Archiv der verlorenen Kinder. Valeria Luiselli
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§ ZEHN BÜCHER
Das Museum der bedingungslosen Kapitulation, Dubravka Ugrešić
Wiedergeboren, 1947–1963, Susan Sontag
Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke, 1964–1980, Susan Sontag
The Collected Works of Billy the Kid, Michael Ondaatje
Relocated: Twenty Sculptures by Isamu Noguchi from Japan, Isamu Noguchi, Thomas Messer und Bonnie Rychlak
Rundfunkarbeiten, Walter Benjamin
Tagebuch der Falschmünzer, André Gide
Dada aus dem Koffer. Die verkürzte Geschichte der tragbaren Literatur, Enrique Vila-Matas
Perpetual Inventory, Rosalind E. Krauss
The Collected Poems of Emily Dickinson
§ ORDNER (FAKSIMILE-KOPIEN, ZEITUNGSAUSSCHNITTE, FRAGMENTE)
Die Ordnung der Klänge, R. Murray Schafer
Grafische Darstellung von Walgesängen (in Schafer)
Smithsonian Folkways Recordings World of Sound Catalog #1
»Uncanny Soundscapes: Towards an Inoperative Acoustic Community«, Iain Foreman, Organised Sound 16 (03)
»Voices from the Past: Compositional Approaches to Using Recorded Speech«, by Cathy Lane, Organised Sound 11 (01)
WEGE & WURZELN
Buscar las raíces no más que una forma
subterránea de andarse por las ramas.
(Die Suche nach den Wurzeln ist nur der latente Versuch, das eigentliche Thema zu umgehen.)
JOSÉ BERGAMÍN
Wenn du dich unterwegs verirrst
Läufst du ins Ungewisse
FRANK STANFORD
SARGASSOSEE
Es ist nach Mittag, als wir schließlich das Aquarium in Baltimore erreichen. Der Junge führt uns durch die Menge direkt zum Hauptbecken, wo die Riesenschildkröte ist. Wir müssen stehen bleiben und zusehen, wie das traurige, schöne Tier pausenlos durch sein Wasserrevier paddelt und dabei an die Seele einer schwangeren Frau erinnert – ruhelos, unpässlich, gefangen in der Zeit. Nach ein paar Minuten fällt dem Mädchen die fehlende Flosse auf:
Wo ist ihr anderer Arm? fragt sie entsetzt ihren Bruder.
Diese Schildkröten brauchen nur eine Flosse, darum haben sie im Lauf der Zeit nur eine entwickelt, und das nennt man Darwinismus, erklärt er.
Wir sind nicht sicher, ob seine Antwort ein Zeichen von plötzlicher Reife ist, die seine Schwester vor der Wahrheit schützen soll, oder ein falsches Verständnis der Evolutionstheorie. Wahrscheinlich Letzteres. Wir lassen es so stehen. Der Wandtext, den wir alle lesen können, nur das Mädchen nicht, liefert die Erklärung, dass die Schildkröte ihre Flosse im Long Island Sound verlor, wo sie vor elf Jahren gerettet wurde.
Elf: Mein Alter plus eins! sagt der Junge mit heller Begeisterung, die er normalerweise unterdrückt.
Während ich dastehe und die gewaltige Schildkröte beobachte, fällt es mir schwer, sie nicht als Metapher für etwas zu sehen. Doch bevor ich herausfinde, wofür, fängt der Junge an, uns zu aufzuklären. Schildkröten wie Calypso, sagt er, werden an der Ostküste geboren und schwimmen sofort in den Atlantik hinaus, ganz allein. Manchmal kehren sie erst nach zehn Jahren in Küstengewässer zurück. Die Schlüpflinge beginnen ihre Reise im Osten und werden mit den warmen Strömungen des Golfstroms ins Tiefe getragen. Irgendwann erreichen sie die Sargassosee, deren Name, so der Junge, von den enormen Mengen der Sargassum-Alge stammt, die dort fast bewegungslos umhertreiben, gefangen von Strömungen, die sich im Uhrzeigersinn drehen.
Das Wort Sargasso ist mir nicht unbekannt, aber ich wusste nie, was es bedeutet. In einem Gedicht von Ezra Pound, an dessen Titel ich mich nicht erinnere, heißt es in einer Zeile, aus der ich nie so recht schlau wurde: »Dein Verstand und du sind unsere Sargassosee.« Während der Junge über die Schildkröte und ihre Reise in die Gewässer des Nordatlantiks weiterdoziert, gerate ich ins Grübeln. Dachte Pound bei dieser Zeile an Unfruchtbarkeit? Dachte er an Verschwendung? Steht das Bild für ein Schiff, das durch Jahrhunderte von Müll fährt? Oder geht es nur um den menschlichen Geist, der in sinnlos kreisenden Gedanken gefangen ist, unfähig, sich jemals von destruktiven Mustern zu lösen?
Bevor wir das Aquarium verlassen, will der Junge sein erstes Polaroid-Bild machen. Sein Vater und ich müssen uns vor das Hauptbecken stellen, mit dem Rücken zur Schildkröte. Er hält seine neue Kamera fest. Das Mädchen steht neben ihm – sie hält eine unsichtbare Kamera –, und während wir erstarren und sie verlegen anlächeln, betrachten sie uns, als wären wir die Kinder und sie die Eltern:
Sagt cheese.
Wir grinsen und sagen:
Cheese.
Cheese.
Aber das Bild kommt cremeweiß heraus, als zeige es unsere Zukunft und nicht die Gegenwart. Oder vielleicht ist es kein Bild unserer greifbaren Körper, sondern unserer Gedanken, die sich verloren im Kreis drehen – und fragen warum, denken wohin, sagen was jetzt?
LANDKARTEN
Hätten wir unser Leben in der Stadt festgehalten und eine Karte der täglichen Wege und Abläufe gezeichnet, dann sähe sie völlig anders aus als die Straßenkarte, der wir jetzt durch dieses weite Land folgen. Unser Alltag in der Stadt zog Linien, die sich nach außen verzweigten – Schule, Arbeit, Einkaufen, Termine, Treffen, Buchladen, Deli, Notar, Arztpraxis –, aber diese Linien verliefen immer im Kreis und kehrten am Ende des Tages zu einem einzigen Punkt zurück. Dieser Punkt war die Wohnung, in der wir vier Jahre zusammengelebt hatten. Ein kleiner, aber lichter Raum, in dem wir eine Familie geworden waren. Der Mittelpunkt, den wir jetzt plötzlich verloren hatten.
Obwohl wir im Auto nah beisammensitzen, sind wir vier unverbundene Punkte – jeder auf seinem Platz, in eigene Gedanken versunken, beschäftigt mit unterschiedlichen Stimmungen und unausgesprochenen Ängsten. Auf dem Beifahrersitz studiere ich mit einem Bleistift in der Hand die Karte. Ein Netz von Autobahnen und Straßen überzieht das gewaltige, mehrfach gefaltete Stück Papier (es ist eine Karte vom ganzen Land, zu groß, um sie im Auto auszubreiten). Ich folge langen Linien, rot, gelb, oder schwarz, zu schönen Namen wie Memphis, zu unpassenden Namen wie Truth or Consequences oder Shakespeare, zu alten Namen, die durch neue Mythologien mittlerweile neue Bedeutung erlangt haben: Arizona, Apachen, Cochise Stronghold. Und wenn ich von der Karte aufblicke, sehe ich vor mir die lange gerade Straße, die uns in eine ungewisse Zukunft führt.
AKUSTEMOLOGIE
Klang und Raum sind auf eine weitaus tiefere Weise miteinander verbunden, als wir gewöhnlich annehmen. Wir erkennen, verstehen und fühlen unseren Weg im Raum durch Töne und Klänge – die offensichtliche Verbindung zwischen beidem –, aber wir erfahren Raum auch durch die vorhandenen Neben- und Hintergrundgeräusche. Für uns als Familie war es immer das Radio, das den dreifachen Übergang vom Schlaf, in dem jeder allein war, zu unserem engen Beisammensein am frühen Morgen und schließlich zur weiten Welt außerhalb unseres Heims darstellte. Den Klang des Radios kennen wir besser als alles andere. Es war das Erste, was wir jeden Morgen in unserer Wohnung in New York hörten, wenn mein Mann aufstand und es einschaltete. Wir hörten seinen Klang, der irgendwo tief in unseren Kissen oder in unseren Gedanken nachhallte, standen auf und gingen langsam in die Küche. Dann wurde der Morgen von Meinungen, Dringlichkeit, Fakten und dem Geruch von Kaffeebohnen erfüllt, während wir alle am Tisch saßen und sagten: