Archiv der verlorenen Kinder. Valeria Luiselli
doch es war nicht das Problem. Trotzdem bohrten sie weiter. Sie wollten Gründe, Motive, und vor allem wollten sie einen Anfang:
Wann, wann genau?
Ich erinnere mich, dass ich eines Tages, kurz vor dieser Reise, in den Supermarkt ging. Der Junge und das Mädchen stritten sich über die bessere Geschmacksrichtung eines Snacks. Mein Mann beklagte sich, dass ich ein bestimmtes Produkt ausgewählt hatte, vielleicht Milch, vielleicht Waschmittel, vielleicht Pasta. Ich entsinne mich, dass ich mir zum ersten Mal seit unserem Zusammenleben vorstellte, wie es wäre, nur für das Mädchen und mich einzukaufen, in einer Zukunft, in der wir keine vierköpfige Familie mehr wären. Ich entsinne mich an mein fast augenblickliches Reuegefühl bei diesen Gedanken. Und dann ein viel tieferes Gefühl – vielleicht Trauer um die Zukunft oder vielleicht eine innere melancholische Leere, die Gegenwärtiges aufsaugt und Abwesenheit verbreitet –, als ich das von dem Jungen ausgewählte Shampoo, Vanilleduft für den täglichen Gebrauch, auf das Förderband legte.
Aber es war bestimmt nicht an diesem Tag im Supermarkt, dass ich begriff, was mit uns geschah. Anfang, Mitte und Ende sieht man immer erst rückblickend. Wenn wir gezwungen sind, im Nachhinein mit einer Geschichte aufzuwarten, beschränkt sich unsere Erzählung selektiv auf die wichtigen Momente und umgeht alle anderen.
Das Mädchen ist fertig mit seiner Zeichnung und zeigt sie mir zufrieden. In das erste Quadrat hat sie einen Hai gemalt. Im zweiten ist der Hai unter Wasser von anderen Meerestieren und Algen umgeben, die Sonne ganz oben in einer Ecke. Im dritten Quadrat betrachtet der Hai verstört eine Art Unterwasserkiefer. Im vierten und letzten beißt der Hai einen anderen großen Fisch, vielleicht ebenfalls ein Hai, den er wahrscheinlich auffrisst.
Und wie geht die Geschichte dazu?
Sag du’s mir, Mama, rate.
Also, erstens ist da ein Hai; zweitens ist er im Meer, wo er lebt; drittens ist das Problem, dass es nur Bäume zu fressen gibt, und ein Hai ist kein Vegetarier; und viertens findet er schließlich Futter und frisst es auf.
Nein, Mama. Ganz falsch. Haie fressen keine Haie.
Okay. Was ist dann die Geschichte? frage ich sie.
Die Geschichte ist, Figur: ein Hai. Schauplatz: das Meer. Problem: Der Hai ist traurig und verwirrt, weil ein anderer ihn gebissen hat, deshalb geht er zu seinem Nachdenk-Baum. Lösung: Er trifft eine Entscheidung.
Und welche?
Dass er den anderen Hai nur zurückbeißen muss, weil der ihn gebissen hat.
CHAOS
Der Junge und sein Vater wachen schließlich auf, und beim Frühstück besprechen wir unsere Pläne. Mein Mann und ich finden, dass wir weiter müssen. Die Kinder beklagen sich und wollen länger bleiben. Das ist kein normaler Urlaub, erinnern wir sie; wir können zwar gelegentlich anhalten und etwas Schönes unternehmen, aber wir müssen beide arbeiten. Ich muss anfangen, Material für meine Dokumentation zu sammeln. Den Radionachrichten und meinen Netzrecherchen zufolge spitzt sich die Lage im Süden an der Grenze mit jedem Tag zu. Mit Unterstützung der Gerichte hat die Regierung soeben die Schaffung einer Prioritätenliste für Kinder ohne Papiere angekündigt, und das heißt, dass Kinder, die an der Grenze ankommen, vorrangig abgeschoben werden. Die Bundeseinwanderungsgerichte werden die Bearbeitung ihrer Fälle allen anderen vorziehen, und wenn sie keinen Anwalt finden, der sie innerhalb der absurd kurzen Frist von einundzwanzig Tagen verteidigt, haben sie keine Chance und erhalten von einem Richter einen endgültigen Abschiebungsbefehl.
Natürlich erzähle ich das nicht alles den Kindern. Aber dem Jungen erkläre ich, dass mein aktuelles Projekt zeitempfindlich ist und ich so schnell wie möglich zur Grenze im Süden muss. Mein Mann hingegen möchte so bald wie möglich nach Oklahoma, um einen Apachen-Friedhof zu besuchen. Der Junge wirft uns im Tonfall einer kleinbürgerlichen Hausfrau aus den 1950ern vor, dass wir immer »die Arbeit vor die Familie stellen«. Wenn er älter ist, erwidere ich, wird er verstehen, dass beides nicht voneinander zu trennen ist. Er verdreht die Augen, findet mich berechenbar und selbstbezogen – zwei Adjektive, die ich von ihm noch nie gehört habe. Ich tadle ihn und sage, er und seine Schwester sollen das Frühstücksgeschirr abwaschen.
Erinnerst du dich noch, als wir andere Eltern hatten? fragt er sie, als die beiden mit dem Abwasch und wir mit dem Packen anfangen.
Wie meinst du das? antwortet sie verwirrt und reicht ihm das Spülmittel.
Wir hatten mal Eltern, die besser waren als unsere jetzigen.
Ich höre ihm zu, wundere mich und mache mir Sorgen. Ich würde ihm gern sagen, dass ich ihn liebe, bedingungslos, dass er mir nichts beweisen muss, dass ich seine Mutter bin und ihn immer in meiner Nähe haben will, und dass auch ich ihn brauche. Das alles sollte ich ihm sagen, aber wenn er sich verhält wie jetzt, werde ich distanziert, zurückhaltend und vielleicht sogar ziemlich kalt. Es ärgert mich, dass ich seine Wut nicht beschwichtigen kann. Normalerweise wende ich es nach außen, wenn ich durcheinander bin, und schimpfe ihn für Kleinigkeiten: Zieh deine Schuhe an, kämm dir die Haare, heb diese Tasche auf. Sein Vater behält seinen Ärger meistens für sich, er schimpft ihn nicht, sagt und tut nichts. Er wird nur passiv – ein trauriger Betrachter unseres Familienlebens, als sehe er einen Stummfilm in einem leeren Kino.
Als wir den Jungen kurz vor der Abfahrt bitten, beim Einräumen der Sachen im Kofferraum zu helfen, kriegt er einen noch größeren Wutanfall. Er sagt schreckliche Dinge, wünscht sich, er könne in einer anderen Welt und einer besseren Familie leben. Wahrscheinlich glaubt er, wir sind nur dazu da, um ihn unglücklich zu machen: Iss dieses Spiegelei, das dich ekelt; los jetzt, beeil dich; lerne auf diesem Fahrrad zu fahren, vor dem du Angst hast; zieh diese Hose an, die wir dir gekauft haben, obwohl sie dir nicht gefällt – sie war teuer, sei gefälligst dankbar; spiel mit diesem Jungen im Park, der dir vorübergehend Freundschaft und seinen Ball anbietet; sei normal, sei glücklich, sei ein Kind.
Er schreit immer lauter und wünscht, wir wären weg, wir wären tot, und tritt gegen die Autoreifen, schmeißt mit Steinen und Kies. Wenn er sich so in Rage redet, klingt seine Stimme für mich weit weg, unnahbar, fremd, als hörte ich sie auf einem alten analogen Tonbandgerät, durch Metalldrähte und mit Störgeräuschen, oder als wäre ich eine Telefonistin und lauschte ihm in einem weit entfernten Land. Irgendwo im Hintergrund erkenne ich noch den vertrauten Klang seiner Stimme, aber ich bin mir nicht sicher, ob er unsere Nähe sucht und sich nach Liebe und ungeteilter Aufmerksamkeit sehnt oder ob er uns zu verstehen gibt, wir sollen wegbleiben, uns aus seinem zehn Jahre alten Leben scheren und ihn aus unserem kleinen Familienkreis herauswachsen lassen. Ich höre zu, wundere mich und mache mir Sorgen.
Sein Anfall geht so lange, bis sein Vater schließlich die Geduld verliert, zu ihm geht, ihn fest an den Schultern packt und schreit. Der Junge windet sich aus seinem Griff, tritt gegen seine Knöchel und Knie – die Tritte sollen nicht schaden oder wehtun, aber es sind Tritte. Als Reaktion nimmt sein Vater seine Mütze ab und haut ihn damit ein paar Mal auf den Hintern. Die Strafe ist nicht schmerzhaft, aber für einen Zehnjährigen ist es demütigend, mit einer Mütze versohlt zu werden. Die Folge ist absehbar, aber auch entwaffnend: Tränen, Schniefen, Schluchzer und gestottertes okay, tut mir leid, schon gut.
Als der Junge sich endlich beruhigt hat, geht seine Schwester zu ihm und fragt, leicht hoffnungsvoll und leicht zögernd, ob er ein bisschen mit ihr spielen will. Sie braucht die Bestätigung, dass er und sie noch immer ein Leben teilen, in dem sie zusammen sind, unauflösbar verbunden, trotz der beiden Eltern und ihrer Fehler. Freundlich, aber bestimmt gibt der Junge ihr zunächst einen Korb:
Lass mich eine Weile allein.
Doch letztendlich ist er immer noch klein und immer noch empfänglich für unsere zerbrechlichen, privaten Familienmythologien. Als sein Vater vorschlägt, die Abfahrt aufzuschieben und vorher noch das Apachen-Spiel zu spielen, ist der Junge überglücklich. Er sammelt Federn, holt seinen Plastikbogen samt Pfeilen, putzt seine Schwester als Indianerprinzessin heraus, bindet ihr einen Baumwollgürtel um den Kopf, nicht zu fest und nicht zu locker, und rennt dann wie ein verrücktes Kind heulend im Kreis herum, wild und unbeschwert. Er erfüllt unser Leben mit seinem Atem, mit seiner plötzlichen Wärme, mit seiner besonderen Art, in lautes Lachen auszubrechen.
ARCHIV