Der Verrückte vom Freiheitsplatz. Hassan Blasim
Binde von den Augen. Ich befand mich in einem völlig leeren, kalten Zimmer. Dann stürzten sich drei wild gewordene Gestalten auf mich und droschen auf mich ein. Danach war alles wieder finster.
Am Anfang hatte ich den Eindruck, einen Hahnenschrei gehört zu haben. Ich schloss die Augen, konnte aber nicht schlafen. In meinem linken Ohr spürte ich einen stechenden Schmerz. Mühsam drehte ich mich auf den Rücken und schob mich zum Fenster, das frisch verbarrikadiert war. Ich hatte fürchterlichen Durst. Dass ich mich in einem Haus in einem alten Bagdader Viertel befand, war leicht am Stil des Zimmers zu erkennen, besonders an der alten Holztür. Aber um ehrlich zu sein, ich weiß nicht recht, welche Einzelheiten meiner Geschichte Sie eigentlich so interessieren, damit ich in Ihrem Land als Flüchtling anerkannt werde. Mir fällt es sehr schwer, diese grauenvollen Tage zu beschreiben. Ich will aber doch noch ein paar Dinge erwähnen, die mir auch wichtig scheinen. Ich hatte das Gefühl, dass Gott und hinter ihm der Prof sich während meiner Heimsuchung nie von mir abgewendet haben. Gott war unverbrüchlich in meinem Herzen präsent. Er gab mir Sicherheit und rief mich zur Geduld. Der Prof hielt mein Gehirn beschäftigt und half mir über die Brutalität meiner Gefangenschaft hinweg. Er war mein Trost und meine Hoffnung. Während all dieser schwierigen Monate dachte ich daran, was er von seinem Freund, dem Ingenieur Dawûd, erzählt hatte. Er schien sich dafür zu interessieren, wie in der Welt alles miteinander verbunden ist, und wo die Macht und der Wille Gottes dabei stehen. Wir tranken zusammen am Tor zum Krankenhaus Tee, und der Prof erzählte: »Während mein Freund Dawûd das Auto der Familie durch Bagdad lenkte, schrieb ein irakischer Dichter in London einen feurigen Artikel zum Lob des Widerstands, auf dem Tisch vor sich eine Flasche Whisky, die sein Herz festigen sollte. Da nun auf der Welt über irgendwelche geheimen Kanäle – Gefühle, Wörter, Albträume – alles miteinander verbunden ist, sprangen aus dem Artikel drei vermummte Gestalten und hielten das Auto an. Sie töteten Dawûd, seine Frau, seinen kleinen Sohn und seinen Vater. Seine Mutter saß zu Hause. Sie wusste weder etwas von dem irakischen Dichter noch von den drei Männern. Sie wusste aber, wie man den Fisch zuzubereiten hatte, der auf alle wartete. Der Dichter schlief volltrunken auf seinem Kanapee in London ein, während Umm Dawûds Fisch kalt wurde und die Sonne in Bagdad verschwand.«
Die Tür ging auf, ein groß gewachsener, bleicher junger Mann kam herein. Er brachte etwas zum Frühstück, das er mir lächelnd hinstellte. Zunächst wusste ich nicht recht, was ich sagen oder tun konnte. Ich warf mich ihm zu Füßen und flehte unter Tränen: »Hören Sie, ich bin Vater von drei Kindern. Ich bin ein gottesfürchtiger Mensch und befolge die religiösen Pflichten. Ich habe nichts mit der Politik und nichts mit den religiösen Gruppierungen zu tun. Gott schütze euch! Ich bin nichts als ein Ambulanzfahrer, schon immer, vor der Besetzung Bagdads und seither. Ich schwöre es bei Gott und seinem edlen Propheten.« Der junge Mann legte den Finger auf den Mund und ging hinaus. Jetzt ist es aus mit mir, davon war ich überzeugt. Ich trank das Glas Tee und verrichtete mein Gebet, in der Hoffnung, Gott werde mir meine Sünden verzeihen. Bei der zweiten Niederwerfung hatte ich das Gefühl, ein eisiger Schwall überspüle mich. Fast hätte ich einen Angstschrei ausgestoßen. In diesem Augenblick öffnete der junge Mann wieder die Tür. Diesmal trug er einen Scheinwerfer auf einem Ständer. Er war in Begleitung eines Jungen mit einer Kalaschnikow, der neben mir Stellung bezog, die Waffe auf meinen Kopf gerichtet. So blieb er unbeweglich stehen. Ein fetter Mann in den Vierzigern kam herein, der aber überhaupt keine Notiz von mir nahm. Er hängte ein schwarzes Tuch an die Wand, auf dem ein Koranvers stand, der die Muslime zum Dschihâd aufrief. Dann kam eine weitere vermummte Gestalt mit einer Videokamera und einem kleinen Laptop herein. Ihm folgte ein Junge, der ein Holztischchen trug. Der Vermummte schäkerte mit ihm, kniff ihn in die Nase und dankte ihm. Er stellte den Laptop auf das Tischchen und machte sich daran, seine Kamera gegenüber dem schwarzen Transparent aufzustellen. Der hagere junge Mann testete drei Mal hintereinander sein Beleuchtungsgerät, dann ging er hinaus.
»Abu Dschihâd …! Abu Dschihâd …!«, schrie der fette Mann.
»Einen Augenblick!«, hörte man den jungen Mann außerhalb des Zimmers rufen. »Ich komm gleich, Abu Arkân!«
Dann kam er zurück, diesmal beladen mit dem Sack mit den Köpfen, den sie aus dem Ambulanzfahrzeug geholt hatten. Der Gestank war bestialisch, alle hielten sich die Nase zu. Der fette Mann befahl mir, mich vor das schwarze Transparent zu setzen. Meine Beine versagten den Dienst, aber der fette Mann zerrte mich am Kragen hoch. Dann kam noch jemand herein, ein einäugiger Mann, eine mächtige Gestalt mit einer Uniform über dem Arm. Er befahl dem Fetten, mich sofort loszulassen, setzte sich neben mich und legte mir wie ein Freund den Arm um die Schulter. »Keine Angst«, sagte er. Sie würden mich nicht abschlachten, ich würde ja mit ihnen zusammenarbeiten und hätte ein gutes Herz. Ich verstand nicht recht, was das heißen sollte, ich hätte ein gutes Herz, aber er versicherte mir, in ein paar Minuten sei alles vorbei. Der Einäugige zog einen Zettel aus der Tasche und gab ihn mir zum Lesen. Währenddessen machte sich der Fette daran, die übel riechenden Köpfe aus dem Sack zu holen und sauber vor mir aufzureihen. Auf dem Zettel stand, ich wäre Offizier in der irakischen Armee, und diese Köpfe da gehörten anderen Offizieren. Ich wäre mit meinen Kollegen in fremde Häuser eingedrungen, wir hätten Frauen vergewaltigt und unschuldige Bürger gequält. Von einem hohen Offizier in der amerikanischen Armee hätten wir Tötungsbefehle erhalten, und zwar gegen eine stattliche Belohnung. Der Einäugige hieß mich die Uniform anziehen, und der Fotograf befahl allen, sich hinter die Kamera zurückzuziehen. Dann machte er sich daran, meinen Kopf zurechtzurücken wie ein Friseur, danach auch die Köpfe, die vor mir lagen. Schließlich bezog er hinter der Kamera Stellung und rief: »Aufgepasst!«
Die Stimme des Kameramannes war Balsam für meine Ohren. Sie klang wie die eines bekannten Schauspielers oder wie die des Profs, wenn er sich Mühe gab, ruhig zu reden. Nach der Videoaufnahme sah ich erst einmal niemanden mehr aus der Gruppe außer dem jungen Mann, der mir Essen brachte und mir verbot, Fragen zu stellen. Jedes Mal, wenn er mit etwas Essbarem kam, wusste er einen neuen Witz über Politiker oder religiöse Führer zu erzählen. Mein einziger Wunsch wäre gewesen, mit meiner Frau zu telefonieren. Ich hatte für den Fall der Fälle etwas Geld beiseitegelegt und so versteckt, dass es nicht einmal ein Dschinn finden würde. Doch sie blieben unerbittlich. Der einäugige Anführer der Gruppe hatte mir erklärt, alles Weitere hänge vom Erfolg des Videos ab. Und dieser stellte sich tatsächlich zur allgemeinen Überraschung umgehend ein. Al-Dschasîra sendete das Video. Ich durfte es sogar im Fernsehen anschauen. Alle hopsten vor Freude herum. Der Fette küsste mich sogar auf den Kopf und versicherte mir, ich sei ein hervorragender Schauspieler. Wütend machte mich aber, dass der Nachrichtensprecher bei al-Dschasîra seinen Zuschauern weismachte, der Sender habe sich über verlässliche Quellen von der Authentizität des Films überzeugen können. Das Verteidigungsministerium habe das Verschwinden der Offiziere bestätigt. Nach dem Erfolg der Ausstrahlung des Videofilms behandelten sie mich mehr als gut. Sie sorgten sich um mein Essen und meine Schlafstätte und erlaubten mir, mich zu duschen. Ihre Krönung erfuhr diese zuvorkommende Behandlung in der Nacht, als sie mich an eine andere Gruppe weiterverkauften. Drei Vermummte aus jener Gruppe kamen ins Zimmer und fielen, nachdem sich der Einäugige herzlich von mir verabschiedet hatte, über mich her und verprügelten mich. Danach fesselten und knebelten sie mich und stopften mich in den Kofferraum eines Autos, das losraste.
Diesmal fuhren wir lange. Möglicherweise bis in die Außenbezirke von Bagdad. Jedenfalls holten sie mich in einem tristen Dorf, in dem überall jaulende Hunde herumstreunten, aus dem Auto und sperrten mich in einen Stall. Zwei Männer bewachten mich abwechselnd Tag und Nacht. Ich weiß nicht, warum sie mich, offenbar vorsätzlich, hungern ließen und mich demütigten. Sie waren völlig anders als die erste Gruppe. Dauernd vermummt, sprachen sie kein einziges Wort mit mir und verständigten sich untereinander mit Zeichen. Auch aus dem Dorf vernahm man während des ganzen Monats, den ich in diesem Stall zubrachte, keinen einzigen menschlichen Laut. Nur das Kläffen der Hunde war zu hören. Die Stunden vergingen schwer und zäh. Ich wünschte mir, irgendetwas würde geschehen und ein wenig Abwechslung in diese endlose Gefangenschaft mit drei Kühen bringen. Bald hörte ich auf, darüber nachzudenken, welcher religiösen Gruppierung oder welcher politischen Partei diese Leute angehörten. Ich hörte auf, mein Schicksal zu beklagen. Was sich da ereignete, musste ich schon einmal erlebt haben, und zwar vor gar nicht so langer Zeit, ja, nur vor einem Weilchen. Doch diesmal schien alles so langsam und durcheinander. Es kam mir überhaupt