Borgo Sud. Donatella Di Pietrantonio

Borgo Sud - Donatella Di Pietrantonio


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      Zum Buch

      Alle im Hafenviertel Borgo Sud scheinen zu wissen, was wirklich hinter Adrianas Unfall steckt. Nur ihrer Schwester sagen sie es nicht. Pietrantonio erzählt die Familiengeschichte von Arminuta weiter, spannend und mit großer literarischer Kraft. Von Geschwisterliebe und einem Italien, wie man es selten zu sehen bekommt.

      Das Leben der beiden Schwestern könnte unterschiedlicher nicht sein: Adriana lebt prekär in Borgo Sud, dem heruntergekommenen Hafenviertel von Pescara, ihre Schwester lehrt an der Universität in Grenoble. Eines Tages erhält sie einen Anruf, dass Adriana, die Jüngere, die Wilde, nach einem Sturz vom Balkon lebensgefährlich verletzt auf der Intensivstation liegt. Der Anruf löst eine Flut von Erinnerungen aus: an die Nacht, in der Adriana mit einem Baby auf dem Arm vor ihrer Tür stand, an deren Liebe zum jungen Fischer Rafael, für den sie die Schule geschwänzt hat, mit dem sie nachts zum Fischen rausfährt, den sie verteidigt, egal in welche Schwierigkeiten er verwickelt ist. An die eigene Verlobung mit Piero und das Festessen, bei dem sie verkündet wurde. An ihre gescheiterte Ehe, weil Piero Männer liebt. In Borgo Sud scheinen alle zu wissen, dass Adriana keinen Unfall hatte, aber was wirklich geschehen ist, darüber schweigen sie. Mit der Weisheit und Selbstverständlichkeit großer Autoren beschenkt uns Donatella Di Pietrantonio mit einem Familienroman von großer Wärme, der noch lange nachklingt.

      Über die Autorin

      Donatella Di Pietrantonio wurde in den Abruzzen geboren und lebt heute in der Nähe von Pescara. Ihre Romane Meine Mutter ist ein Fluss (2013) und Bella mia (2015) wurden mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet. Mit Arminuta (2018) ist ihr der internationale Durchbruch gelungen.

      Donatella Di Pietrantonio

       Borgo Sud

      Roman

      Aus dem Italienischen

      von Maja Pflug

      Verlag Antje Kunstmann

      Questo libro è stato tradotto grazie ad un contributo alla traduzione assegnato dal Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale italiano.

      Dieses Buch wurde dankenswerterweise unterstützt mit einer Übersetzungsförderung des italienischen Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten und Internationale Kooperation.

      © der deutschen Ausgabe: Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2021

      © der Originalausgabe: Einaudi, Turin 2020

      Titel der Originalausgabe: Borgo Sud Umschlaggestaltung: Heidi Sorg und Christof Leistl unter Verwendung eines Fotos von David Royston Bailey Typografie + Satz: frese-werkstatt.de Druck und Bindung: Pustet, Regensburg eBook-Produktion: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH ISBN 978-395614-471-4

       für Paolo für seine Kraft, von der er nichts wusste

      Als ich heiratete, war ich fünfundzwanzig Jahre alt. Lange hatte ich mir gewünscht zu heiraten und oft mit einem Gefühl von Bitternis und Schwermut gedacht, dass ich kaum Aussichten darauf hatte.

      NATALIA GINZBURG, Mein Mann

      1

      Ohne warnenden Donner prasselte der Regen auf das Fest nieder, keiner der Gäste hatte gesehen, wie sich über den walddunklen Hügeln die Wolken zusammenballten. Als das Wasser über uns herfiel, saßen wir an dem langen Tisch auf dem Rasen. Wir aßen Spaghetti alla chitarra, die Flaschen waren schon halb geleert. In der Mitte des bestickten Tischtuchs duftete der Lorbeerkranz, den Piero nach den Fotos abgenommen hatte. Bei den ersten Tropfen sah er zum Himmel und dann zu mir, ich saß neben ihm. Er hatte Jacke und Krawatte abgelegt, den Hemdkragen geöffnet und die Ärmel bis zu den Ellbogen aufgerollt: Seine glänzende Haut strotzte vor Gesundheit. Er hatte wenig geschlafen und ich ebenso, erst gegen Morgen waren wir eingenickt. Beim Aufwachen hatte ich einen Augenblick lang nicht mehr gewusst, wer ich war, wen ich liebte und dass ein glücklicher Tag begann.

      Piero sah mich an, erstaunt über das Unwetter. Ein Hagelkorn fiel mitten in sein Weinglas. Manche Gäste bewegten weiter die Kiefer, unsicher, was sie tun sollten. Meine Schwester war schon aufgesprungen, sammelte die ovalen Platten mit den restlichen Nudeln und die Brotkörbe ein und brachte sie in der Küche im Erdgeschoss in Sicherheit. Wir retteten uns unter das Vordach, während Adriana weiter zwischen drinnen und draußen hin- und herlief, vom Wind gebeutelt. Sie machte dem Gewitter das Essen streitig, Verschwendung war sie nicht gewöhnt. Ich hatte mich vorgebeugt, um ihr die letzten Platten abzunehmen, als über mir ein Stück Regenrinne nachgab. Von meinem verletzten Wangenknochen tropfte das Blut auf meine Brust und mischte sich mit dem Regenwasser. Ich hatte für den Anlass ein weißes Kleid gewählt. Es stehe mir gut, hatte Adriana am Morgen gesagt, es sei eine Art Probe für das Hochzeitskleid. Wir waren früher gekommen, um bei den Vorbereitungen zu helfen. Durchs Fenster hatte ich den tiefen, stillen Flug der Schwalben gesehen, sie spürten den Regen. Pieros Mutter dagegen traf es unvorbereitet, sie hatte darauf bestanden, das Examen ihres Sohnes in ihrem Landhaus zu feiern.

      Ich habe noch ein Foto von uns beiden, auf dem wir uns verliebt anschauen, Piero mit dem Lorbeerkranz auf dem Kopf und andächtigem Blick. Am Rand erscheint Adriana, im letzten Moment ist sie in die Bildfläche getreten: Ihre Gestalt ist verwackelt, die Haare ein dunkelbrauner Schweif. Sie war nie zurückhaltend, hat sich immer in alles eingemischt, was mich anging, als betreffe es auch sie, Piero inbegriffen. Er war für sie kaum anders als ein Bruder, aber ein liebenswürdiger. Meine Schwester lachte unbeschwert ins Objektiv, ohne zu ahnen, was wir erleben würden. Ich habe das Foto auf dieser Reise dabei: drei Jugendliche im Innenfach der Handtasche.

      Jahre später fanden Adriana und ich das Kleid bei den Sachen wieder, die ich nicht mehr anzog, auf dem Stoff war von dem Blut ein leichter Rand zurückgeblieben.

      »Das war ein Zeichen«, sagte sie und schwenkte es vor meiner Nase.

      2

      In diesem Hotelzimmer kann ich nicht schlafen. Ich gebe der Müdigkeit nach, schrecke aber gleich wieder hoch, reiße in der Dunkelheit die Augen weit auf. Seit Pieros Examensfeier ist viel Zeit vergangen, und die Erinnerung daran ist trügerisch, oder ein bruchstückhafter Traum. Vielleicht werde ich nach dem Anruf, den ich gestern erhalten habe, gar keine Wahrheit mehr herausfinden können. Unter der Tür schimmert das schwache Licht des Flurs durch, man hört gedämpfte Schritte. Weitere Erinnerungen ziehen vorbei, durcheinander, voller Menschen. Das Gedächtnis wählt seine Karten aus dem Stoß, vertauscht sie, mogelt ab und zu.

      Ich bin den ganzen Tag mit verschiedenen Zügen gereist, habe die Lautsprecheransagen gehört, erst auf Französisch, dann auf Italienisch. In Windeseile flogen die Namen der kleineren Stationen vorbei, an denen wir nicht hielten, manche konnte ich so schnell gar nicht lesen. Am Nachmittag füllte sich das Fenster plötzlich mit Meer, die Adria mit ihren Kräuselungen, der Eisenbahn an bestimmten Stellen so nah. Als wir durch die Marken fuhren, erlag ich wieder der optischen Täuschung der Häuser, die sich zum Strand hin neigten, als würden sie vom Wasser angezogen. Adriana weiß nicht, dass ich da bin. Morgen werde ich zu ihr gehen, aber nicht nach Borgo Sud.

      Hier im Hotel haben sie mich gefragt, ob ich zu Abend essen wolle, ich habe erwidert, ich sei zu müde, um herunterzukommen. Während ich im Fernsehen die Nachrichten anschaute, haben die starken, liebenswürdigen Abruzzen geklopft und mir in Gestalt eines blonden Mädchens Kekse und heiße Milch gebracht. Ich habe keinen Zucker hineingetan, sie war süß genug. Der vergessene Geschmack der ersten Nahrung, ich habe in kleinen Schlucken getrunken, so viel Trost hatte ich nicht erwartet. Christophe sagt, den Erwachsenen schade Milch, nur der Mensch sei so dumm, nach dem Abstillen weiterhin Milch zu trinken. Später jedoch sah ich ihn ins Treppenhaus hinaustreten und dabei Chips aus einer Tüte fischen. Er ist mein französischer Nachbar, arbeitet beim Synchrotron von Grenoble. Wir teilen uns eine Katze und die Pflege einiger Topfpflanzen, die zwischen unseren Türen stehen. Vor der Abreise habe ich ihm einen Zettel geschrieben, jetzt muss er sich darum kümmern.

      Piero dagegen mochte es, wenn er manchmal spätabends heimkam: »Ich will


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