Der Verrückte vom Freiheitsplatz. Hassan Blasim

Der Verrückte vom Freiheitsplatz - Hassan  Blasim


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Geschichte ist, was sie ist, ob schön oder Scheiße.«

      Wieder wurde das Licht gedimmt, und wir lauschten der nächsten Geschichte:

      Sie merkten, dass sie mich mit Scheiße fütterte. Eine Woche lang mischte sie sie in den Reis, den Kartoffelbrei und die Suppe. Ich war ein bleiches Bübchen von drei Jahren. Mein Vater drohte ihr mit der Scheidung, was sie aber nicht kümmerte. Ihr Herz war auf immer verhärtet. Sie konnte mir nie verzeihen, was ich getan hatte, und ich schaffe es bis heute nicht, ihre Erbarmungslosigkeit zu vergessen. Als sie an Gebärmutterkrebs starb, hatten mich die Stürme des Lebens schon sehr weit weg getragen. Gebrochen und gedemütigt kehrte ich nach dem Vorfall mit den Tonnen dem Land den Rücken, von Angst gejagt. Eines Nachts nahm ich Abschied von meinem Vater. Er begleitete mich auf den Friedhof, wo wir gemeinsam die Fâtiha über dem Grab meines Onkels sprachen. Dann umarmten wir uns, und er steckte mir ein Bündel Geldscheine zu. Ich küsste ihm die Hand und verschwand.

      Wir lebten in einem armen Viertel in Kirkuk, einer Gegend ohne Kanalisation. Die Leute ließen sich für drei Dinar in ihren Häusern eine Senkgrube anlegen. Der kurdische Gemüsehändler Nausâd war der Einzige im Viertel, der so etwas anlegen konnte, und nach seinem Tod übernahm sein Sohn Mustafa diese Arbeit. Man fand Nausâd nach einem nächtlichen Brand verkohlt in seinem Laden, und niemand hatte eine Ahnung, was er in dieser Nacht dort getrieben hatte. Einige behaupteten, er habe Haschisch geraucht, was mein Vater aber nicht glaubte. Er hatte für jede Art Katastrophe seine Lieblingsweisheit: »Uns ist alles bestimmt in dieser vergänglichen Welt, es steht geschrieben.« So glaubte ich als Kind, unser Leben sei in Schulbüchern und im Kiosk des Zeitungsverkäufers festgehalten. Vater wollte mir mit all seiner Güte und Liebe meine Kindheit retten. Er war den Menschen und dem Leben auf eine Weise dankbar, die mir bis heute unverständlich ist. Er war wie ein Heiliger auf einem menschlichen Schindanger. Die Katastrophen trafen uns alle zwei Jahre. Aber Vater weigerte sich zu glauben, dass es so etwas wie einen mysteriösen Fluch gebe, den die Zeit einfach so mitbringt. Vielleicht führte er ihn auf das vorherbestimmte Schicksal zurück. Wir wurden von überall her bombardiert – vom Unbekannten, von der Wirklichkeit, von Gott, von den Menschen, ja selbst die Toten bombardierten uns mit Qualen. Mein Vater versuchte auf verschiedene Weisen, mein Verbrechen zu begraben. Jedenfalls wollte er es aus dem Gedächtnis meiner Mutter tilgen. Doch ohne Erfolg. Schließlich resignierte er und überließ die Aufgabe dem Bulldozer der Zeit, in der Hoffnung, dieser würde es richten.

      Vielleicht bin ich ja der jüngste Mörder der Welt, ein Mörder, der keinerlei Erinnerung an sein Verbrechen hat, das für ihn nichts anderes ist als etwas Erzähltes, eine Geschichte, die Menschen zu jeder Zeit unterhaltsam fanden. Ich bemerkte aber, dass jeder die Geschichte meines Verbrechens nach seinem Gusto schrieb, wiedergab oder besang. Damals arbeitete mein Vater nicht in der Produktion von Essiggemüse. Er war Panzerführer. Der Krieg war noch in seinem ersten Jahr, und meine Mutter bestand darauf, ein drittes Kind zu bekommen. Doch wegen des Kriegs, vor dem ihm graute, lehnte er das ab. Wir lebten nicht übel. Mein Vater schickte allmonatlich genügend Geld für Essen, Kleider und Wohnung. Meine Mutter verbrachte ihre Zeit damit, entweder zu schlafen oder ihre Schwägerin zu besuchen und sich mit ihr über die Preise von Stoffen und die Unzuverlässigkeit der Männer zu unterhalten.

      Im Sommer entschwebte meine Mutter in Traumgefilde. Sie hörte nicht mehr, sie redete nicht mehr, ja sie schaute auch nicht mehr. Die Hitze schmolz ihren Geist. Jeden Nachmittag duschte sie und ging dann in ihrem Zimmer schlafen, splitternackt. Wie eine tote Paradiesjungfrau. Am Abend gewann sie etwas Vitalität zurück, als ob sie aus einer Bewusstlosigkeit erwachte. Sie schaute im Fernsehen eine Soap-Opera an oder eine Sendung, in der der Präsident tapfere Soldaten mit Tapferkeitsmedaillen behängte. Wahrscheinlich hoffte sie, meinen Vater darunter zu sehen.

      Eines Nachmittags schlief sie ein, die Arme ausgebreitet und die Beine gespreizt, für die Luft vom Deckenventilator. Mein ein Jahr jüngerer Bruder und ich schlichen uns auf den Hof hinaus. Dort gab es nur einen einzelnen Feigenbaum und eben diese Senkgrube. Ich erinnere mich, wenn ein Verwandter gestorben oder ein Unglück geschehen war, saß meine Mutter immer unter dem Feigenbaum und weinte. Die Öffnung der Senkgrube war mit einem alten Tablett zugedeckt, dieses mit einem großen Stein beschwert. Gemeinsam schoben wir ihn, mit ziemlicher Mühe, beiseite. Dann begannen wir, Kiesel in die Grube zu werfen. Es war unser Lieblingsspiel. Umm Alâ, unsere Nachbarin, hatte uns Papierschiffchen gefaltet, die wir jetzt auf dem Fäkaliensee schwimmen ließen.

      Ich soll, so erzählte man, meinen Bruder in die Grube gestoßen haben und dann aufs Dach gelaufen sein, wo ich mich im Hühnerstall versteckt hätte. Als ich älter war, stellte ich das infrage: »Und wenn er gefallen ist und ich aus Angst weggelaufen bin?« Doch dann wurde erklärt: »Du hast es selbst zugegeben.« Vielleicht hat man mich ja befragt wie bei der Polizei des Diktators. Ich jedenfalls kann mich an nichts erinnern. Aber die anderen redeten und erzählten, als hätten sie einen köstlichen Film gesehen. Alle Nachbarn waren auf dem Karneval der Senkgrubenhölle. Da sie das Auto nicht fanden, das einmal im Monat die Senkgruben im Viertel leerte, nahmen sie alles Mögliche zu Hilfe: Kessel, einen großen Eimer und andere Behälter, um die Fäkalien aus der Grube zu schöpfen. Es war eine harte, ekelerregende Arbeit – Folter in Zeitlupe. Die Hitze und der widerliche Gestank verstärkten die Erschöpfung und den Ekel. Als die Sonne unterging, fischten sie ihn heraus: einen kleinen Jungen, in Scheiße gehüllt.

      Mein Vater kam lange nicht von der Front zurück. Mein Onkel schrieb ihm einen Brief und kümmerte sich dann um das Begräbnis meines Bruders. Wir beerdigten ihn im Kinderfriedhof auf dem Hügel, dem vielleicht schönsten Friedhof auf der ganzen Welt. Im Frühling blühte es dort in allen Formen und Farben. Von Weitem sah er aus wie ein gigantischer bunter Baum. Ein Friedhof, dessen Duft man noch auf zehn Kilometer wahrnahm. Eine Woche später stieß Umm Alâ, unsere Nachbarin, unsere Tür auf. Sie traf meine völlig aufgelöste Mutter, ein Schüsselchen mit Exkrementen vor sich, die sie bedächtig mit einem Plastiklöffel in mein Essen einrührte und mich damit unter Tränen fütterte.

      Mein Vater schickte mich zu meinem Onkel, bei dem ich wohnen sollte, sozusagen als Flüchtling besonderer Art. Jeden Freitag ging ich, wie ein Gast, nach Hause, begleitet von der Frau meines Onkels, die ein Auge auf meine Mutter hielt. Ich wurde zu einem hin und her gekickten Ball. So vergingen sechs Jahre, während derer ich mich bemühte zu begreifen, was da geschah. Ich musste lernen, was ihre Gefühle, ihre Worte und die glühende Kette um meinen Nacken bedeuteten. Ich kroch auf einem Teppich aus Messern herum. Die Senkgrube wurde zum Horror meiner Kindheit. Und immer wieder hörte ich, dass das Leben voranschreitet, weitergeht, losfährt, vielleicht auch nur dahinkriecht. Unser Leben platzte wie Feuerblasen und verteilte sich an Gottes Himmel. Ein Schicksalsschreiber, eine gewaltige Haubitze. Ich verbrachte meine Jahre als Kind und Halbwüchsiger, indem ich die anderen beobachtete wie ein Scharfschütze in der Dunkelheit. Ich beobachtete und ich schoss. Auf die Albträume meines Lebens feuerte ich andere Albträume, solche aus meiner Fantasie. Ich stellte mir vor, wie meine Mutter und andere gequält wurden. Und in mein Schulheft zeichnete ich riesige Lastwagen, die Kinderköpfe zermalmten. Ich erinnere mich noch genau an das Bild des Präsidenten auf dem Heftumschlag. Er trug Uniform und lächelte. Darunter stand: Die Feder ist so tödlich wie das Gewehr.

      Es gab einen Eselskarren für Kerosin, der im Winter durch die Gassen unseres Viertels fuhr. Die Kinder liefen neben ihm her und warteten darauf, dass der Esel einen steifen Schwanz kriegte. Das war gespenstisch, und ich schloss die Augen. Ich stellte mir vor, wie der grobe, schwarze Eselspenis sich ins rechte Ohr meiner Mutter bohrte und aus dem linken wieder herausschob. Sie kreischte vor Schmerz und schrie um Hilfe.

      Ein Jahr vor Ende des Krieges verlor mein Vater sein linkes Bein und seine Hoden. Das zwang meine Mutter, mich nach Hause zurückzunehmen. Mein Vater beschloss, den Beruf seines Vaters und seiner Ahnen weiterzuführen: die Produktion von Essiggemüse. Mein Großvater soll der berühmteste Verkäufer von Essiggemüse in Nadschaf gewesen sein. Der König habe ihn höchstpersönlich drei Mal aufgesucht. Ich kehrte nach Hause zurück und wurde Laufbursche und gehorsamer Diener meines Vaters. Ich war glücklich, mein Vater war ein Wunder an Güte, und trotz allem, was er durchgemacht hatte, blieb er sich treu und ließ sich nicht durch den Schmerz deformieren. Seine neue Prothese erhöhte seine Liebesenergie noch. Er verwöhnte meine Mutter und überschüttete sie mit Geschenken: goldene Ketten und Ringe und rosenbestickte


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