El Niño de Hollywood. Oscar Martínez

El Niño de Hollywood - Oscar Martínez


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seiner Kinderarmee in einen Abgrund, aus dem es erst 1992 mit mehr als 75.000 Toten und unzähligen Vertriebenen auf dem Konto wieder hervorkriechen sollte.

      Mit den Jungen, die diesem Wahnsinn entronnen waren, wollten die Disco-Jungs der Partygangs von Los Angeles also ihren Puls messen. Sie glaubten, es könnte lustig werden.

       Die Totenwache

      Miguel Ángel Tobar liegt tot im Haus seiner Mutter. Draußen wird gefeiert.

      In Las Pozas, einer Gemeinde im Westen El Salvadors, findet ein Fest statt. Es ist Samstag, der 22. November 2014. Gestern wurde Miguel Ángel Tobar ermordet. Die Menschen feiern den Jahrestag der Gründung der Gemeinde, und die Bezirksverwaltung von San Lorenzo hat eine Tanzveranstaltung organisiert. Eine Plastikplane trennt die, die 50 Centavos Eintritt bezahlt haben, von denen, die nicht gezahlt haben. Aus scheppernden Lautsprechern, die die Musik verzerren, dröhnt Reggaeton. Die Lichter und der Lärm der kleinen Gemeinde heben sich von der vollkommenen Dunkelheit ab, die über den umliegenden Viehweiden und Maisfeldern herrscht. Es weht ein starker Wind. Für salvadorianische Verhältnisse ist es ein kühler Abend.

      Gestern wurde Miguel Ángel Tobar ermordet. Heute wird er zum Rhythmus der evangelikalen Kirchenlieder betrauert. Die Kirchenlieder gehen im Gedröhn des Reggaeton unter, und so wird er in Wahrheit zum Rhythmus des Reggaeton betrauert.

      Es ist zehn Uhr abends, die Männer auf dem Tanzfest sind schon betrunken. Sie fixieren die Leute und lauern auf eine Gelegenheit, eine Schlägerei vom Zaun zu brechen. Sie taumeln über die Tanzfläche, eine Hand am Hut, in der anderen eine Viertelliterflasche Cuatro Ases. Ein dubioser Schnaps: Es ist weder Rum noch Wodka, sondern guaro, Zuckerrohrschnaps. Vier Soldaten halten sich im Dunkeln neben der Bühne auf. Sie werden sich nicht einmischen, es sei denn, irgendjemand zückt eine Machete oder holt eine Pistole oder ein Gewehr hervor. Wegen zwei Betrunkenen, die sich prügeln, werden sie nicht eingreifen.

      Las Pozas besteht aus Erde. Die Straßen sind aus Erde, die Häuser sind aus Erde, und wenn die Erde austrocknet, verwandelt sich die Gemeinde in eine Staubwüste. Dann setzt sich der herumwirbelnde Staub in den Mundwinkeln und den Falten am Hals fest, in den Haaren, im Schweiß, irgendwo, um Halt zu finden. Doch an diesem angenehm kühlen Abend schwitzt niemand.

      In einer der Seitengassen, fast direkt gegenüber der Gemeindeschule, liegt Miguel Ángel Tobar in seinem Geburtshaus in einem Teakholzsarg. Um ihn herum alte Frauen, die unwirsch etwas vor sich hin murmeln. Es sind die obligatorischen Totengebete. Vor dem Sarg sitzt, ganz allein, auf einem Plastikstuhl, seine Mutter und starrt auf den Boden. Sie ist eine kleine Frau, und der Kummer über den ermordeten Sohn scheint sie noch weiter reduziert zu haben. Wenige Monate später wird sie an Krebs sterben.

      Sie weint nicht. Es ist bereits die zweite Totenwache, die sie für einen ihrer Söhne hält. Das zweite Mal, dass sie die Mutter eines Ermordeten ist.

      Der Boden des Hauses ist ebenfalls aus Erde. Das Dach und die Tür sind aus Blech, die Mauern aus nackten Backsteinen. Das Haus besteht aus einem einzigen Raum, in dem drei Betten stehen. Die Betten sind durch aufgehängte Decken voneinander abgetrennt, die verhindern, dass man das andere Bett sehen, aber nicht, dass man hören kann, was dort gesprochen wird. Eines der Betten ist für die Mutter. Der Vater ist nicht mehr da. Er hat sich vor nicht einmal einem Jahr erhängt. Er konnte die Erinnerung an ein Massaker nicht ertragen, bei dem die MS-13 vier seiner Verwandten getötet hatte. Auch den älteren Sohn. Im zweiten Bett schlafen Miguel Ángel Tobars ältere Schwester und ihr Mann. Allerdings sitzt ihr Mann zurzeit wieder mal im Gefängnis, weil er Marihuana aus Guatemala über die Grenze geschmuggelt hat. Im dritten Bett schliefen bis gestern Miguel Ángel, seine junge Frau und seine kleinen Töchter, die eine drei Jahre, die andere drei Monate alt. Die Küche ist überall da, wo Zweige verbrannt werden können. Die Toilette ist ein mit Brettern und Blechplatten überdachtes Kabuff auf dem Hinterhof.

      Auf dem Hinterhof stehen die Männer, etwa zehn, trinken Kaffee und essen süßes Brot, das ihnen von den Frauen gereicht wird. Das süße Brot kommt nicht aus der Bäckerei, ist nur mit Zucker bestreut und nicht mit Zucker gebacken. Die vierzehn Frauen singen und klatschen dazu in die Hände: Die Macht Gottes ist hier unter uns, die Macht Gottes ist hier unter uns. Es ist eine Totenwache auf dem Land: arme Frauen, die fromme Lieder singen, Kaffee im Überfluss, Brot, Zucker und ein Pastor, der gleich ein Gebet sprechen wird.

      Eine ärmliche Totenwache. Es fehlt die gewöhnliche Dramatik der Totenwachen für Bandenmitglieder, bei denen Dutzende von jungen Männern den Angehörigen Spenden überreichen und sich in eine Schlange stellen, um sich nacheinander unter Tränen und Racheschwüren von ihrem homeboy zu verabschieden. Nichts davon heute. Die Totenwache für Miguel Ángel Tobar ist der Abschied von einem Aussätzigen. Keiner seiner ehemaligen Freunde von der Gang kann hier sein, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Die einen hat er umgebracht, die anderen sitzen wegen ihm im Gefängnis.

      Ein Mann schaut durch die offene Tür und fragt etwas, das offensichtlich ist:

      »Liegt hier der Verstorbene?«

      Es handelt sich um den Pastor. Er ist dunkelhäutig und sehr korpulent. Seine Kleidung ist abgetragen, seine Schuhe sind staubbedeckt. Er war fast zwei Stunden unterwegs. Begleitet wird er von zwei Frauen, die Schleier tragen. Der Pastor spricht vom Jenseits. Er verrät keine Einzelheiten, er weiß nicht, wie es im Jenseits aussieht, sagt aber voller Überzeugung, dass es besser sei als dieses Leben. Er nimmt die Bibel in die Hand und spricht ein Gebet, während die Frauen mit geschlossenen Augen unverständliche Worte murmeln. Miguel Ángel Tobars junge Frau ist nervös, steht abseits von den anderen. Sie hat telefonische Morddrohungen erhalten. Sie hat Angst, dass die Kugeln, die ihrem Lebensgefährten gegolten haben, jetzt sie zum Ziel haben werden. Der Pastor beendet sein Gebet. Er sammelt ein paar Dollar von den Trauernden und Besuchern ein. Das ist übliche Praxis bei Priestern, die, anders als die von der Kirche bezahlten Priester, kein Gehalt beziehen. Dieser aber macht etwas Ungewöhnliches: Er geht zu Miguel Ángels Frau und überreicht ihr das eingesammelte Geld. »Das wird dir ein wenig helfen, Mamita«, sagt er zu ihr und verschwindet mit seinen beiden Begleiterinnen in der Dunkelheit der Viehweiden.

      Draußen dröhnt der Reggaeton. In der Gemeinde wird gefeiert. Miguel Ángel Tobars Angehörige haben die Organisatoren gebeten, das Fest um einen Tag zu verschieben, weil das Haus weniger als 100 Meter entfernt ist von der Bühne, auf der Musik gespielt wird. Das war naiv. Niemand würde eine Tanzveranstaltung wegen Miguel Ángel Tobars Tod um vierundzwanzig Stunden verschieben.

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      Miguel Ángel Tobar liegt halb nackt in einem weißen Plastiksack auf einem Zinktisch.

      Aus dem Loch in der Mitte seines Halses sickert noch immer klebriges Blut. Die Leiche ist so frisch, dass es noch nicht ganz geronnen ist. Die Gerichtsmediziner von Santa Ana haben ihm nach der Autopsie alte Boxershorts übergezogen. Die Shorts sind blau, auf dem Bund steht elegant. Von den vier Tattoos ist nur das verzerrte Yin und Yang auf dem rechten Oberschenkel von Blutspritzern verschont geblieben. Die Buchstaben auf seiner Brust, zwischen den beiden Löchern im Hals und dem unter der rechten Brustwarze, sind unleserlich. Auf seinem linken Unterarm ist zwischen frischen Blutspritzern zu lesen: Mein wildes Leben.

      Über die rechte Gesichtshälfte laufen vier Linien, Spuren geronnenen Blutes, von Stirn und Wange zum Haaransatz. Wenn man nicht wüsste, dass er erschossen wurde, könnte man meinen, eine Bestie hätte ihm das Gesicht zerkratzt.

      Er starb mit offenen Augen und gleichgültigem Gesichtsausdruck.

      In einem Anfall von Dummheit war Miguel Ángel Tobar fünf Monate zuvor wie jemand, der nicht sein ganzes Leben im Angesicht des Todes gelebt hat, in das Haus seiner Familie zurückgekehrt, hatte das Zuckerrohrfeld verlassen, in dem er sich monatelang versteckt gehalten hatte. Er war es leid gewesen, wie ein Vagabund zu leben. Er musste seine beiden Töchter ernähren. Er wusste, dass eine Horde Mörder nach ihm suchte, um seinen Verrat zu rächen. Er kannte sie sehr gut. Es waren seine hommies. Er wusste, dass hochrangige Führer der Mara Salvatrucha aus dem Gefängnis heraus seinen


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