Archiv der verlorenen Kinder. Valeria Luiselli
Hast du das eben gehört?
Schreckliche Nachrichten.
Wenn wir jetzt im Auto durch dichter besiedelte Gegenden fahren, suchen wir eine Radiofrequenz und schalten ein. Bei jeder Nachricht über die Lage an der Grenze drehe ich lauter und wir hören zu: Hunderte Kinder kommen jeden Tag allein an, Tausende jede Woche. Die Ansager sprechen von einer Einwanderungskrise. Einen Massenzustrom von Kindern, nennen sie es, eine plötzliche Welle. Sie besitzen keine Papiere, sind Illegale, Fremde, sagen einige. Sie sind Flüchtlinge, haben einen Rechtsanspruch auf Schutz, argumentieren andere. Laut diesem Gesetz steht ihnen Schutz zu; ein anderer Zusatz spricht ihnen diesen Schutz ab. Der Kongress ist gespalten, die öffentliche Meinung ebenfalls, die Presse blüht bei diesem Überschuss von Kontroversen förmlich auf, Non-Profit-Organisationen machen Überstunden. Jeder hat eine Meinung zu dem Thema; niemand kann sich auf etwas einigen.
VORAHNUNG, DIESER LANGE SCHATTEN
Wir beschließen, heute und an den folgenden Tagen nur bis Einbruch der Dunkelheit zu fahren. Nicht länger. Sobald das Licht schwindet, werden die Kinder schwierig. Sie spüren das Ende des Tages, und die Vorahnung längerer Schatten, die sich über die Welt senken, verändert ihre Stimmung, drängt ihre weicheren Tagespersönlichkeiten in den Hintergrund. Der Junge, normalerweise so sanftmütig, wird launisch und gereizt; das Mädchen, immer begeistert und vor Leben strotzend, wird anstrengend und leicht melancholisch.
JUKEBOXES & SÄRGE
Die Stadt in Virginia heißt Front Royal. Die Sonne geht unter, und in der Tankstelle, wo wir angehalten haben, um den Tank aufzufüllen, läuft in voller Lautstärke irgendein weißer reaktionärer Song. Die Kassiererin bekreuzigt sich rasch und vermeidet Augenkontakt, als wir 66,60 Dollar zahlen müssen. Eigentlich hatten wir vor, ein Restaurant oder Diner zu suchen, doch nach diesem Stopp wollen wir lieber unbemerkt weiterfahren. Keine zwei Kilometer von der Tankstelle entfernt entdecken wir ein Motel 6 und biegen auf den Parkplatz ein. Bezahlt wird im Voraus, in der Rezeption gibt es durchgehend Kaffee, und ein langer, kalter Flur führt zu unserem Zimmer. Wir haben nur das Nötigste aus dem Kofferraum mitgenommen. Beim Öffnen der Tür empfängt uns ein Zimmer, dessen Licht selbst einen seelenlosen Raum wie diesen in eine schöne Kindheitserinnerung verwandelt: blumenbedruckte, fest unter die Matratze gezurrte Bettlaken, durch einen Spalt der grünen Samtvorhänge fällt ein Sonnenstrahl, in dem Staubpartikel schweben.
Die Kinder nehmen das Zimmer sofort in Beschlag, springen zwischen den beiden Betten hin und her, schalten den Fernseher ein und wieder aus, trinken Wasser aus der Leitung. Zum Abendessen gibt es trockenes Müsli aus der Schachtel, das wir uns auf der Bettkante sitzend schmecken lassen. Als wir fertig sind, wollen die Kinder ein Bad nehmen. Ich lasse die Wanne halb volllaufen, dann gehe ich nach draußen zu meinem Mann und lasse die Tür einen Spaltbreit offen, falls eines der Kinder nach uns ruft. Bei den vielen kleinen Verrichtungen im Bad brauchen sie oft Hilfe. Zumindest was Waschgewohnheiten angeht, empfinde ich Elternschaft manchmal wie das Lehren einer ausgestorbenen, komplizierten Religion. Sie beruhen eher auf Ritualen als auf logischen Prinzipien, auf Glauben als auf Vernunft: dreh den Deckel von der Zahnpastatube so ab, dann drückst du von unten; nimm nur ein paar Blatt Toilettenpapier, dann faltest du es entweder so oder du zerknüllst es vor dem Abwischen; gib das Shampoo erst auf die Hand, nicht direkt auf den Kopf; zieh den Stöpsel erst aus der Wanne, wenn du rausgestiegen bist.
Mein Mann hat seine Aufnahmegeräte bei sich und sitzt mit hochgehaltener Tonangel neben unserer Zimmertür. Ich setze mich leise zu ihm, um ihn nicht zu stören. Mit dem Rücken an der Wand sitzen wir im Schneidersitz auf dem Steinboden. Wir öffnen Bierdosen und drehen Zigaretten. Im Zimmer nebenan bellt ununterbrochen ein Hund. Vier Türen weiter erscheint ein Mann mit seiner jugendlichen Tochter. Er ist kräftig und geht behäbig; sie hat Spargelbeine, trägt nur einen Badeanzug und eine offene Jacke. Sie gehen zu einem vor der Tür geparkten Pick-up und steigen ein. Als der Motor röhrt, hört der Hund auf zu bellen, um dann noch ängstlicher wieder anzufangen. Ich nippe an meinem Bier und sehe zu, wie der Pick-up wegfährt. Das Bild dieser beiden Fremden – Vater, Tochter, keine Mutter –, die in einen Pick-up steigen und vermutlich in ein Schwimmbad in einer nahe gelegenen Stadt fahren, erinnert mich an einen Satz, den Jack Kerouac mal über Amerikaner sagte: Wenn man sie gesehen hat, »weiß man nicht mehr, was trauriger ist, eine Jukebox oder ein Sarg«. Vielleicht war es auch nur Kerouacs Kommentar über die Fotos in Robert Franks Buch The Americans und nicht über Amerikaner im Allgemeinen. Mein Mann schneidet noch ein paar Minuten lang das Hundegebell mit, bis wir, von den Kindern gerufen – sie brauchen dringend Hilfe bei Zahnpasta und Handtüchern –, zurück ins Zimmer gehen.
KONTROLLPUNKT
Da ich weiß, dass ich nicht schlafen kann, gehe ich, als die Kinder endlich im Bett liegen, durch den langen Flur nach draußen zum Auto und öffne den Kofferraum. Ich stehe vor unserem tragbaren Chaos und betrachte es, als läse ich ein Inhaltsverzeichnis, um zu entscheiden, welche Seite ich aufschlagen soll.
Auf der linken Seite des Kofferraums sind ordentlich gestapelt unsere Schachteln, fünf enthalten unser Archiv – wobei unser Chaos ein Archiv zu nennen optimistisch ist –, plus die beiden leeren Schachteln für das künftige Archiv der Kinder. Ich werfe einen Blick in die Schachteln I und II meines Mannes. Einige Bücher gehen ums Dokumentieren oder um Archivführung und -nutzung während des Dokumentationsprozesses, dann ein paar Fotobände. In Schachtel II entdecke ich Sally Manns Unmittelbare Familie. Ich setze mich auf den Randstein und blättere es durch. Ich mochte immer ihre Sicht auf Kinder und was sie mit Kindheit verbindet: Kotze, blaue Flecken, Nacktheit, nasse Betten, trotzige Blicke, Verwirrung, Unschuld, ungebändigte Wildheit. Mir gefällt außerdem die Spannung in ihren Bildern, eine Spannung zwischen Dokument und Erfindung, zwischen dem Einfangen eines einmaligen flüchtigen Augenblicks und einem inszenierten Augenblick. Irgendwo schrieb sie, dass Fotos ihre eigenen Erinnerungen schaffen und die Vergangenheit ersetzen. Ihre Bilder zeigen nicht die Sehnsucht nach dem flüchtigen Moment, der zufällig mit der Kamera eingefangen wird. Sie sind vielmehr ein Geständnis: Dieser eingefangene Augenblick ist nicht durch Zufall entstanden, es ist ein aus einer ganzen Bandbreite von Erfahrungen entnommener und erhaltener Augenblick.
Mir geht durch den Sinn, dass ein gelegentliches unbeobachtetes Herumschnüffeln in den Schachteln meines Mannes und das Abhören seines Tonarchivs mir vielleicht einen Hinweis geben, wie ich meine eigene Geschichte aufbauen und welche Form ich ihr geben könnte. Ein Archiv ist etwas Ähnliches wie ein Tal, das die eigenen Gedanken in veränderter Form zurückwerfen kann. Man flüstert Ahnungen und Gedanken ins Leere und hofft, eine Antwort zu erhalten. Und wenn man schließlich den richtigen Ton getroffen und die richtige Oberfläche gefunden hat, kommt manchmal, nur manchmal, tatsächlich ein Echo zurück, ein echter, klarer Nachhall.
Der Inhalt der dritten Schachtel kommt mir auf den ersten Blick wie eine sehr männliche Zusammenstellung von Büchern zum Thema »auf Reisen gehen« vor, denn in allen wird erobert und kolonisiert: Herz der Finsternis, Die Cantos, Das wüste Land, Herr der Fliegen, Unterwegs, 2666, die Bibel. Des Weiteren finde ich ein kleines weißes Buch – die Fahnen eines Romans von Nathalie Léger, Untitled for Barbara Loden. Es wirkt ein bisschen deplatziert, eingezwängt und stumm, deshalb nehme ich es heraus und gehe zurück ins Zimmer.
ARCHIV
In ihren Betten klingen sie alle warm und verletzlich, wie ein Rudel schlafender Wölfe. Ich erkenne jeden an der Art seines Atmens: mein Mann neben mir, die beiden Kinder nebeneinander im benachbarten Doppelbett. Am leichtesten ist das Mädchen herauszuhören, das fast schnurrt, während es ungleichmäßig am Daumen lutscht.
Ich liege im Bett und lausche ihnen. Im Zimmer ist es dunkel, das Licht vom Parkplatz umrahmt die Vorhänge mit einem whiskeygelben Schimmer. Auf dem Highway ist kein Verkehr. Wenn ich die Augen schließe, vermischen sich beunruhigende Bilder und Gedanken in meinen Augenhöhlen und ergießen sich in mein Gehirn. Mit offenen Augen versuche ich mir die Augen meines schlafenden Stamms vorzustellen. Die des Jungen sind haselnussbraun, meist verträumt und mit sanftem Blick, können aber plötzlich vor Freude oder Wut auflodern wie die meteorischen Augen von Seelen, zu groß und zu wild, um gelassen zu sein – »gelassen in die gute Nacht«. Die Augen des Mädchens sind schwarz