El Niño de Hollywood. Oscar Martínez
dem US-amerikanischen Historiker Erik Ching, dem Mann, der mit diesem Thema vielleicht am besten vertraut ist, ermordeten die Ureinwohner während des Aufstands nur um die hundert Personen.
Sie hatten den Staat überrumpelt. Doch was in den darauffolgenden Wochen geschah, ist als die blutigste Epoche El Salvadors in die Geschichte eingegangen. Und das will viel heißen, wenn von El Salvador die Rede ist. Der durch einen Militärputsch an die Macht gelangte Präsident, General Maximiliano Hernández Martínez, rief seinen Kriegsminister, General Calderón, zu sich. Der Befehl war klar und deutlich: Schlagen Sie den Aufstand nieder und sorgen Sie dafür, dass so etwas nie wieder passiert.
Auf einem vergilbten Foto posieren Männer in Jagdkleidung neben einem Karren voller Leichen von Ureinwohnern. Auf einem anderen sieht ein junger Mann voller Entsetzen auf eine Reihe lebloser Körper. Alles Indios. Auf einem dritten Foto liest ein Priester Francisco Sánchez, einem der Ureinwohner, die die Bewegung angeführt hatten, aus einem schwarzen Buch vor. Auf einem weiteren sieht Sánchez, unerschrocken wie immer, direkt in die Kamera, Minuten vor seiner Erschießung. Das nächste Foto zeigt Feliciano Ama barfuß und gefesselt. Ama war das Oberhaupt des bedeutendsten Verbandes der Ureinwohner im Westen El Salvadors und einer der Anführer des Aufstands in der Stadt Izalco. Auf einem weiteren Foto hängt Ama wie eine makabre piñata auf einem sehr traurigen Kindergeburtstag an einem Baum im Stadtzentrum von Izalco. Sie ließen ihn dort hängen, bis er verfaulte, als abschreckendes Beispiel dafür, was mit den Indios passierte, wenn sie nicht gehorchten. Wenn sie keinen Kaffee ernteten.
Zur Erinnerung an diese blutigen Anfänge des Landes feiert die rechtsgerichtete Partei ARENA (Alianza Republicana Nacionalista) seit 1982 bis zum heutigen Tag auf dem Massengrab Hunderter von Leichen von Ureinwohnern in Izalco den Beginn ihrer Wahlkampagne. Dort habe ihr Kampf gegen den Kommunismus seinen Anfang genommen, sagen sie. Und voller Inbrunst singen sie die provokanteste Strophe ihrer Hymne: »El Salvador wird das Grab sein, in dem die Roten enden!«
Mindestens 15.000 Menschen, in der Mehrzahl junge Männer, wurden so im Jahre 1932 innerhalb weniger Monate im Westen El Salvadors ermordet. Und bis zum Jahresende waren es noch viele mehr. Keiner der Morde wurde in die offiziellen Statistiken der Tötungsdelikte aufgenommen.
Roque Dalton, der berühmteste Dichter El Salvadors, Mitglied der Widerstandsbewegung Ejército Revolucionario del Pueblo (Revolutionäre Volksarmee) in den Siebzigerjahren, später auf Befehl der Anführer eben jener Bewegung wegen Rebellion ermordet, schrieb über das Massaker an den Ureinwohnern das Gedicht Todos (»Alle«):
Wir alle wurden 1932 halb tot geboren
wir haben überlebt, aber halb lebendig
jeder von uns mit dreißigtausend Toten auf dem Konto
was die Zinsen anwachsen ließ
die Rendite
und heute den Schatten des Todes auf jene wirft,
die noch geboren werden
halb tot
halb lebendig
Wir alle wurden 1932 halb tot geboren
Salvadorianer sein heißt halb tot sein
das, was sich bewegt
ist die Hälfte des Lebens, die sie uns gelassen haben …
Auf den Plantagen wurde weiter Kaffee angebaut und geerntet. Es wurde exportiert und verdient, immer mehr verdient, und die Haziendas wurden zu kleinen Feudalstaaten. Sie hatten sogar ihre eigene Währung, ihr eigenes Lebensmittelgeschäft, das »Geschäft zum Anschreiben«, und ihre eigenen Regeln. Und sie hatten, wie El Salvador in jenen Jahren, auch ihre eigenen Diktatoren. Die Vorarbeiter wurden zu Halbgöttern. Sie nahmen sich, was sie wollten, auch das, was sich zwischen den Beinen einer Erntearbeiterin befand. Und wenn sich jemand widersetzte, fand er sich am nächsten Morgen mit durchgeschnittener Kehle in irgendeinem Straßengraben wieder.
Die Reichen wurden in den Jahrzehnten nach 1932 immer reicher. Die Armen konnten ärmer nicht werden.
Die Indios sagten, der Kaffee sei eine verfluchte Pflanze, die durch Blut gedeihe. Deswegen, sagten sie, seien die Früchte rot.
Der Junge, der später El Niño de Hollywood werden sollte, flüchtete, enttäuscht von sich selbst, über die Wege der Kaffeeplantage. Doch er hatte etwas bei sich, das für seine Zukunft von unschätzbarem Wert war. Im Gürtel des Mannes, den er gesteinigt hatte, hatte er einen 38er Revolver gefunden.
Die Waffe war für Miguel Ángel nur ein kleiner Trost. Weder hatte er sich an dem Vorarbeiter für dessen Grausamkeit noch für die geschändete Ehre seiner Schwester rächen können.
Miguel Ángels Familie setzte sich aus mehreren Familien zusammen. Die Mutter, Doña Rosa, hatte eine andere Familie verlassen, aus der eine Tochter und zwei Söhne stammten. Zwei weitere Kinder waren vor Vollendung des fünften Lebensjahres gestorben. Wenn man Leute fragt, die die Familie mit den beiden toten Kindern gekannt haben, bekommt man Antworten, die mit wenigen Worten das Ende eines Menschenlebens zu beschreiben versuchen: Sie starben an Masern. Sie starben an Atemnot. Sie starben an Blähungen. Sie starben an Gehirnerweichung. Keiner weiß, woran sie gestorben sind, aber als Kind zu sterben ist normal in diesem Teil der Welt.
Ende der Siebzigerjahre, kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs, als die Herrschaft der Plantagenbesitzer durch die internationale Konkurrenz ins Wanken geriet, lernte Doña Rosa den miquero einer Hazienda kennen, Don Jorge. Miquero sein heißt, wie ein Tier zu arbeiten. Wie ein mico, ein Affe. Die miqueros hatten die Aufgabe, die Schattenbäume zu beschneiden. Schattenbäume müssen sehr hoch sein und dürfen den Kaffeesträuchern die Nährstoffe des Bodens so wenig wie möglich streitig machen. Der miquero klettert, ohne Steigeisen und Handschuhe, nur mit seiner Machete und einem Strick bewaffnet, auf die Balsambäume, Wasserapfelbäume, die Myrtenbäume oder die Lorbeerbäume, auf die sunzas, die matazanos, die nances oder die caimitos. Er beschneidet die Bäume, damit sie Schatten spenden, aber nicht zu viel, und damit sie die Sonnenstrahlen durchlassen, aber nicht zu viele.
Wenn der miquero abstürzt, wie ein Affe eben, ist das sein Problem. Doña Rosa lernte einen miquero kennen, der abstürzte. Alle schrien auf, als Don Jorge vom Baum fiel. Sie brachten ihn in seine Hütte, wo er sich mit viel Ruhe und viel Wasser erholte, so gut es ging. Aber es ging nicht gut, sein linker Arm blieb krumm und war nicht mehr zu gebrauchen. Die gebrochenen Knochen heilten so schlecht zusammen, dass er den Arm nicht mehr strecken konnte. Auch seine Wirbelsäule blieb krumm und schmerzte.
Der miquero wurde Tagelöhner und arbeitete nur noch am Boden. Als Erntearbeiter pflückte er mit einem Arm die Früchte, die im Schatten und im Sonnenlicht heranwuchsen, wofür er gesorgt hatte, bis er sich die Knochen brach.
Doña Rosa und Don Jorge zogen jahrelang von Hazienda zu Hazienda und baten um Arbeit, um welche auch immer. Sie hatten vier Kinder. Sandra, die Älteste, wurde 1979 geboren, Jorge 1981 und Miguel Ángel am 4. Januar 1984. Und ein Mädchen, an dessen Namen sich niemand mehr erinnert. Es starb, als es eineinhalb Jahre alt war. An Masern. Miguel Ángels Mutter, Doña Rosa, war auch Mutter dreier toter Kinder. Miguel Ángels Vater, Don Jorge, war Erbe der ermordeten Indios. Hatte die elende Arbeit, das Leben auf einer Hazienda und die harte Hand der Vorarbeiter von ihnen geerbt.
Sie zogen von Hazienda zu Hazienda, bis man ihnen Anfang der Neunziger die Erlaubnis gab, sich auf einer niederzulassen. Die Hazienda lag in Atiquizaya, in einem Bezirk, der – als handele es sich um einen Scherz – El Paraíso genannt wurde, »das Paradies«.
Don Jorge war Alkoholiker, und Doña Rosas Geist verwirrte sich nach und nach, bis sie am Ende vollkommen den Verstand verlor. Die Kinder wuchsen mehr oder weniger allein auf.
Der Vorarbeiter gab dem verkrüppelten Bauern Arbeit und gestattete ihm sogar, mit seiner kinderreichen Familie auf der Hazienda zu wohnen. Doch bei einem ihrer Besäufnisse mit Zuckerrohrschnaps stellte der Vorarbeiter Don Jorge eine Forderung: Er wollte seine älteste Tochter. Der Vorarbeiter