Archiv der verlorenen Kinder. Valeria Luiselli

Archiv der verlorenen Kinder - Valeria  Luiselli


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Pässe. Und immer ohne Landkarte. Sie müssen Staatsgrenzen und Flüsse überqueren, Wüsten und Schrecken durchstehen. Und wenn sie endlich ankommen, sagt man ihnen, sie sollen warten, und lässt sie im Ungewissen.

      Hast du eigentlich was von Manuela und ihren zwei Mädchen gehört? fragt mein Mann.

      Ich verneine, nichts. Als ich das letzte Mal von ihr hörte, kurz vor unserer Abreise aus New York, waren ihre Mädchen noch immer in einer Unterkunft in New Mexico und warteten auf die gesetzliche Erlaubnis, zu ihrer Mutter geschickt zu werden, oder auf den endgültigen Abschiebungsbescheid. Ich habe mehrmals versucht, sie anzurufen, aber sie geht nicht ran. Wahrscheinlich wartet sie immer noch auf eine Nachricht, was mit ihren Töchtern geschieht, und hofft, dass man ihnen Flüchtlingsstatus gewährt.

      Was bedeutet »Flüchtling«, Mama? fragt das Mädchen von hinten.

      Ich suche nach möglichen Antworten. Ich nehme an, jemand, der flüchtet, ist noch kein Flüchtling. Ein Flüchtling ist jemand, der schon irgendwo angekommen ist, in einem fremden Land, aber noch unbestimmte Zeit warten muss, bevor er tatsächlich ganz angekommen ist. Flüchtlinge warten in Untersuchungsgefängnissen, Notunterkünften oder Lagern; in Bundeshaft und unter der Aufsicht von bewaffneten Männern. Sie warten in langen Schlangen auf Essen, auf ein Bett zum Schlafen, warten mit erhobenen Händen, um zu fragen, ob sie die Toilette benutzen dürfen. Sie warten darauf, dass man sie freilässt, auf einen Telefonanruf, auf jemanden, der nach ihnen fragt oder sie abholt. Und dann gibt es Flüchtlinge, die das große Glück haben, endlich wieder mit ihren Familien vereint zu sein und in einem neuen Zuhause zu leben. Aber selbst die müssen weiter warten. Sie warten auf die Mitteilung, vor Gericht zu erscheinen, auf den Gerichtsentscheid, ob sie abgeschoben werden oder ob man ihnen Asyl gewährt, auf die Nachricht, wo sie am Ende leben werden und unter welchen Umständen. Sie warten darauf, dass eine Schule sie aufnimmt, dass sich ihnen eine Arbeitsmöglichkeit bietet, dass ein Arzt sie untersucht. Sie warten auf Visa, Dokumente, Erlaubnis. Sie warten auf einen Hinweis, auf Anordnungen, und dann warten sie weiter. Sie warten auf die Wiederherstellung ihrer Würde.

      Was heißt es, ein Flüchtling zu sein? Wahrscheinlich könnte ich dem Mädchen antworten:

      Ein Flüchtlingskind ist jemand, der wartet.

      Stattdessen lautet meine Antwort, dass ein Flüchtling jemand ist, der ein neues Zuhause suchen muss. Dann suche ich, um die Unterhaltung etwas abzumildern und sie von alldem abzulenken, nach einer Playlist und drücke die Zufallswiedergabe. Und als würde eine Strömung über uns hinwegspülen, wird augenblicklich alles in eine unbeschwertere Wirklichkeit zurückgeschoben oder zumindest in eine überschaubarere Unwirklichkeit:

      Von wem ist dieser Fa-fa-fa-fa-fa-Song? fragt das Mädchen.

      Talking Heads.

      Haben die auch Haare?

      Ja, klar.

      Lange oder kurze?

      Kurze.

      Unser Tank ist fast leer. Wir müssen einen Umweg fahren und eine Stadt suchen, sagt mein Mann, in der es eine Tankstelle gibt. Ich hole die Karte aus dem Handschuhfach und studiere sie.

      GLAUBHAFTE ANGST

      Wenn Kinder ohne Papiere die Grenze erreichen, werden sie von einem Officer der Border Patrol verhört. Man nennt diese Befragung »credible fear interview« und will damit feststellen, ob das Kind triftige Gründe hat, Asyl in dem Land zu suchen. Gestellt werden immer die halbwegs gleichen Fragen:

      Warum bist du in die Vereinigten Staaten gekommen?

      Wann genau hast du dein Land verlassen?

      Warum hast du dein Land verlassen?

      Hat dir jemand gedroht, dich umzubringen?

      Hast du Angst, in dein Land zurückzukehren? Warum?

      Ich stelle mir die vielen Kinder vor, die ohne Papiere in den Händen eines Schleppers Mexiko durchqueren, auf den Dächern von Zugwaggons, wo sie versuchen, nicht herunterzufallen, nicht in die Fänge der Einwanderungsbehörde oder von Drogenbossen zu geraten, die sie in den Mohnfeldern versklaven würden, sofern sie sie nicht umbringen. Wenn die Kinder es an die amerikanische Grenze schaffen, versuchen sie sich zu stellen, aber wenn sie keinen Officer der Border Patrol finden, laufen sie in die Wüste. Wenn sie einen Officer finden oder von einem gefunden werden, nimmt man sie in Gewahrsam und unterzieht sie einer Befragung:

      Warum bist du in die Vereinigten Staaten gekommen?

      Vorsicht! rufe ich und blicke von der Karte auf die Straße. Mein Mann reißt das Steuer herum. Das Auto schlingert ein wenig, aber er bringt es wieder unter Kontrolle.

      Konzentrier dich einfach auf die Karte, und ich konzentriere mich auf die Straße, sagt mein Mann und wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn.

      Okay, antworte ich, aber du wärst fast gegen diesen Stein oder Waschbären oder was das war gefahren.

      Herrgott, sagt er.

      Herrgott was?

      Herrgott noch mal, sagt er.

      Was?

      Führ uns einfach zur nächsten Tankstelle.

      Das Mädchen nimmt grummelnd den Daumen aus dem Mund, schnaubt und sagt, wir sollen damit aufhören, unterbricht unser formloses, exzentrisches, ungrammatikalisches Gekläffe mit der Entschlossenheit ihres gesitteten Ärgers. Ohne die Fassung zu verlieren, setzt sie tief und müde seufzend einen Punkt in unseren Wortwechsel und räuspert sich. Wir verstummen. Und als sie merkt, dass sie unsere volle, stille, zerknirschte Aufmerksamkeit hat, gibt sie uns, als Zusammenfassung ihrer Intervention, einen letzten Rat. Manchmal spricht sie mit uns – obwohl sie noch keine sechs ist, immer noch Daumen lutscht und gelegentlich ins Bett macht – mit derselben versöhnlichen Haltung, die Psychiater ausstrahlen, wenn sie ihren wankelmütigen Patienten Rezepte ausstellen:

      Hör zu, Papa. Ich glaube, es wird Zeit, dass du eine von deinen Kippen rauchst. Und du, Mama, du musst dich nur auf deine Karte und auf dein Radio konzentrieren. Okay? Ihr müsst jetzt beide mal das ganze Bild im Blick haben.

      FRAGEN & ANTWORTEN

      Niemand sieht die ganze Karte, weder historisch noch geografisch, wenn es um die Migrationswege einer Flüchtlingspopulation geht. Für die meisten Menschen sind Flüchtlinge und Migranten ein ausländisches Problem. Die wenigsten begreifen Migration als eine schlichte nationale Realität. Bei meiner Suche im Netz zur Krise der Kinder stoße ich auf einen mehrere Jahre alten Artikel aus der New York Times mit der Überschrift »Kinder an der Grenze«. Der Artikel ist im Frage-Antwort-Stil verfasst, allerdings stellt der Autor die Fragen und beantwortet sie selbst. Auf die Frage, woher die Kinder kommen, antwortet der Autor, dass drei Viertel aus »vorwiegend armen und gewaltgeprägten Städten« in El Salvador, Guatemala und Honduras kommen. Bedenklich finde ich die Worte »vorwiegend arme und gewaltgeprägte Städte« und die möglichen Folgerungen dieser schematischen Art der geografischen Zuordnung der Kinder, die in die Vereinigten Staaten abwandern. Diese Kinder, scheint diese Formulierung nahezulegen, sind uns vollkommen fremd. Sie kommen aus einer barbarischen Realität. Sie sind außerdem höchstwahrscheinlich nicht weiß. Auf die Frage, warum die Kinder nicht sofort abgeschoben werden, wird dem Leser erzählt: »Laut einem parteiübergreifend verabschiedeten Statut gegen den Menschenhandel … dürfen Minderjährige aus Zentralamerika nicht sofort abgeschoben werden und haben das Recht auf eine Anhörung vor Gericht, bevor sie abgeschoben werden. Eine Richtlinie der Vereinigten Staaten gestattet es, dass mexikanische Minderjährige, die beim Überqueren der Grenze aufgegriffen werden, unverzüglich zurückgeschickt werden.« Allein dieses Wort »gestattet« im letzten Satz! Man könnte meinen, der Autor wollte mit seiner Antwort auf die Frage »Warum werden die Kinder nicht sofort abgeschoben?« Trost spenden, indem er sagt, keine Sorge, zumindest die mexikanischen Kinder behalten wir nicht, denn zum Glück gibt es eine Richtlinie, die es uns gestattet, sie unverzüglich zurückzuschicken. Auch Manuelas Mädchen wären sofort zurückgeschickt worden, hätte ein freundlicher Officer sie nicht im Land gelassen. Aber wie viele Kinder werden zurückgeschickt, ohne auch nur die Chance zu erhalten, ihre glaubhaften oder nicht glaubhaften


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