Archiv der verlorenen Kinder. Valeria Luiselli
kamen aus dem Bad zurück und sagten, sie hätten Angst, allein in dem neuen Schlafzimmer zu schlafen. Wir erlaubten ihnen, eine Weile bei uns im Wohnzimmer zu bleiben, wenn sie versprachen zu schlafen. Sie krochen in einen leeren Pappkarton, und nach einigem Gerangel um die gerechte Platzaufteilung fielen sie in einen tiefen, schweren Schlaf.
Mein Mann und ich öffneten eine Flasche Wein und rauchten am Fenster einen Joint. Dann setzten wir uns auf den Fußboden, machten nichts, sagten nichts, beobachteten die schlafenden Kinder. Von unserem Platz aus sahen wir nur ein Durcheinander von Köpfen und Hintern: sein Haar schweißverklebt, ihre Locken ein wirres Nest; sein Po flach wie eine Tablette, ihrer mit runden Apfelbacken. Sie sahen aus wie ein Paar, das seine gemeinsame Zeit überschritten hat, zu schnell gealtert, einander überdrüssig, aber einigermaßen zufrieden. Sie schliefen in totaler, einsamer Gemeinschaft. Hin und wieder wurde unser leicht angetörntes Schweigen unterbrochen: der Junge schnarchte wie ein Betrunkener, und aus dem Körper des Mädchens drangen lange laute Fürze.
Ein ähnliches Konzert hatten sie schon früher am Tag gegeben, als wir in der U-Bahn vom Supermarkt in unsere neue Wohnung zurückfuhren, umgeben von weißen Plastiktüten mit riesigen Eiern, sehr rosa Schinken, Biomandeln, Maisbrot und kleinen Päckchen mit Biomilch – gesunde Produkte der neuen, verfeinerten Kost einer Familie mit zwei Gehältern. Nach ein paar Minuten in der U-Bahn schliefen die Kinder, die Köpfe auf unserem Schoß, verfilztes feuchtes Haar, ein angenehm salziger Geruch von den warmen Brezeln, die wir kurz zuvor an einer Straßenecke gegessen hatten. Sie waren engelsgleich, wir noch einigermaßen jung, und zusammen bildeten wir einen schönen Stamm, eine beneidenswerte Truppe. Plötzlich fing er an zu schnarchen und sie zu furzen. Die wenigen Fahrgäste, die nicht an ihren Handys hingen, bekamen es mit, schauten das Mädchen an, uns, den Jungen, und lächelten – schwer zu sagen, ob aus Mitleid oder Komplizenschaft mit der öffentlichen Schamlosigkeit unserer Kinder. Mein Mann erwiderte das Lächeln der lächelnden Fremden. Ich dachte kurz daran, ihre Aufmerksamkeit von uns wegzulenken und den alten Mann, der ein paar Sitze weiter schlief, vorwurfsvoll anzusehen oder vielleicht die junge Frau im vollen Joggingoutfit. Was ich natürlich nicht tat. Ich nickte nur ergeben oder resigniert und lächelte die Fremden an – ein verkniffenes schmallippiges Lächeln. Vermutlich hatte ich die Art von Lampenfieber, die einen in bestimmten Träumen überkommt, wenn man feststellt, dass man in der Schule ist und vergessen hat, eine Unterhose anzuziehen; eine jähe, tiefe Verletzlichkeit vor all diesen Fremden, denen wir einen kurzen Einblick in unser noch sehr neues Leben boten.
Am Abend jedoch, zurück in der Privatsphäre unserer neuen Wohnung, als die Kinder schliefen und ständig diese wunderschönen Geräusche von sich gaben – wahre Schönheit ist immer unbeabsichtigt –, konnte ich ihnen aufmerksam und ohne lästige Befangenheit lauschen. Die Darmgeräusche des Mädchens wurden durch die Pappwand verstärkt und wanderten unsichtbar durch das fast leere Wohnzimmer. Nach einer Weile hörte der Junge sie irgendwo tief im Schlaf – so jedenfalls kam es uns vor – und antwortete mit Wortfetzen und Gemurmel. Mein Mann stellte fest, dass wir eine der Sprachen der städtischen Soundscape hörten, verwendet im zirkulären Akt der Unterhaltung:
Ein Mund antwortet einem Po.
Ich unterdrückte kurz das Bedürfnis zu lachen, merkte dann aber, dass auch mein Mann mit geschlossenen Augen die Luft anhielt, um nicht zu lachen. Vielleicht waren wir mehr stoned, als wir dachten, jedenfalls konnte ich nicht mehr, meine Stimmbänder gaben ein eher schweineartiges als menschliches Geräusch von sich. Er ließ ebenfalls los, prustete und gluckste, seine Nasenflügel bebten, die Augen verschwanden fast in seinem verzerrten Gesicht, und er schaukelte vor und zurück wie eine kaputte Piñata. Die meisten Menschen sehen furchterregend aus, wenn sie herzhaft lachen. Mir waren schon immer Leute suspekt, die nur mit den Zähnen klicken, und ich fand es ziemlich beunruhigend, wenn jemand beim Lachen keinen Ton von sich gibt. In meiner Familie väterlicherseits gibt es einen genetischen Defekt, der sich am Ende jeder Lachsalve in Schnauben und Grunzen Bahn bricht. Bis alle Tränen in den Augen haben und sie ein Schamgefühl überkommt.
Ich atmete tief durch und wischte mir eine Träne von der Wange. Im selben Moment wurde mir klar, dass mein Mann und ich uns zum ersten Mal lachen gehört hatten, das heißt aus vollem Herzen – enthemmt, befreit, völlig idiotisch. Vielleicht kennen wir uns erst richtig, wenn wir wissen, wie der andere lacht. Schließlich beruhigten mein Mann und ich uns wieder.
Eigentlich ist es gemein, dass wir auf Kosten unserer Kinder lachen, oder? fragte ich.
Ja, völlig daneben.
Wir beschlossen, dass wir diesen Augenblick festhalten sollten, und holten unsere Aufnahmegeräte. Mein Mann schwenkte seine Tonangel durch den Raum; ich hielt meinen Voicerekorder nah an den Jungen und das Mädchen ran. Sie lutschte am Daumen, und er murmelte Worte und merkwürdige Schlafgeräusche hinein; im Mikro meines Mannes waren auf der Straße vorbeifahrende Autos zu hören. In kindlicher Komplizenschaft nahmen wir ihre Geräusche auf. Ich bin mir nicht sicher, welche tieferen Gründe uns dazu bewegten, die Kinder an diesem Abend aufzunehmen. Vielleicht lag es einfach an der Sommerhitze, plus dem Wein, minus dem Joint, multipliziert mit der Aufregung des Umzugs, geteilt durch das Recyceln der vielen Pappkartons, das uns noch bevorstand. Oder wir folgten dem Impuls, den Augenblick zuzulassen, weil er sich anfühlte wie der Beginn von etwas Neuem, um eine Spur zu hinterlassen. Schließlich hatten wir unseren Verstand darauf trainiert, Aufnahmegelegenheiten zu nutzen, unsere Ohren trainiert, dem täglichen Leben zu lauschen, als wäre es Rohmaterial. Alles, wir und sie, hier und dort, innen und außen, wurde festgehalten, gesammelt und archiviert. Vielleicht müssen neue Familien wie junge Nationen nach gewaltsamen Unabhängigkeitskriegen ihre Anfänge in einem symbolischen Augenblick verankern und in der Zeit festnageln. Dieser Abend war unser Fundament, der Abend, an dem unser Chaos ein Kosmos wurde.
Später, als wir müde waren und unseren Schwung verloren hatten, trugen wir die Kinder in ihr neues Zimmer und legten sie auf ihre Matratzen, die nicht viel größer waren als der Pappkarton, in dem sie geschlafen hatten. Dann fielen wir in unserem Schlafzimmer auf unsere eigene Matratze, schlangen die Beine ineinander und schwiegen, aber unsere Körper sagten, vielleicht später, vielleicht morgen, morgen lieben wir uns, schmieden Pläne, morgen.
Gute Nacht.
Gute Nacht.
MUTTERSPRACHEN
Als ich zur Mitarbeit an dem Soundscape-Projekt eingeladen wurde, fand ich es zunächst protzig, megalomanisch, irgendwie zu didaktisch. Ich war jung, wenn auch nicht viel jünger als heute, und sah mich noch als politische Hardcore-Journalistin. Außerdem gefiel mir nicht, dass das Projekt, obwohl vom Center for Urban Science and Progress der NYU organisiert und später für dessen Tonarchiv gedacht, zum Teil von einigen multinationalen Konzernriesen finanziert wurde. Ich recherchierte ein bisschen über ihre CEOs – gab es Skandale, Betrügereien, irgendwelche faschistischen Verbindungen? Aber ich hatte eine kleine Tochter. Als ich erfuhr, dass der Vertrag auch Krankenversicherung einschloss, und feststellte, dass ich von dem Gehalt leben konnte, ohne tausend journalistische Kleinaufträge annehmen zu müssen, hörte ich auf zu recherchieren und so zu tun, als könnte ich es mir leisten, mir über Firmenethik den Kopf zu zerbrechen, und unterschrieb den Vertrag. Ich bin mir nicht sicher, welche Gründe meinen Mann dazu bewegten – damals war er noch ein auf Akustomologie spezialisierter Fremder und nicht mein Ehemann oder Vater unserer Kinder –, aber ungefähr zur selben Zeit unterschrieb er seinen Vertrag.
Wir stürzten uns beide voll und ganz in das Soundscape-Projekt. Jeden Tag gingen wir, während die Kinder in der Krippe und der Schule waren, in die Stadt, ohne zu wissen, was uns erwartete, aber immer sicher, wir würden etwas Neues entdecken. Wir zogen durch die fünf Bezirke, interviewten Fremde und baten sie, in ihrer Muttersprache zu sprechen und etwas darüber zu erzählen. Er mochte die Tage, die wir in Durchgangsräumen wie Bahnstationen, Flughäfen und Bushaltestellen verbrachten. Ich mochte die Tage in den Schulen, wo wir Kinder befragten. Mit hochgehaltener Tonangel und über die rechte Schulter geschlungener Porta-Brace schlenderte er durch volle Cafeterias und nahm das Durcheinander von Stimmen, Besteck und Schritten auf. Ich hielt den Kindern in Gängen und Klassenzimmern meinen Rekorder dicht vor den Mund, während sie meine Fragen beantworteten. Ich wollte wissen, ob sie sich an Lieder und Sprichwörter erinnern, die sie zu Hause hörten. Ihr Akzent war oft anglisiert