Der Verrückte vom Freiheitsplatz. Hassan Blasim
und anderen hohen Politikern, die meine Aufrichtigkeit und meine Genialität in den höchsten Tönen priesen. Einladungen regneten aus dem Ausland auf das Ministerium hernieder, aber dieses Mal lehnte ich alle ab und brachte als Erklärung vor, das Land sei teurer und wichtiger als alle Preise und Kongresse dieser Welt. Unter den schwierigen gegenwärtigen Umständen bedürfe das Land aller seiner rechtschaffenen Söhne. In Wirklichkeit wollte ich nur eine Lösung für die Geschichten finden, die jeden Morgen in schwindelerregender Zahl wie ein Heuschreckenschwarm über das Büro hereinbrachen: Heute hundert, morgen zweihundert, und so fort.
Euer Ehren, fast hätte mich mein Panzerhirn verlassen. Schließlich erhielt ich die Adresse vom Zuhause des Soldaten. Ich besuchte seine Familie und überzeugte mich von seinem Ableben. Die Mutter erzählte mir, sie habe gar nicht glauben können, dass er tot war. Er habe nur ein winziges Loch in der Stirn gehabt. Die Kugel eines Scharfschützen. Von seiner Frau erhielt ich die Angaben über sein Grab und ließ der Familie etwas Geld da. Weitere Lagerräume des Ministeriums füllten sich mit Heften. Wie sollte ich der Partei und der Regierung je plausibel machen, ich hätte alle diese Texte geschrieben? Und warum in Schulhefte? Und warum mit Namen von Soldaten in der Grundschule? Und warum bewahrte ich sie auf diese Weise auf? Es gab Dutzende von Fragen und keine einzige einleuchtende Antwort.
Irgendwo am Rand der Stadt kaufte ich mir alte Mehlspeicher, in der Annahme, der Zustrom von Heften werde andauern. Ich bezahlte drei Arbeitern des Ministeriums horrende Summen, damit sie mir halfen, das Grab des Soldaten zu öffnen. Er lag da, verwesend und mit einem Loch in der Stirn. Ich schüttelte ihn mehrfach, um ganz sicherzugehen, dass er tot war. Ich flüsterte ihm etwas ins Ohr, dann schrie ich ihn an und beschimpfte ihn unflätig, damit er endlich den Mund aufmachte oder wenigstens den kleinen Finger rührte. Aber er war tot, mausetot. Aus seinem Nacken kroch eine Made, verfolgt von einer zweiten. Beide verschwanden rasch wieder an seiner Schulter.
Euer Ehren, vielleicht glauben Sie ja diese Geschichte nicht. Aber ich schwöre Ihnen bei Ihrer Allmacht, dass sich die Mehlspeicher und die Lagerräume des Kulturministeriums im Lauf eines Jahres mit den Texten des Soldaten füllten. Natürlich konnte ich unmöglich alle lesen. Ich fischte mir lediglich ein Spezimen aus jedem Packen heraus, und ich schwöre Ihnen, dass sie nicht nur zahlenmäßig mehr wurden, sondern auch immer brillanter und origineller. Aber ich zitterte und spürte, dass das Ende nahte, wenn diese Geschichtenflut nicht innehielt. Gewiss, ich ließ keinen möglichen oder unmöglichen Weg aus, Auskünfte einzuholen und Nachforschungen anzustellen. Ich erkundigte mich nach den Poststellen, an denen die Pakete aufgegeben wurden. Es waren, unter Verwendung des immer gleichen Namens, verschiedene Orte an der Front. Von der Person aber gab es keine Spur. Irgendwann einmal musste ich aber meine Ermittlungen einstellen, damit die Sache nicht aufflog.
Nochmals ging ich zum Grab des Soldaten und verbrannte seine Leiche. Dann trennte ich mich von meiner zweiten Frau und gab meine Arbeit auf. Ein Psychiater hatte mir attestiert, dass mein Gesundheitszustand immer mehr zu wünschen übrig lasse. Ich packte alle Hefte mit den Geschichten aus den Lagerräumen des Kulturministeriums und den ehemaligen Mehlspeichern zusammen und kaufte mir ein abgelegenes Grundstück. Dort errichtete ich mir einen privaten Verbrennungsofen, einen großen Speicher, ein Zimmer und einen Abort. Das Ganze umgab ich mit einer hohen Mauer. Ich war überzeugt, die Hefte würden weiterhin, auch an meine neue Adresse, hereinfluten. Aber diesmal war ich vorbereitet. Es geschah wie erwartet, vom ersten Morgen auf meiner »Farm« an arbeitete ich Tag und Nacht hart und intensiv daran, die Geschichten und Namen der Soldaten in den bunten Schulheften zu verbrennen, immer in der Hoffnung, einmal werde der Krieg enden und mit ihm dieser Wahnsinn aus kakifarbenem Sperma.
Nach langen, schrecklichen Jahren hörte der Krieg auf, Euer Ehren, aber ein neuer begann, und mir blieb keine andere Wahl, als weiter zu verbrennen. Seien Sie gnädig und nachsichtig.
Euer Ehren.
Jetzt, bevor man mich in das Leichenschauhaus zurückbringt. Ich weiß, dass Sie fähig und weise und wissend und großmütig sind, aber haben Sie auch bei einer Truppenzeitung gearbeitet? Warum haben Sie einen Brennofen für ihre Romanmenschen?
Alis Tasche
Als in Bagdad das Denkmal des Diktators stürzte, kam es im Fernsehraum zu einer bösartigen Auseinandersetzung. Sechs junge Sudanesen begannen eine Prügelei mit einer Gruppe Iraker, die den Sturz des Diktators feierten. »Die Amisoldaten werden eure Frauen vögeln. Warum freut ihr euch darüber?« Diese Äußerung eines Sudanesen namens Jûssuf hatte den Funken entzündet.
Die Afghanen und ein paar Nigerianer versuchten, die Streithähne zu trennen. Die Iraner verließen den Raum und schauten lieber durchs Fenster zu. Es floss viel Blut. Einer der Sudanesen musste bewusstlos ins Krankenhaus gebracht werden, nachdem ihm jemand den Schädel eingeschlagen hatte. Als die Ordnungshüter eintrafen, stank es im Raum bestialisch und das Mobiliar war zertrümmert. Ich betrachtete, kalt und distanziert, von der Tür aus die Schlägerei. Seit über drei Jahren war ich nun schon im Aufnahmezentrum für Flüchtlinge in der kleinen italienischen Stadt und hatte schon so manche böse Streiterei miterlebt. Solche Streitereien brachen aus wegen Waschpulver oder wegen Frauenunterwäsche. Letzteres geschah beispielsweise, als die Kurdin Barwên ihren kurdischen Mitflüchtlingen erzählte, einen jungen Pakistaner dabei beobachtet zu haben, wie er ihre Unterwäsche von der Leine klaute. Das löste einen Ehrenhändel zwischen den Pakistanern und den Kurden aus, der erst nach drei Tagen zu Ende ging, nachdem der Chef des Zentrums die Polizei zu Hilfe gerufen hatte, da das Wachpersonal der Lage nicht Herr wurde.
Was bei dieser Schlägerei im Fernsehraum meine Neugier weckte, war Ali Basrâwi. Er saß, seine Tasche fest an sich gedrückt, mit einem irren Grinsen in einer Ecke des Zimmers. Dieser sanfte junge Mann hatte sich seit seiner Ankunft sehr verändert. Ich lud ihn am Abend zu einem Kaffee in mein Zimmer ein, um mehr über ihn zu erfahren und mich von ihm zu verabschieden. Er hatte beschlossen, nach Finnland weiterzuziehen, eine Entscheidung, die mich nicht so recht überzeugte. Ich riet ihm, doch lieber nach Deutschland oder in ein anderes Land zu gehen, wo die Chancen vielleicht besser wären, Arbeit zu finden. Wir unterhielten uns lange: über seine Träume, seine Ängste, seine Pläne. Er erzählte mir, er könne die Stimme seiner Mutter hören. Sie habe liebevoll zu ihm gesprochen und ihm Ratschläge erteilt, aber sie habe ihn auch dafür getadelt, was im Wald in Griechenland mit ihrem Kopf passiert sei. Auch er war glücklich, als der Diktator stürzte, doch ihn ängstigte der Gedanke, die europäischen Länder würden aufhören, irakische Flüchtlinge aufzunehmen. Ich tröstete ihn, die Verhältnisse im Land könnten sich verändern und wir alle vielleicht bald wieder nach Hause und zu unseren Familien zurückkehren. Doch dann erinnerte er mich an seine bleigraue Tasche. »Ich habe weder Familie noch Freunde, noch Hoffnung. Alles, was ich besitze, trage ich in dieser Tasche mit mir herum. Ich wünsche mir nur, meine Mutter an einen sicheren und ruhigen Ort zu bringen. Die Arme hat lange genug gelitten.«
Ich habe mir oft vorgestellt, mein Leben damit zu verbringen, all die skurrilen Geschichten niederzuschreiben, die ich auf den geheimen Pfaden der Emigration erlebt hatte. Das ist mein Krebs, von dem ich nicht weiß, wie ich von ihm geheilt werden kann. Ich fürchte, ich könnte ein so seltsames Ende finden wie der irakische Schriftsteller Châlid Hamrâwi, der sein ganzes Leben lang über die Leute des einfachen Markts unweit seines Hauses geschrieben und, als der Markt abgerissen und an seiner Stelle ein großer Wohnblock errichtet wurde, Selbstmord begangen hatte. Er hinterließ sechs Bände mit Geschichten, die alle vom Weben und Leben auf diesem Markt erzählen. Einmal unterhielt ich mich mit einem jungen deutschen Romanautor über meine persönlichen Erfahrungen als klandestiner Emigrant und meine Vorstellungen darüber, wie das Erlebte fiktional zu gestalten sei. Als dann der junge Deutsche von sich zu reden begann, gab er zu, noch nie etwas Substanzielles geschrieben zu haben. Der Grund dafür, glaubte er, liege in seinem jugendlichen Alter und seinem geringen Erfahrungsschatz. Ich hatte fast das Gefühl, er beneide mich um all meine seltsamen und schmerzhaften Lebenserfahrungen. Doch statt mir darauf etwas einzubilden, schämte ich mich. Seine Bemerkungen hatten mir wieder einmal gezeigt, was für ein zerstörtes und orientierungsloses Etwas ich war. Bittere Scham ergriff von mir Besitz, die Scham jenes Mannes, von dem Andrej Tarkowskij erzählt: Ein Mann hat auf der Straße einen Unfall, bei dem ihm ein Arm abgetrennt wird. Als sich Passanten versammeln und