Die neue Medizin der Emotionen. David Servan-Schreiber

Die neue Medizin der Emotionen - David Servan-Schreiber


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Medikamente greifen unmittelbar in das Funktionieren der Nervenzellen ein, doch man kann auch rein körperliche physiologische Rhythmen aktivieren, etwa die Augenbewegungen, wenn man träumt, die natürlichen Schwankungen der Herzfrequenz, den Schlafzyklus und sein Verhältnis zum Tag-/Nachtrhythmus, oder man arbeitet mit Gymnastik und Bewegung, mit Akupunktur und Ernährung. Wie wir noch sehen werden, haben Gefühlsbeziehungen und sogar die Beziehung zu anderen Menschen – eben weil wir in einer Gemeinschaft leben – eine starke physische Komponente: Man erlebt sie körperlich. Dieser Zugang zum emotionalen Gehirn ist direkter und oft wirksamer als jener über das Denken und die Sprache.

      Die Großhirnrinde reguliert Wahrnehmung, Sprache und Denken

      Die gefältelte Oberfläche des Neokortex, der »neuen Rinde«, gibt dem Gehirn sein charakteristisches Aussehen. Zugleich umhüllt er das emotionale Gehirn; er befindet sich an der Oberfläche, da er unter evolutionärem Blickwinkel die jüngste Schicht ist. Er besteht aus sechs Neuronenlagen, wie in einem Mikroprozessor vollkommen regelmäßig angeordnet und auf die optimale Verarbeitung von Information ausgerichtet.

      Und genau diese Strukturiertheit verleiht dem Gehirn seine außergewöhnliche Fähigkeit, Information zu verarbeiten. Während man sich heute noch abmüht, Computer so zu programmieren, dass sie bei allen Lichtverhältnissen und unter allen Blickwinkeln ein menschliches Gesicht erkennen, gelingt dies dem Neokortex ohne jede Schwierigkeit, und zwar innerhalb weniger Millisekunden. Beim Hören ermöglichen es ihm seine vielfältigen Fähigkeiten zur Klangverarbeitung, schon vor der Geburt zwischen der Muttersprache und jeder Fremdsprache zu unterscheiden!10

      Beim Menschen ist der Bereich des Neokortex, der sich hinter der Stirn und oberhalb der Augen befindet und als »präfrontaler Kortex« bezeichnet wird, besonders hoch entwickelt. Während das emotionale Gehirn bei allen Spezies etwa gleich groß ist (selbstverständlich in Relation zur Körpergröße), nimmt der präfrontale Kortex beim Menschen verhältnismäßig weit mehr Platz im Gehirn ein als bei allen anderen Lebewesen.

      Über den präfrontalen Kortex steuert der Neokortex Achtsamkeit, Konzentration, Hemmung oder Unterdrückung von Impulsen und Instinkten sowie die sozialen Beziehungen und sogar, wie Damasio gezeigt hat, das moralische Verhalten. Vor allem bestimmt er, ausgehend von »Symbolen«, die nur im Geist vorhanden sind – das heißt, man hat die Information nicht vor Augen oder in Händen –, die Planung der Zukunft. Achtsamkeit, Konzentration, Überlegung, moralisches Verhalten: Der Neokortex, unser kognitives Gehirn, stellt eine wesentliche Komponente unseres Menschseins dar.

      WENN DIE BEIDEN GEHIRNE NICHT

      MITEINANDER ZURECHTKOMMEN

      Die beiden Gehirne, das emotionale und das kognitive, nehmen die von der Außenwelt kommende Information nahezu gleichzeitig auf. Danach können sie entweder gut zusammenarbeiten oder aber einander die Kontrolle über Denken, Gefühle und Verhalten streitig machen. Das Resultat dieser Interaktion – Kooperation oder Konkurrenz – bedingt, was wir fühlen, und bestimmt unser Verhältnis zur Welt und zu anderen Menschen. Die verschiedenen Formen von Rivalität zwischen beiden Gehirnen machen uns unglücklich. Ergänzen sich hingegen emotionales und kognitives Gehirn und gibt das eine die Richtung vor, wie wir unser Leben gestalten wollen (das emotionale), während das andere uns dazu bringt, so klug wie möglich in eben dieser Richtung vorwärts zu gehen (das kognitive), verspüren wir eine innere Harmonie – »Ich bin genau da, wo ich in meinem Leben sein möchte«–, die jeglichem dauerhaften Wohlbefinden zu Grunde liegt.

      Emotionale Kurzschlusshandlungen

      Die Evolution setzte Prioritäten. Evolution ist vor allem eine Frage des Überlebens und der Weitergabe unserer Gene von einer Generation an die nächste. Zu welcher Vielschichtigkeit das Gehirn sich im Lauf mehrerer Jahrmillionen auch entwickelt hat, wie erstaunlich seine Fähigkeiten zur Konzentration, Abstraktion, Selbstreflexion auch sind: Hätten diese verhindert, dass wir einen Tiger oder einen Feind wahrnehmen, oder dazu geführt, dass wir einen geeigneten Sexualpartner einfach übersehen und damit eine Gelegenheit verpassen, uns zu reproduzieren, dann wäre unsere Spezies schon längst ausgestorben. Glücklicherweise ist das emotionale Gehirn immer wachsam. Seine Aufgabe ist es, aus dem Hintergrund die Umgebung zu überwachen. Sobald es eine Gefahr oder aber eine außergewöhnlich gute Gelegenheit (vom Blickpunkt des Überlebens aus) entdeckt – einen möglichen Partner, ein Territorium, irgendetwas Nützliches –, löst es augenblicklich einen Alarm aus, der binnen weniger Millisekunden sämtliche Vorgänge im kognitiven Gehirn storniert und seine Tätigkeit unterbricht. Das ermöglicht es dem Gehirn als Ganzem, sich unverzüglich auf das zu konzentrieren, was für das Überleben von wesentlicher Bedeutung ist. Beim Auto fahren lässt dieser Mechanismus uns unbewusst einen Lastwagen, der auf uns zu kommt, wahrnehmen, selbst wenn wir uns gerade angeregt mit unserem Beifahrer unterhalten. Das emotionale Gehirn erkennt die Gefahr und bündelt unsere Aufmerksamkeit, bis diese vorüber ist. Es ist auch dafür verantwortlich, wenn das Gespräch zwischen zwei Männern auf der Terrasse eines Cafés plötzlich stockt, weil ein verführerischer Minirock durch ihr Gesichtsfeld tänzelt. Und es lässt Eltern in einem Park verstummen, wenn sie aus den Augenwinkeln bemerken, wie ein unbekannter Hund sich ihrem Kind nähert.

      Wie das Team von Patricia Goldman-Rakic an der Universität Yale bewies, verfügt das emotionale Gehirn über die Fähigkeit, den präfrontalen Kortex, den am höchsten entwickelten Bereich des kognitiven Gehirns, abzuschalten (englisch: »to go offline«). Unter der Einwirkung von außergewöhnlichem Stress reagiert der präfrontale Kortex nicht mehr und verliert seine Fähigkeit, das Verhalten zu steuern. Schlagartig gewinnen die Reflexe und instinktiven Verhaltensweisen die Oberhand.11 Sie sind schneller und näher an unserem genetischen Erbe, daher hat die Evolution ihnen für Notsituationen den Vorrang eingeräumt, da sie sich offenbar besser als abstrakte Überlegungen dazu eignen, uns zu leiten, wenn das Überleben auf dem Spiel steht. Unter den gleichsam animalischen Bedingungen, unter denen unsere Vorfahren lebten, war dieses Alarmsystem von ausschlaggebender Bedeutung, und mehrere hundert Jahrtausende nach dem ersten Auftreten des Homo sapiens kommt es uns im alltäglichen Leben immer noch ungemein zustatten. Werden allerdings unsere Gefühle zu übermächtig, dann übernimmt das emotionale Gehirn, das jetzt den Vorrang vor dem kognitiven hat, allmählich die Herrschaft über unser Denken. Wir verlieren die Kontrolle über unseren Gedankenfluss und sind nicht mehr in der Lage, uns gemäß unseren eigentlichen, langfristigen Interessen zu verhalten. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn wir nach irgendwelchen Unannehmlichkeiten, im Verlauf einer Depression oder infolge eines schweren emotionalen Traumas »reizbar« sind. Das erklärt auch die »Überempfindlichkeit« von Leuten, die körperlich, sexuell oder emotional missbraucht wurden.

      In der medizinischen Praxis kennt man zwei gängige Beispiele für diesen emotionalen Kurzschluss. Erstens das so genannte posttraumatische Stresssyndrom: Nach einem schweren Trauma, etwa einer Vergewaltigung oder einem Erdbeben, verhält das emotionale Gehirn sich wie ein rechtschaffener Wachtposten, der sich hat überrumpeln lassen. Danach schlägt er viel zu oft Alarm, so als sei er nicht in der Lage, sich zu vergewissern, dass keinerlei Gefahr droht. Genau dies war bei einer Überlebenden des 11. September der Fall, die sich in unserem Zentrum in Pittsburgh behandeln lassen wollte: Noch Monate nach dem Attentat war sie wie gelähmt, sobald sie einen Wolkenkratzer betrat.

      Der zweite durchaus übliche Fall sind Angstanfälle, in der Psychiatrie auch als Panikattacken bezeichnet. In den westlichen Industrieländern hat eine von zwanzig Personen schon einmal einen solchen Panikanfall erlebt.12 Die Opfer haben oft das Gefühl, dass sie kurz vor einem Herzinfarkt stehen, so sehr ähneln sich die physischen Anzeichen. Das limbische Gehirn übernimmt von einem Augenblick auf den anderen die Kontrolle über sämtliche Körperfunktionen: Die Frequenz des Herzschlags, der Puls, rast plötzlich, der Magen verkrampft sich, Beine und Hände zittern, und die Opfer sind schweißgebadet. Gleichzeitig werden alle kognitiven Funktionen durch die Ausschüttung von Adrenalin aufgehoben: Auch wenn das kognitive Gehirn keinerlei Grund für einen derartigen Alarmzustand erkennen kann, wird es durch das Adrenalin völlig »abgeschaltet« und ist nicht mehr in der Lage, angemessen auf die Situation zu reagieren. Diejenigen, die solche Anfälle erlitten haben, beschreiben


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