Arztroman. Kristof Magnusson

Arztroman - Kristof Magnusson


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menschliche Körper konnte meisterhaft auf Sparflamme schalten. Verlor er Blut, wurden unwichtige Stellen weniger versorgt, Organe heruntergefahren, Gefäße zusammengezogen, es wurde schneller gepumpt. Besonders junge Leute konnten so über lange Zeit eine innere Blutung ausgleichen. Der Nachteil dieser Qualität war, dass es, wenn alles das nichts mehr half, sehr schnell vorbei ging. Anita sprang auf, warf die Decke fort und schrie:

      »Stop!« Geblendet von dem Scheinwerferlicht, das den Unfallort unter der U-Bahn-Strecke erhellte wie einen Fußballplatz, stieß sie mit dem Helm gegen das Dach, stolperte aus dem Wagen und rempelte die Feuerwehrleute zur Seite, die gerade an der A-Säule auf der Beifahrerseite ansetzten. Der Staffelführer sah Anita an, als habe sie einen Scherz gemacht.

      »Er schmiert ab. Wir müssen ihn herausholen. Sofort.«

      »Wir brauchen nur noch ein paar Minuten.«

      »Wir haben keine paar Minuten. Er verblutet.«

      Sowohl die Feuerwehrleute, als auch der Staffelführer sahen nun auf den Jungen. Blut war nirgendwo zu sehen. Und doch war Anita sich sicher. Irgendwo in ihm musste etwas geplatzt sein, ein Blutgefäß wahrscheinlich. Da war die Energie des Aufpralls geblieben.

      »Aber er hat gesagt, er spürt seine Beine nicht mehr«, sagte der Staffelführer. »Der hat doch etwas an der Wirbelsäule.«

      »Es ist mir egal, was der an der Wirbelsäule hat. Besser im Rollstuhl als tot«, sagte Anita. »Er muss da sofort raus.«

      »Wenn Sie meinen. Sie haben studiert.«

      Für einen kurzen Moment passierte nichts. Doch Anita war sich sicher, dieser Junge verlor mit jeder Sekunde, jedem Herzschlag Blut. Als die Feuerwehrleute schon wieder die Hydraulikschere anlegen wollten, kletterte Anita zurück in den Wagen. Sie kniete sich auf den Beifahrersitz und legte einen Arm um den Jungen. Sie musste alle Kraft aufwenden, um überhaupt zwischen seinem Rücken und dem Sitz durchzukommen, doch schließlich schaffte sie es, ertastete auf der anderen Seite einen Hebel, zog daran und die Lehne des Fahrersitzes schoss nach hinten. Obwohl Anita den Jungen hielt so gut sie konnte, sackte sein Oberkörper in sich zusammen. Sie drehte ihn zur Seite, bis er ihr in die Arme fiel und sie seinen Bauch umfassen konnte. Anita ergriff seinen rechten Arm, hielt ihn als Schutz vor seine Leber, rutschte auf dem Beifahrersitz zurück, schob ihn, zog an ihm, vor, zurück, wieder vor, doch er kam nicht frei. Sie griff mit der anderen Hand nach einem seiner Füße, riss einmal daran, zweimal, dann packte sie das Bremspedal und bog es aus dem Weg, was ewig zu dauern schien. Jetzt war er frei. Sie zerrte den fast weißen Körper über Handbremse und Schalthebel hinweg, stellte einen Fuß auf die Straße, stemmte sich mit dem anderen gegen den Wagen und riss so lange weiter an dem Jungen mit der Halskrause, bis sie, ihn im Arm, auf der Straße stand. Voller Schreck sahen die Feuerwehrleute ihr zu, hatten sie doch bisher alles getan, um auch die kleinste Verdrehung seines Körpers um jeden Preis zu vermeiden. Selbst in der Menge der Schaulustigen, die sich inzwischen auf der anderen Seite der Skalitzer Straße angesammelt hatte, kam Unruhe auf. Doch Anita war sich sicher, dass jetzt nur noch eins zählte: Zeit.

      Wenigstens wussten nun alle, dass sie es ernst meinte.

      »Einladen. Losfahren«, rief Anita. Der Staffelführer kam ihr zu Hilfe, fasste dem Jungen unter einen Arm und zog ihn zusammen mit Anita aus dem Wagen. Zwei weitere Feuerwehrleute kamen und halfen, ihn auf die Trage zu legen, in Schocklage, Beine hoch, im nächsten Moment war er bereits im Rettungswagen und sie fuhren los.

      Während einer der Rettungsassistenten den RTW zurücksetze, fiel Anitas Blick ein letztes Mal auf den Unfallwagen. Mit den groben Holzbalken, auf die er nun gestützt war und dem halb entfernten Dach, erinnerte der BMW an altmodische, konsumkritische Objektkunst, die die Symbole der Wohlstandsgesellschaft als Schrott darstellte; Anita hatte so etwas in den Hinterhöfen besetzter Häuser von Berlin-Mitte gesehen.

      Das Martinshorn ging an und nicht mehr aus, während sie am Schlesischen Tor vorbei, über die Warschauer Brücke zum Frankfurter Tor fuhren und dann abbogen in Richtung Unfallkrankenhaus Berlin-Marzahn.

      Anita gab ihm so viel NaCl wie möglich. Wenn schon immer weniger Blut durch seine Adern floss, sollte zumindest Kochsalzlösung an dessen Stelle treten. Als sie das Portemonnaie des Jungen durchsuchte, um seinen Namen herauszufinden, fiel ihr Blick auf das Bild von einem Paar, das nicht wesentlich älter aussah als ihr Ex-Mann Adrian und sie. Sie sah es nicht lange an.

      Da Anita den Jungen telefonisch als Polytrauma angekündigt hatte, stand bei ihrer Ankunft im UKB alles bereit, was die Nachtschicht eines Trauma-Zentrums zu bieten hatte, Anästhesie, Radiologie, Unfallchirurgie, Neurochirurgie, Pflegepersonal, eine MTA; ein Dutzend Menschen, die mit ihren bunt gemusterten Röntgenschutz-Schürzen aussahen, als wollten sie gleich an einer Kunst-Performance teilnehmen.

      Sobald sie den Jungen in den Schockraum geschoben hatten, rief der Unfallchirurg:

      »Alles Ruhe! Übergabe durch den Notarzt«, und Anita berichtete. Dann lief eine Choreographie ab, die Anita schon oft erlebt hatte, aber doch immer aufs Neue faszinierend fand. Der Patient wurde von der Trage auf den Untersuchungstisch gehoben, ein Radiologe hatte das Ultraschallsystem schon in der Hand, mit Gel eingeschmiert und drückte es sofort auf den Bauch, um nach der Blutung zu suchen, eine Krankenschwester schnitt die Kleider auf, während ein Pfleger einen Blasenkathether legte, eine Narkose eingeleitet und Röntgenbilder gemacht wurden. Alle stürzten sich gleichzeitig auf den Jungen wie ein Schwarm Piranhas. Und so schnell es eben noch gehen musste, war für Anita nun alles vorbei.

      Sie stellte sich abseits an einen Tisch, schrieb ihr Einsatz-Protokoll und hörte währenddessen mit einem Ohr, dass die Ultraschalluntersuchung ihren Verdacht bestätigt hatte. Die Aorta des Jungen war eingerissen. Ein ursprünglich kleiner Riss hatte sich durch den hohen Druck ausgedeht, und die Blutung war im Nu so stark geworden, dass sie auf die Wirbelsäule drückte. Wenn alles gut lief, hatte er deswegen seine Beine nicht mehr gespürt.

      »Ihr schickt uns dann ein Fax mit der Diagnose?«, fragte Anita, schon auf dem Weg zur Tür.

      »Aber klar. Wie immer«, sagte der Unfallchirurg. »Vielen Dank und bis zum nächsten Mal. »

      Als Anita das Unfallkrankenhaus verließ, wartete Maik bereits mit dem NEF auf sie. So konnten sie bereits auf der Rückfahrt zum Stützpunkt auf dem Funkmeldesystem die Eins drücken und waren wieder einsatzbereit über Funk, doch den Rest der Nacht blieb es ruhig. Kein Alarm mehr, sodass Anita nun wirklich einschlafen konnte, erst kurz vor Schichtwechsel wieder aufwachte und das Fax vom Unfallkrankenhaus Marzahn vorfand: Der Junge war notoperiert worden und nun stabil, die Wirbelsäule unverletzt. So verließ Anita um kurz nach acht das Urban-Krankenhaus in bester Laune.

      Die Nacht hatte kaum Abkühlung gebracht. Jetzt schien es sogar schon wieder heißer zu werden, die Sonne war längst aufgegangen, der Morgen voll da. Anita Cornelius ging auf ihrem Heimweg an der Suffmanufaktur vorbei, einer Kneipe, die nie schloss. Im Laufe der Jahre waren immer mehr Fensterscheiben durch Sperrholzplatten ersetzt worden, dennoch konnte Anita erkennen, dass die Kneipe rappelvoll war, da flog die Tür auf, zwei junge Männer in engen Jeans, Baseball-Caps und Feinripp-Unterhemden wankten heraus, und der eine sagte zu dem anderen:

      »And now, let’s get drunk.«

      Anita ging weiter. So wie jede Nachtschicht mit der Tagesschau begann, ging sie jeden Morgen nach ihrer Ablösung hier vorbei, denn sie fühlte sich auf merkwürdige Art mit diesen Menschen verbunden, die ebenso die Nacht durchwacht hatten wie sie. Erst wenn sie die Suffmanufaktur passierte hatte, war die Nacht für sie vorbei; sie sah das Licht, spürte die Sonne, hörte die Mauersegler, die sirrend an den Hauswänden hinabstürzten und dann wieder in einen Himmel hinaufstiegen, der sich weiß in Richtung Sonne streckte.

      Sie schlief noch einige Stunden und stand gegen Mittag wieder auf, um aufzuräumen. Ihr Sohn kam heute zu ihr, und Anita wollte nicht, dass ihre Wohnung einen unordentlichen Eindruck machte. Also ging sie in ihr Wohnzimmer, hob zwei Eispackungen, eine Weinflasche und eine fast leere Tüte Erdnuss-Flips vom Boden auf und tat sie in die Plastiktüte des China-Imbisses Glück, in der sie gestern eine Siebenundvierzig-mit-Reis nach Hause getragen hatte.

      Auch ein Jahr nach der Trennung


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