Die neue Medizin der Emotionen. David Servan-Schreiber
der Geburt, bei der die Variabilität am größten ist, und der Zeit des Sterbens – zum Todeszeitpunkt ist sie am niedrigsten – lässt die Veränderlichkeit um etwa drei Prozent pro Jahr nach11; ein Zeichen dafür, dass unser Körper sich immer weniger gut an Veränderungen der physischen und psychischen Konstellation anpassen kann: ein Symbol des Alterns. Die Variabilität wird geringer, da wir die physiologische Bremse – das parasympathische System – nicht trainieren, sodass es nicht mehr unter Spannung steht. Ein Muskel, dessen man sich nicht bedient, verkümmert im Lauf der Jahre. Der Beschleuniger – das sympathische System – hingegen bleibt weiterhin im Einsatz. Nach Jahrzehnten lässt unser Körper sich schließlich mit einem Auto vergleichen, das freie Fahrt hat und beliebig beschleunigen, aber praktisch nicht mehr auf Befehl abbremsen kann.
Der Rückgang der Herzschlagvariabilität bringt eine Reihe von gesundheitlichen Problemen mit sich, die mit Stress und Altern zusammenhängen: Bluthochdruck, Herzinsuffizienz, Diabetes, Herzinfarkt, plötzlicher Tod und sogar Krebs. Untersuchungen, die dies bestätigen, wurden in Lancet und Circulation (der kardiologischen Fachzeitschrift) veröffentlicht: Sobald es mit der Variabilität vorbei ist, das Herz beinahe nicht mehr auf Gefühle reagiert und vor allem nicht mehr »bremsen« kann, steht der Mensch kurz vor dem Tod.12
EIN TAG MIT CHARLES
Charles ist zwar erst vierzig, aber bereits Direktor eines Kaufhauses in Paris. Er beherrscht sein Metier meisterlich und ist schon etliche Male befördert worden. Doch jetzt leidet er seit Monaten unter starkem Herzklopfen. Das beunruhigt ihn sehr, und er hat deswegen bereits etliche Kardiologen aufgesucht. Diese konnten jedoch keinerlei Krankheit diagnostizieren. Mittlerweile ist er so weit, dass er aus Angst vor einem »Herzanfall«, der ihn wieder auf die Notfallstation brächte, den Sport aufgegeben hat und sich selber genau beobachtet, wenn er mit seiner Frau schläft. Seiner Einschätzung nach sind seine Arbeitsbedingungen »völlig normal« und auch »nicht anstrengender als anderswo«. Im Lauf unserer Sitzungen stellt sich jedoch heraus, dass er mit dem Gedanken spielt, seine Stelle – auch wenn sie ungemein prestigeträchtig ist – zu kündigen. Denn der Vorsitzende der Gruppe äußert sich oft geringschätzig und zynisch über ihn. Obwohl Charles schon länger in diesem aggressiven Klima arbeitet, ist er doch nach wie vor verletzlich und leidet unter den spitzen oder übertrieben kritischen Bemerkungen seines Chefs. Zudem setzt sich dessen Zynismus die gesamte Hierarchie hindurch fort, sodass Charles’ Kollegen im Marketing, der Öffentlichkeitsarbeit, der Finanzabteilung sich auch untereinander kühl behandeln und beißende Kommentare übereinander abgeben.
Auf meinen Rat hin stimmte Charles einer Aufzeichnung seiner Herzrhythmusschwankungen über vierundzwanzig Stunden zu. Um die Ergebnisse auswerten zu können, musste er seine verschiedenen Betätigungen im Lauf des Tages notieren. Die Interpretation der Kurve war nicht sonderlich schwierig. Um elf Uhr vormittags suchte er an seinem Schreibtisch ruhig, konzentriert und zügig Fotos für einen Katalog aus. Sein Puls war normal kohärent. Mittags tauchte sein Herz mit einer Beschleunigung um zwölf Pulsschläge pro Minute schlagartig ins Chaos ein. Zu genau diesem Zeitpunkt ging er zum Büro seines Chefs. Eine Minute später schlug sein Herz noch schneller, das Chaos war vollkommen. Dieser Zustand hielt zwei Stunden an: Er hatte sich sagen lassen müssen, sein Entwurf zur Entwicklungsstrategie, an dem er wochenlang gearbeitet hatte, tauge nichts, und es sei besser, wenn jemand anders sich darum kümmere; offenbar sei er selber nicht in der Lage, ihn klarer zu strukturieren. Beim Verlassen des Chefbüros hatte Charles einen seiner typischen Anfälle von Herzklopfen, so schlimm, dass er hinausgehen musste, um sich zu beruhigen.
Nachmittags fand eine Sitzung statt. Die Aufzeichnung zeigte erneut eine chaotische Phase, die über eine halbe Stunde andauerte. Als ich ihn fragte, konnte Charles sich zunächst nicht erinnern, was ihn so aufgebracht hatte, doch nach einigem Nachdenken fiel ihm ein, dass der Marketingdirektor, ohne ihn anzusehen, die Bemerkung ins Gespräch gestreut hatte, die Themen des Katalogs passten schlecht zu dem neuen Image, das man propagieren wolle. Bei der Rückkehr in sein Büro hatte das Chaos sich wieder gelegt, und an seine Stelle war eine relative Kohärenz getreten: Zu diesem Zeitpunkt war Charles damit beschäftigt, eine Produktionsplanung zu überarbeiten, von der er sehr viel hielt. Als er dann abends im Stau stand, schlug seine Nervosität sich unmittelbar in einer weiteren Chaosphase nieder. Nachdem er, zu Hause angekommen, seine Frau und seine Kinder begrüßt hatte, folgte erneut eine zehnminütige Kohärenz. Warum nur zehn Minuten? Weil er dann den Fernseher eingeschaltet hatte, um sich die Nachrichten anzusehen…
Verschiedene Untersuchungen ergaben, dass negative Gefühle – Zorn, Angst, Traurigkeit und selbst alltägliche Sorgen – starke Pulsschwankungen auslösen und unseren Körper ins Chaos stürzen.13 Umgekehrt zeigen andere Studien, dass positive Gefühle wie Freude, Dankbarkeit und vor allem Liebe die Kohärenz fördern. Binnen einiger Sekunden führen sie zu einer regelmäßigen Welle, die bei einer Aufzeichnung der Pulsfrequenz förmlich ins Auge sticht.14
Für Charles, wie für die meisten von uns, bedeuten die täglichen chaotischen Phasen einen veritablen Energieverlust. In einer Studie, die mehrere tausend leitende Angestellte einbezog, bezeichneten über 70 Prozent sich als »ein Gutteil der Zeit« – das heißt praktisch die ganze Zeit – »erschöpft«. Und 50 Prozent schätzten sich als eindeutig »ausgelaugt« ein!15 Wie können kompetente, engagierte Männern und Frauen, für die ihre Arbeit ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität ist, es so weit kommen lassen? Die Anhäufung chaotischer Phasen – die sie selber kaum bemerken –, die tagtäglichen Beeinträchtigungen ihrer emotionalen Ausgeglichenheit entziehen ihnen auf die Dauer Energie. Zu dem Zeitpunkt fangen wir dann an, von einer andere Stelle oder, im persönlichen Bereich, von einer anderen Familie, einem anderen Leben zu träumen.
Auf der anderen Seite durchleben wir aber auch Augenblicke der Kohärenz. Dies fällt uns ebenfalls nicht immer auf – es sind nicht unbedingt Entzückungsausbrüche oder ekstatische Momente. Josh, Sohn eines Ingenieurs, besucht oft seinen Vater und dessen Team in einem Labor in Kalifornien, das sich mit der Erforschung der Kohärenz beschäftigt. Stets begleitet ihn seine Labradorhündin Mabel. Eines Tages kamen die Ingenieure auf die Idee, die Herzkohärenz bei Josh und Mabel zu messen. Waren sie voneinander getrennt, war der Herzrhythmus bei beiden halb chaotisch, halb kohärent, völlig normal also. Sobald man sie jedoch zusammenließ, ging dieser Zustand in Kohärenz über. Trennte man sie wieder, verschwand diese beinahe augenblicklich. Bei Josh und Mabel führte die schlichte Tatsache des Zusammenseins zu Kohärenz. Das spürten sie offenbar instinktiv, denn sie waren unzertrennlich. Für sie war das Zusammensein gewiss keine außergewöhnliche Erfahrung, sondern etwas, das sie gefühlsmäßig schlicht brauchten. Etwas, das ihnen in jedem Moment gut tat. Josh fragte sich nie, ob er nicht lieber einen anderen Hund hätte, und Mabel wollte bestimmt kein anderes Herrchen. Ihre Beziehung bescherte ihnen innere Ausgeglichenheit und Kohärenz, war im Einklang mit ihrem Herzen.
Der Zustand der Kohärenz beeinflusst auch die anderen physiologischen Rhythmen; vor allem die natürlichen Schwankungen des Blutdrucks und der Atmung gleichen sich rasch der Herzkohärenz an, und alle drei Systeme stimmen sich aufeinander ab.
Es handelt sich hier um ein der »Phasenanpassung« von Lichtwellen in einem Laserstrahl vergleichbares, in diesem Fall tatsächlich als »Kohärenz« bezeichnetes Phänomen. Und eben diese Angleichung verleiht dem Laser seine Energie und Kraft. Dieselbe Energie in Form von Licht, das eine 100-Watt-Glühbirne ineffizient in alle Richtungen streut, reicht aus, um ein Loch in eine Metallplatte zu bohren, wenn sie durch Phasenangleichung kanalisiert wird. Entsprechend bedeutet Kohärenz für den Körper reine Energieeinsparung. Das war zweifelsohne der Grund, weshalb sich ein halbes Jahr nach einem Tag Kohärenztraining 80Prozent der bereits erwähnten Führungskräfte nicht mehr als »ausgelaugt« bezeichneten. Und sechsmal weniger als vorher beklagten sich noch über Schlaflosigkeit, achtmal weniger fühlten sich noch »angespannt«. Es scheint in der Tat zu genügen, nutzlosen Energieverlust zu vermeiden, um eine natürliche Vitalität wiederzuerlangen.
Charles ermöglichten einige Stunden Kohärenztraining vor dem Computer, sein Herzklopfen unter Kontrolle zu bringen. Daran ist nichts Magisches oder Geheimnisvolles. Indem er zwischen diesen Sitzungen jeden Tag ein wenig übte, sicherte er seine Fortschritte ab und verstärkte