Archiv der verlorenen Kinder. Valeria Luiselli
anderen ist, dass man ihn jeden Tag sieht und bei einer Unterhaltung all seine Gesten vorhersagen kann, dass man die Absichten hinter seinem Handeln lesen und seine Reaktionen auf bestimmte Umstände ziemlich genau einschätzen kann, dass man sicher ist, den anderen in- und auswendig zu kennen – und trotzdem kann er eines Tages plötzlich ein Fremder werden. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass mein Mann sagen würde, er brauche Zeit für sein neues Projekt, mehr Zeit als nur einen Sommer. Außerdem brauche er Stille und Einsamkeit. Und er müsse für längere Zeit in den Südwesten des Landes ziehen.
Was heißt längere Zeit? fragte ich.
Wahrscheinlich ein bis zwei Jahre, vielleicht auch länger.
Und wo im Südwesten?
Weiß ich noch nicht.
Und was ist mit meinem Projekt? fragte ich.
Dein Projekt ist wichtig, mehr sagte er nicht.
ALLEIN ZUSAMMEN
Ich nehme an, mein Mann und ich hatten uns schlicht nicht auf den zweiten Teil unseres Zusammenseins vorbereitet, den Teil, in dem wir einfach das Leben führten, das wir uns aufgebaut hatten. Ohne ein künftiges gemeinsames berufliches Projekt drifteten wir in anderer Hinsicht langsam auseinander. Vermutlich hatten wir – oder vielleicht auch nur ich – den weitverbreiteten Fehler gemacht, uns einzubilden, dass die Ehe eine absolute Interessengemeinschaft darstellt, die keine Grenzen kennt, anstatt sie schlicht als Pakt zwischen zwei Menschen zu begreifen, die bereit sind, Hüter der Einsamkeit des anderen zu sein, wie Rilke oder irgendein anderer gleichmütiger Philosoph es vor langer Zeit formuliert hatte. Aber kann man sich darauf vorbereiten? Kann man Folgen in Angriff nehmen, bevor man Ursachen entdeckt?
Bei unserer Hochzeitsfeier vor einigen Jahren hatte uns ein Freund mit der orakelhaften Aura eines Betrunkenen kurz vor dem Absturz gesagt, die Ehe sei ein Festmahl, zu dem die Leute zu spät kamen, wenn alles schon halb aufgefuttert war, alle schon zu müde waren und gehen wollten, aber nicht so recht wussten, wie und mit wem.
Aber ich, meine Freunde, kann euch sagen, was zu tun ist, damit eine Ehe ewig hält! sagte er.
Dann schloss er die Augen, ließ das bärtige Kinn auf die Brust sinken und gab den Geist auf.
EINZELPOSTEN
Es folgten viele schwierige Abende, an denen wir, nachdem die Kinder im Bett lagen, das Organisatorische rund um den Plan meines Mannes, für längere Zeit in den Südwesten zu ziehen, ausgiebig diskutierten. Viele schlaflose Nächte, in denen wir verhandelten, stritten, vögelten, neu verhandelten und Lösungen suchten. Ich verbrachte Stunden mit dem Versuch, sein Projekt zu begreifen oder mich zumindest damit anzufreunden, und noch mehr Stunden, ihn mit Argumenten von seinem Plan abzubringen. Eines Abends verlor ich die Nerven und warf sogar mit einer Glühbirne und einer Rolle Klopapier nach ihm, begleitet von einer Reihe lahmer Beschimpfungen.
Doch die Zeit verging, und die Vorbereitungen für die Reise wurden getroffen. Er sah sich im Internet um und bestellte Sachen: Kühltasche, Schlafsack, technischen Schnickschnack. Ich kaufte Landkarten von den Vereinigten Staaten. Eine große vom ganzen Land und mehrere von den Staaten im Süden, die wir vermutlich durchqueren würden. Ich studierte sie bis tief in die Nacht. Als die Reise immer konkreter wurde, versuchte ich mich mit dem Gedanken zu versöhnen, dass ich keine andere Wahl mehr hatte, als eine bereits getroffene Entscheidung zu akzeptieren, und schrieb dann meine eigenen Bedingungen in den Handel, sehr darum bemüht, unser gemeinsames Leben nicht in Einzelposten aufzulisten wie in einer Steuererklärung und eine Art moralische Aufrechnung von Verlusten, Guthaben und steuerpflichtigen Gewinnen zu erstellen. Mit anderen Worten, ich bemühte mich sehr, nicht jemand zu werden, den ich irgendwann verabscheuen würde.
Ich könnte diese neuen Umstände nutzen, sagte ich mir, um mich beruflich neu zu erfinden, mein Leben anders zu gestalten – und ähnliche Ideen, die nur in Horoskopen bedeutungsvoll klingen oder wenn jemand durchdreht und jeden Sinn für Humor verloren hat.
An besseren Tagen, wenn ich meine Gedanken ein wenig vernünftiger sortierte, sagte ich mir, dass unsere berufliche Trennung keinen tieferen Bruch in unserer Beziehung zur Folge haben musste. Eigenen Projekten nachzugehen sollte nicht zwangsläufig zur Auflösung unseres gemeinsamen Lebens führen. Wir könnten in Richtung Süden fahren, sobald das Schuljahr der Kinder endete, und an unseren jeweiligen Projekten arbeiten. Ich wusste noch nicht wie, aber ich könnte vielleicht anfangen zu recherchieren und langsam ein Archiv aufbauen und meinen Fokus auf die Flüchtlingskinderkrise über das New Yorker Einwanderungsgericht hinaus auf die geografischen Brennpunkte in den südlichen Grenzländern erweitern. Das war eine naheliegende Entwicklung in der Recherche an sich, aber auch eine Möglichkeit, unsere beiden sehr unterschiedlichen Projekte miteinander zu vereinbaren. Zumindest fürs Erste. Und zumindest insofern, uns als Familie auf eine Reise in den Südwesten zu begeben. Danach würde uns etwas einfallen.
ARCHIV
Ich studierte Berichte und Artikel über Flüchtlingskinder und versuchte, Informationen darüber zu sammeln, was in den Auffanglagern und Notunterkünften an der Grenze, jenseits des New Yorker Einwanderungsgerichts, vor sich ging. Ich nahm Kontakt mit Anwälten auf, besuchte Konferenzen der New Yorker Anwaltskammer, traf mich mit Mitarbeitern von Non-Profit-Organisationen und Gemeindegruppen. Ich sammelte Notizen, Zeitungsausschnitte, Karteikarten mit Zitaten, Briefe, Landkarten, Fotos, Wortlisten, mitgeschnittene Zeugenaussagen. Als ich langsam in meinem hausgemachten dokumentarischen Labyrinth unterzugehen drohte, kontaktierte ich einen alten Freund, einen auf Archivkunde spezialisierten Professor an der Columbia University, der mir einen langen Brief schrieb und mir eine Liste mit Artikeln und Büchern schickte, die mein Chaos vielleicht ein wenig erhellten. Ich las und las, verbrachte lange schlaflose Nächte lesend über Archivfieber, darüber, wie diasporische Erzählungen das Gedächtnis auffrischten oder wie man sich in der »Asche« des Archivs verliert.
Als ich schließlich klarer sah und eine vernünftige Menge an gut gesichtetem Material zusammenhatte, das mir bei der Umsetzung meiner Dokumentation über die Krisensituation der Kinder an der Grenze hilfreich sein könnte, packte ich alles in eine der Schachteln, die mein Mann noch nicht mit seinen Sachen gefüllt hatte. Ich hatte ein paar Fotos, einige Rechtsdokumente, Aufnahmefragebögen für gerichtliche Prüfverfahren, Karten von den Wüsten im Süden, auf denen Fundorte von toten Migranten verzeichnet waren, und eine Mappe mit zahllosen, aus dem Netz ausgedruckten »Migranten-Mortalitätsberichten« mit Angaben zur wahrscheinlichen Todesursache und dem genauen Fundort. Ganz oben in die Schachtel legte ich ein paar Bücher, die ich gelesen hatte und die mir helfen konnten, mein Projekt aus einer gewissen erzählerischen Distanz zu betrachten: Die Pforten des Paradieses von Jerzy Andrzejewski; Der Kinderkreuzzug von Marcel Schwob; Belladonna von Daša Drndić; Der Geschmack des Archivs von Arlette Farge; und ein kleines rotes, noch ungelesenes Buch mit dem Titel Elegien für verlorene Kinder von Ella Camposanto.
Als mein Mann sich darüber beklagte, dass ich eine seiner Schachteln benutzte, beklagte ich mich zurück, dass er vier Schachteln hatte, ich dagegen nur eine. Er meinte, ich als Erwachsene könne mich doch nicht ernsthaft über die Anzahl der von ihm benutzten Schachteln beschweren. Da er in gewisser Weise recht hatte, nahm ich seine Antwort lächelnd zur Kenntnis. Seine Schachtel benutzte ich trotzdem.
Dann beschwerte sich der Junge. Wieso bekam er keine Schachtel? Da uns Argumente gegen seine Forderung fehlten, gestanden wir ihm eine zu.
Natürlich beschwerte sich dann auch das Mädchen. Sie bekam ihre Schachtel. Auf unsere Frage, was sie denn in ihre Schachteln packen wollten, erwiderte der Junge, er wolle seine vorläufig leer lassen:
Damit ich unterwegs Sachen sammeln kann.
Ich auch, sagte das Mädchen.
Wir hielten dagegen, dass leere Schachteln Platzverschwendung seien. Aber unsere Argumente fanden gute Gegenargumente, oder vielleicht waren wir es leid, überhaupt Gegenargumente zu finden, und damit war die Sache erledigt. Insgesamt hatten wir sieben Schachteln. Sie würden im Kofferraum des Autos, das wir noch kaufen mussten, als unsere Anhängsel mitreisen. Ich nummerierte sie sorgfältig mit einem schwarzen Filzstift. Die Schachteln I bis IV gehörten meinem Mann, Schachtel VI gehörte dem Mädchen, Schachtel