigen Teakholzsarg hinabgelassen wird, bricht sie zusammen, schreit, fragt, warum, warum so jung. Warum wieder. Warum noch ein Sohn. Warum noch ein Mord.
Der von der Gemeindeverwaltung gestiftete Sarg hat kein Guckfensterchen. Häufig verzichtet man darauf aus Rücksicht gegenüber den Angehörigen, die keinen verstümmelten Körper in Erinnerung behalten möchten. Bei Miguel Ángel Tobar ist nicht das der Grund. Seine Mörder waren nicht so geschickt wie er im Umgang mit der Pistole. Sie mussten ihre Magazine leeren, um ihn letztlich mit sechs Schüssen niederzustrecken, während er zu flüchten versuchte. Die drei Kugeln, die seinen Kopf durchlöcherten, schlugen an versteckten Stellen ein, hinter dem Ohr. Die Kugeln meinten es gut mit ihm.
Man könnte sagen, dass Miguel Ángel Tobars Bestattung nur fünf Minuten gedauert hat. Die Stunden davor haben dazu gedient, das Grab auszuheben, das Loch zu begutachten und weiterzugraben. Die Stunden davor hatten nichts Feierliches an sich. Es sah aus, als hätten sich Angehörige einer Familie getroffen, um einen Brunnen zu graben. Die schweißgebadeten Männer sprachen über die Tiefe und Breite der Grube, wie Arbeiter, die für jemand anderen ein Haus bauen. Die Frauen brachten die weinenden Kinder zischend zum Schweigen und sahen ihren Männern beim Graben zu.
Doch sobald die sieben Männer beginnen, Seile um den Sarg zu schlingen und ihn hinabzulassen, verwandelt sich die alltägliche Szene unvermittelt in eine Beerdigung von jemandem, den sie geliebt haben.
Die Mutter schreit die ganzen fünf Minuten über. Sie droht ohnmächtig zu werden. Die Frau von Miguel Ángel Tobar, ein vom schlechten Leben gezeichnetes junges Mädchen von achtzehn Jahren, verdrückt eine Träne. Die Frauen übertönen das Weinen ihrer Kinder, indem sie aus vollem Hals evangelikale Kirchenlieder singen. Sie schreien die Worte heraus, die von einem Himmelreich und auch von einem Höllensee sprechen. Die schweißnassen Männer weinen nicht, weil sie nie weinen, senken jedoch ihren Blick.
Fünf Grabsteine weiter sitzen vier Bandenmitglieder auf einem Grab und würfeln. Der Friedhof wird von der Mara Salvatrucha 13 kontrolliert, und das ist kein Geheimnis. Das weiß auch der städtische Friedhofswärter, der jetzt zusieht, wie Miguel Ángel Tobar von anderen beerdigt wird. Auf die Frage »Wer sind die da?« antwortet er wie selbstverständlich: »Das sind die, die hier das Sagen haben.«
Bei der Beerdigung eines Bandenmitglieds, egal von welcher Gang, herrscht Waffenruhe. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Dem, den sie töten wollten, gestatten sie, im Tod seinen Frieden zu finden. Doch heute gilt diese Regel nicht.
Zwei weitere Bandenmitglieder kommen aus den Gassen mit den kleinen Häuschen, die eine Seite des Friedhofs säumen, und gesellen sich zu denen, die auf dem Grab würfeln. Die vier unterbrechen ihr Spiel, stehen auf und beobachten. Ein weiterer taucht auf und geht im Abstand von wenigen Metern an den Trauergästen vorbei. Es ist ein dünner, blasser Junge, der die Galauniform seiner Gang angelegt zu haben scheint: runder schwarzer Chaplin-Hut; weißes, weites T-Shirt in einer schwarzen, ebenfalls weiten Stoffhose, die von einem Strick gehalten wird; weiße Sneakers irgendeiner Billigmarke, die vortäuschen, Domba-Sneakers zu sein. Er spuckt vor den Trauernden aus und sucht herausfordernd den Blick von irgendjemandem aus der Gruppe. Er trifft auf keinen.
Ein Bandenmitglied kommt aus der Schlucht hinter dem Friedhof und baut sich auf der gegenüberliegenden Seite auf. Das Begräbnis ist umstellt. Auf der einen Seite die Häuschen, auf der anderen die Männer neben dem Grab; hier der Dünne, dort die Schlucht.
Die Angehörigen von Miguel Ángel Tobar wissen, dass sie umzingelt sind. »Das sieht übel aus«, murmelt der Schwiegervater mit leerem Blick. Die letzten Schaufeln Erde fallen aufs Grab. Es bleibt keine Zeit, den Hügel festzuklopfen. Miguel Ángel Tobars Grab ist ein unförmiger Erdhaufen. Ohne Grabstein, ohne Kreuz, ohne Inschrift.
Einer der Trauergäste schneidet mit einer Machete von einem Izote-Strauch einen Zweig mit einer Blüte ab, der »Flor de Izote«, der Nationalblume von El Salvador, und steckt ihn in den Erdhaufen. Dann verlässt die kleine Prozession armer Leute eilig den Friedhof. Als sie an den Häuschen vorbeigehen, kommen weitere Bandenmitglieder hinzu und fordern sie auf, stehen zu bleiben. Die Leute eilen weiter. Alle verlassen den Friedhof. Sie zerstreuen sich.
Miguel Ángel Tobar, der Killer der Gang Hollywood Locos Salvatrucha von der Mara Salvatrucha 13, der Mann, der seine Gang verraten hat, ist verabschiedet worden, wie er gelebt hat. In einem Land wie diesem gibt es keinen Frieden für einen Mann wie Miguel Ángel Tobar, El Niño de Hollywood.
Miguel Ángel Tobar war Mitglied der Mara Salvatrucha 13, der zurzeit größten und gefürchtetsten Verbrecherbande der Welt, der einzigen von El Salvador, die, zusammen mit den mexikanischen Zetas und der japanischen Yakuza, auf der schwarzen Liste des Finanzministeriums der Vereinigten Staaten steht. Es ist die Bande, die El Salvador zwei Jahre – 2015 und 2016 – dazu verdammte, das mörderischste Land der Welt zu sein. Zur Verdeutlichung: Mexiko, das Land der Kartelle von Chapo Guzmán und der Zetas, stand unter Schock, als 2015 eine Quote von 18 Morden je 100.000 Einwohner erreicht wurde. El Salvador kam im gleichen Zeitraum auf 103 Morde. In den USA liegt der Anteil gewöhnlich bei rund fünf Morden. Bei mehr als zehn Morden je 100.000 Einwohner spricht man bei den Vereinten Nationen von einer Epidemie. In dem kleinen zentralamerikanischen Land El Salvador wütet also eine entsetzliche Epidemie des Todes.
Wahrscheinlich wäre Miguel Ángel Tobar ohnehin ein gnadenloser Mörder geworden. Vielleicht wäre er am Ende auf jeden Fall ohne Grabstein, in Anwesenheit von Männern, die nicht weinen, und Frauen, die ohnmächtig werden, auf einem staubigen Friedhof im Westen El Salvadors bestattet worden. Möglicherweise wäre all das auch dann passiert, wenn Miguel Ángel Tobar nie etwas von der MS-13 gehört hätte. Doch das war nicht der Fall.
Sie waren füreinander geschaffen. Sie ähnelten sich so sehr…
Bevor Miguel Ángel Tobar El Niño de Hollywood wurde, war er ein verwahrlostes Kind und Halbwaise. Ein Krieg hatte alles zerstört. Als das große Massaker nach zwölf Jahren endete und die sterblichen Überreste der Toten noch warm waren, wurden Hunderte von Männern aus den USA ausgewiesen. Sie kamen mit einem neuen Angebot ins Land.
Die Abgeschobenen, die ersten Gesandten der »Bestie« – wie El Niño de Hollywood die Bande nannte –, boten Miguel Ángel Tobar und Hunderttausenden wie ihm ein neues Leben an, einen neuen Krieg, ein neues Ziel: den Krieg gegen die chavalas,