Borgo Sud. Donatella Di Pietrantonio

Borgo Sud - Donatella Di Pietrantonio


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sich wirklich, als wäre man dort, in Ligurien«, fügte die kleine Brünette hinzu, die in der zweiten Reihe sitzt.

      »Es liegt ja auch gleich hier hinter der Grenze, etwas weiter südlich.« Ich nickte zum Fenster hin.

      Luc rutschte auf seinem Platz hin und her, bevor er sich meldete. Er wollte einen Satz vorlesen, der seinen Nationalstolz gekränkt hatte. »Ab und zu nimmt jemand Frankreich in den Arm, zeigt es der Welt, damit alle glauben, es sei lebendig, dabei ist es tot.«

      Ich bin ihm zuvorgekommen: »Soll man einen kritischen Blick immer ablehnen oder kann er nützlich sein, um das zu verstehen, was wir an uns nicht sehen können?«

      Im Büro erwartete mich ein dringender Anruf aus Italien. »Sie haben es schon auf Ihrem Handy probiert, aber es war abgeschaltet«, sagte die Angestellte, die Hand über dem Hörer. In der Sekunde bevor ich antwortete, habe ich mir alle möglichen Unglücksfälle vorgestellt, aber nicht das. Nicht das, was mich im Zimmer 405 wach hält. Nebenan kommt jemand zurück, ich höre die Türe und dann das Pinkeln im Bad auf der anderen Seite der Wand.

      Die Stimme am Apparat war mir fremd, und der Dialekt von Pescara klang am Anfang total irreal.

      »Du musst sofort herkommen« – der Rest war ein aufgeregtes, unartikuliertes Gestotter.

      Der Anruf war kurz, ich sagte, wenn ich einen Platz im Zug bekäme, würde ich am nächsten Morgen losfahren. Als ich aufgelegt hatte, schnappte ich nach Luft, und die Angestellte schob mir einen Stuhl hin. Ich setzte mich. Mir fielen die Atemübungen ein, die Piero mir beigebracht hat, als wir zum ersten Mal zusammen auf den Gran Sasso gestiegen sind. An einem Tag, der so klar war, dass der Berg vor uns aufragte wie eine blendende Basilika, kletterten wir auf dem direktesten Weg hinauf. Bei einem ungeschützten Abschnitt blickte ich ins Leere unter uns, so leicht konnte man diesen Tod wählen, es genügte, die Hände zu lösen. An die Felswand geklammert, zitterte ich, unfähig, weiterzugehen.

      Im Sekretariat der Universität Grenoble besann ich mich auf die Zwerchfellatmung, fand meine Selbstbeherrschung wieder. Man brachte mir auch ein Glas Wasser, und ich trank es. Eine ganze Vergangenheit rief mich zurück, wie eine gespannte Feder, die sich plötzlich lockert und in die Ausgangsstellung zurückkehrt.

      Nun bin ich hier. Draußen hört man ein mechanisches Pfeifen, vom Hafen her, durch die Dunkelheit verstärkt. In regelmäßigen Abständen wird es unterbrochen, und so wiegt die Stille schwerer. Wer weiß, ob Adriana es auch hört, das Pfeifen und die Stille. Morgen werde ich sie sehen. Morgen ist schon heute, 01:01 blinkt es an meinem Handgelenk, die doppelte Stunde.

      Auch sie hat in der Nacht, als sie zu mir kam, nicht mehr geschlafen. Am Morgen erwartete sie mich im Bad, auf dem Rand der Wanne sitzend, mit einem Handtuch auf den Schultern und frisch gewaschenen Haaren.

      »Los, mach schon, ich will nicht, das Piero mich so sieht«, sagte sie und hielt mir die Schere hin.

      Ich protestierte, das könne ich nicht, sie müsse zum Friseur gehen.

      »Nein, ich geniere mich. Es ist nicht schwer, mach sie einfach so kurz wie hier«, und sie fasste sich ans Ohr.

      Um es mir leichter zu machen, kämmte sie die Haare ganz glatt. Ich begann, die ungeeignete Schere in der einen Hand und die Strähnen zwischen den Fingern der anderen, immer nur eine. Weich fielen sie auf Adrianas Beine, unten in die Badewanne, auf den Boden. Sie hatte sich beruhigt, ich fühlte es, keine verkrampften Muskeln mehr, keine zusammengebissenen Zähne.

      »Woher kommst du?«, fragte ich vorsichtig.

      »Den Ort kennst du sowieso nicht.« Sie wischte sich ein paar Haare von der Nasenspitze. »Jetzt mach mich nicht verrückt mit deiner Fragerei, schneid und sei still.« Sie gähnte mit einem Knirschen. »Du musst mir was zum Anziehen leihen, ich bin etwas überstürzt losgerannt«, und sie lachte einen Augenblick, während sie am Saum ihres Nachthemds zog.

      »Und Vincenzo?«, fragte ich sie.

      »Babynahrung braucht er keine, ich stille ihn noch. Für die dringendsten Sachen gehst du nachher raus und kaufst sie ihm.«

      »Ich?«

      »Ja, du. Es ist besser, wenn ich eine Weile zu Hause bleibe.« Sie schloss den Mund auf eine Art, die keine Widerrede duldete.

      Zuletzt föhnte sie sich, und wir waren beide untröstlich über das Resultat: Die Haare sahen aus wie abgebissen, und sie wirkte krank mit ihren tiefen, fahlen Augenringen. Sie wurde aber nicht wütend, sondern bat mich um Pieros elektrischen Rasierapparat und fuhr sich damit ohne Hast über den Kopf, wobei sie geschmeidig den Hals drehte.

      »Prima, fangen wir wieder bei null an«, sagte sie und musterte sich beinahe erfreut im Spiegel.

      Auf einmal sah sie wie ein kleines Mädchen aus, so verletzlich wie ein rohes Ei. Sie war siebenundzwanzig, aber man bekam Lust, sie zu beschützen, ihr über den im Vergleich zu dem wilden Gesicht perfekten Stoppelkopf zu streichen. Ich berührte ihn einen Moment mit den Fingerspitzen, und sie entzog sich nicht, daraufhin spreizte ich die Hand, wie um ihn nach all dieser Zeit mit einer reglosen Liebkosung zu umfassen.

      Anschließend gingen wir ins Schlafzimmer, um nach Vincenzo zu sehen. Adriana hatte zwei Kissen an die Bettkante gelegt, damit er nicht herunterfallen konnte. Auf der anderen Seite schlief Piero in Kleidern auf dem Laken, zu dem Kind hingedreht, einen Arm auf dem kleinen Körper, aber ganz locker. Durchs Fenster fiel das erste, noch graue Licht des Tages auf sie, und die Geräusche der erwachenden Stadt, die Müllabfuhr auf ihrer Runde. Adriana stieß einen leisen, überraschten Schrei aus, und Piero öffnete die Augen, ohne sich zu bewegen.

      »Das hätte ich ja nicht von dir erwartet«, sagte er mit einem Blick auf das Kind zu ihr.

      Er war leise heimgekommen und hatte unsere Stimmen im Bad gehört. Kaum hatte er begriffen, was los war, hatte er sich neben dem Neuankömmling ausgestreckt. Er dehnte sich bis zu den gebräunten Füßen.

      In der Küche scherzte er mit Adriana über ihre neue Frisur und hielt mich am Handgelenk fest, als ich die Gasflamme für den Kaffee anzündete. Von Nahem roch er ein wenig nach Krankenhaus, die Desinfektionsmittel und der Schmerz hatten ihn bis nach Hause begleitet. Ich fragte ihn, wie es seinem Vater ging, und er beruhigte mich.

      »Lass uns zur Feier des Tages im Esszimmer frühstücken«, sagte er im Hinausgehen. Das war er von seiner Mutter gewöhnt, und ich machte es zu diesem Anlass genauso: Tischdecke aus flämischem Leinen, Porzellantassen und Silberlöffel, die wir zur Hochzeit bekommen hatten. Gedankenverloren deckte ich den Tisch, für Adriana, die ich drüben hantieren hörte, und für ihr Kind, das seit wenigen Stunden in mein Leben getreten war. Gerade hatte eine Zukunft begonnen, die ganz anders war, als ich es mir vorgestellt hatte.

      »Da ist die Tante«, stellte sie mich vor, als Vincenzo aufwachte.

      Sie hielt ihn mir hin, doch er verzog die Lippen wie zum Weinen, und ich ließ die Arme sinken. Mit beweglichen, sehr dunklen Augen sah er sich um. Einen Moment lang runzelte er die Stirn, entspannte sich aber gleich wieder, beruhigt durch den Kontakt mit seiner Mutter. Neugierig berührte er ihren kahl rasierten Kopf. Adriana wechselte ihm die Windeln, sie hatte welche in ihrem Beutel dabei, dann knöpfte sie ihr Nachthemd auf, setzte sich auf mein Bett und hielt ihm die Brust hin. Vincenzo trank sich satt und bewegte ab und zu die Hand auf dem blau geäderten Busen. Ich konnte es kaum glauben, dass meine dünne kleine Schwester fähig war, so viel Milch zu produzieren; ein Rinnsal floss vom Mundwinkel bis zum Hals des Kindes. Mit schrägem Blick kontrollierte es, dass ich den Sicherheitsabstand einhielt. Es war schon neun Monate alt.

      Piero kam mit einem Strauß Feldblumen, den er auf einem Wochenmarkt gefunden hatte, und noch warmen Croissants aus der Konditorei Renzi zurück. Sofort angelte sich Adriana eines und verschlang die Hälfte mit einem Bissen.

      »Ein Tisch wie bei reichen Leuten«, war ihr Kommentar, während sie die Blumen in die Vase stellte.

      Das Kind hatte sich vom Onkel auf den Arm nehmen lassen und lächelte ihn an, als wären sie sich in dem kurzen gemeinsamen Schlaf schon nähergekommen. Aus der Küche brachte ich die Espressokanne, in der noch die letzten Tropfen hochblubberten.


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