Arztroman. Kristof Magnusson
Dieses Lächeln war eine seiner ersten Reaktionen in diesem Leben gewesen, sie war der erste Mensch, der es je gesehen hatte; mit diesem Lächeln hatte er ihr zum ersten Mal gesagt: Ich bin dein Sohn.
Anita blieb noch einen Moment im Türrahmen stehen, Lukas’ Schritte im Treppenhaus wurden langsam leiser.
»Viel Spaß«, rief Anita ihm hinterher, als wäre das die normalste Sache der Welt. Und eigentlich war es das ja auch.
Anita drehte eine ratlose Runde durch die eigens für Lukas aufgeräumte Wohnung. Was nun? Seit ihre beiden besten Freundinnen aus dem Studium sich in Speckgürtel-Praxen in Hamburg und Düsseldorf eingekauft hatten, kannte sie hier eigentlich fast nur noch Leute, die sie durch Lukas kennengelernt hatte, Familienfreunde. Sie kam sich vor, als hätte sie auf ein Date gewartet und sei versetzt worden. Normalerweise war sie nicht so. Oder wollte zumindest nicht so sein. Natürlich wurde ihr Sohn erwachsen, im Allgemeinen konnte sie das gut hinnehmen. Doch mit der Erinnerung an die vergangene Nacht hätte sie an diesem Tag die Zeit gern etwas festgehalten, die Zeit der Kindheit, die Zeit, die Zeit.
Sie beschloss, sich wieder hinzulegen. Doch als sie in ihrem Schlafzimmer stand, in dem sie auch tagsüber Licht machen musste, weil sie die Fenster mit Alufolie zugeklebt hatte, und dann auch noch ihre zwei Wecker und die maßgefertigten, rosafarbenen Ohrstöpsel sah, war ihr jede Lust vergangen, sich hier aufzuhalten – viel zu sehr fühlte sie sich durch all das an ihren Alltag erinnert, der ihr nach Lukas’ Abgang wie eine aus der Kurve geflogene Seifenkiste vorkam, die sich nicht mehr fortbewegte, auch wenn die Räder sich in der Luft noch etwas drehten. Sie öffnete die Nachttischschublade, nahm die Ausgabe der Zeitschrift Der Notarzt heraus, mit der sie ihren Kondomvorrat vor ihrem Sohn hatte verbergen wollen und verließ das Haus.
Es war nicht einmal fünfzehn Uhr. Auf ihrem Weg die Graefestraße hinunter zum Landwehrkanal gingen vor ihr zwei Männer mit abgeschnittenen schwarzen Cargo-Hosen. Einer trug ein ausgewaschenes Band-T-Shirt, New Model Army Impurity Tour 1990, sein grau melierter Pferdeschwanz verdeckte die ersten Tourdaten. Ihr Blick wanderte hinab bis zu den blassen Kniekehlen und weiter, sie registrierte kurz eine für sein Alter schon recht ausgeprägte Varikose, Krampfadern, rechts femoral, dann zog sie an ihnen vorbei und ging Richtung Norden.
Auf der Skalitzer Straße floss der Verkehr wieder. Das BMW-Wrack war entfernt, nichts erinnerte die Autofahrer auf dem Weg zum Schlesischen Tor daran, was letzte Nacht hier passiert war. Anita ging weiter, schlug einen Bogen zum Landwehrkanal und setzte sich am Ufer in ein Café, in dem sie schon einige Male gewesen war, ohne sich jemals den Namen merken zu können. Nun, wo ihr Tag nicht so verlief wie geplant, konnte sie wenigstens etwas trinken. Schon auf dem Weg hatte sie das Bild eines Glases mit kaltem Weißwein im Kopf gehabt, da stand die Kellnerin auch schon vor ihr und fragte:
»Und?«
»Ich hätte gern ein Glas Pfefferminztee«, sagte Anita.
Die teilnahmslos wirkenden Augen in ihrem blass geschminkten Gesicht, die dunkelroten Lippen und die Frisur, der wie mit dem Rasiermesser präzis gezogene Pony, ließen die Kellnerin derart streng aussehen, dass Anita sich nicht getraut hatte, mitten am Tag ein Glas Wein zu bestellen, wenngleich sie wusste, dass es der Kellnerin herzlich egal gewesen wäre. Die Kellnerin hatte eine Windrose auf die linke Schulter tätowiert, die bei allen Bewegungen ihre kreisrunde Form behielt, sogar als sie sich wenig später nach vorn beugte, um den Tee vor Anita hinzustellen. Er kam in einem Latte-Macchiato-Glas, sodass Anita eine gefühlte Ewigkeit warten musste, bis sie, das Glas vorsichtig am obersten Rand anhebend, den ersten Schluck nehmen konnte. Als sie sich auch dann noch die Zunge verbrannte, winkte sie die strenge Kellnerin wieder heran und sagte:
»Und vielleicht noch einen Weißwein dazu.«
»Chardonnay? Veltliner? Riesling?«
»Eigentlich egal.«
»Dann Chardonnay«, sagte die Kellnerin, verschwand ohne eine Antwort abzuwarten und kehrte wenig später mit einem Glas zurück. Anita nahm einen ersten, für ihre Verhältnisse ziemlich großen Schluck. Sie wohnte jetzt seit einem Jahr wieder allein und war sich bei den Freiheiten, die sie sich in dieser Zeit genommen hatte, oft zehn Jahre jünger vorgekommen. Doch nun, nach dem ersten Schluck Wein am helllichten Tag, fühlte sie sich plötzlich zehn Jahre älter. Wie eine Frau mittleren Alters, deren Kinder gerade ausgezogen waren und sie mit dem Familienhund zurückgelassen hatten.
Kaum eine Viertelstunde später winkte Anita schon viel weniger zögerlich erneut nach der Kellnerin, und als sie das zweite Glas Wein trank, verschwanden diese Gedanken wie die Klumpen einer Tütensuppe in heißem Wasser. Manche schwammen länger an der Oberfläche als andere, doch schließlich waren sie alle weg.
Gegenüber stand ein Miet-Transporter, auf dessen Plane ein Seehund aufgedruckt war. Der Seehund hob den Kopf, sah Anita direkt in die Augen und wirkte dabei so aufgekratzt heiter, dass Anita sich nicht nur beobachtet, sondern dazu noch verhöhnt vorkam. Offensichtlich zog jemand im Haus gegenüber ein. Wie jedes Jahr brachte das Ende des Sommers nicht nur eine neue Herbstkollektion in die Modeläden, sondern auch mit dem beginnenden Wintersemester eine neue Kollektion von jungen Männern in ihre Nachbarschaft – ein Phänomen, das sie mit einer Mischung aus Amüsement und Melancholie betrachtete, wobei der Melancholie-Anteil in den letzten Jahren deutlich zugenommen hatte.
Anita schlug ihre Ausgabe von Der Notarzt auf, überflog die Zusammenfassungen der Artikel und begann ein Quiz, bei dem man verschiedene EKGs den passenden Diagnosen zuordnen sollte, vertiefte sich in die verschiedenen Ableitungen, die Feinheiten von Erregung und Erregungsrückbildung, Wellen, Flattern und Flimmern.
»Hey, wir kennen uns doch«, sagte jemand hinter ihr. Ein Mann, der sich an einem der anderen freien Tische niedergelassen haben musste. Anita legte eine Pause in ihrem EKG-Rätsel ein. Sie hatte diese Stimme schon einmal gehört, eine Stimme, die weder besonders hoch noch besonders tief klang, und doch in ihrem Gedächtnis geblieben war durch die Weise, wie sie in einem Moment verlebt und kratzig geklungen hatte, in nächsten jungenhaft klar. Sie drehte sich um.
»Hallo Rio. Das ist ja eine Überraschung.«
»Wirklich, so ein Zufall. Geht’s dir gut?«
»Bestens«, sagte Anita. »Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen.«
»Stimmt. Das muss irgendwann im letzten Sommer gewesen sein, oder? Auf irgendeiner Party. Fragt sich nur, auf welcher.«
»Das war im Mai, glaube ich. Oder Juni?«, sagte Anita und sah ihn an. Sah das kräftige Kinn, die große, aber ebenmäßige Nase, die an den Seiten kurz rasierten Haare und die etwas längeren Locken, die oben auf seinem Kopf saßen wie eine Schaumkrone auf einem Bier.
»Ich komme noch drauf. Ganz bestimmt«, fügte Anita hinzu. Und als Rio sie anlächelte, bemerkte sie den Ansatz erster Falten um seine Augen. Überhaupt, diese Augen. Sie waren blau, und in der Iris seines linken Auges entdeckte Anita einen kleinen braunen Fleck, eine Farbanomalie.
»Ich hab’s«, sagte Anita. »Das war im Juni. Auf der Geburtstagsparty von Maik.«
»Aber klar, jetzt wo du es sagst … Du bist eine Kollegin von Maik.«
»Und du bist ein Freund von ihm.«
»Ja. Auch«, sagte Rio und holte eine Packung Tabak hervor. »Um ehrlich zu sein, bin ich damals über Theo da hingekommen. Maiks Freund.«
»Ex-Freund, inzwischen«, sagte Anita.
»Ach ja, stimmt. Schade«, sagte Rio, während er ein Blättchen aus einem Heft pfriemelte und sich eine Zigarette drehte.
»Das finde ich auch«, sagte Anita.
»Und du warst mit deinem Sohn da. Lukas, oder? Und deinem Mann.«
»Ex-Mann, inzwischen.«
»Oh. Ich wollte nicht …«
»Kein Problem. Ich wollte auch nicht …«
Es folgte eine winzige Stille, in die sie beide fast gleichzeitig hineingrätschten, Anita setzte gerade an, da hatte Rio schon begonnen:
»Erwartest du