Das Antikrebs-Buch. David Servan-Schreiber

Das Antikrebs-Buch - David Servan-Schreiber


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Wort unbewusst die Kiefermuskeln anspannte? Mit einem Mal sah ich sie als sie selbst, losgelöst von meinen Fragen und Zweifeln. Ihre Gegenwart war unglaublich bewegend. Allein dass es mir vergönnt war, diesen Moment zu erleben, erschien mir als ein großes Privileg. Warum hatte ich sie nicht früher so sehen können?

      Irvin Yalom, der große Psychiater und Professor an der Stanford University, zitiert in seinem Buch über den Wandel, den die Aussicht auf einen baldigen Tod bewirkt, einen Brief, den ihm Anfang der Sechzigerjahre ein Senator schrieb, kurz nachdem er erfahren hatte, dass er schwer krebskrank war.

      Ein Wandel ergriff mich, von dem ich glaube, das er nicht wieder rückgängig zu machen ist. Fragen des Prestiges, des politischen Erfolges, des finanziellen Status wurden auf einmal unbedeutend. In jenen ersten Stunden, als mir bewusst wurde, dass ich Krebs hatte, dachte ich nicht an meinen Sitz im Senat, an mein Bankkonto oder an das Schicksal der freien Welt … Meine Frau und ich hatten keinen Streit, seit meine Krankheit diagnostiziert wurde. Ich pflegte sie auszuschimpfen, weil sie die Zahnpasta von oben herausdrückte statt von unten her, weil sie nicht genügend für meinen sehr eigenwilligen Appetit gesorgt hatte, weil sie eine Gästeliste anfertigte, ohne mich zu fragen, weil sie zu viel für Kleider ausgab. Jetzt sind mir diese Dinge entweder nicht bewusst oder sie scheinen mir unbedeutend …

      Stattdessen kam eine neue Wertschätzung von Dingen, die ich einst für selbstverständlich hielt – mit einem Freund zusammen essen gehen, Muffets Ohren kraulen und seinem Schnurren zuzuhören, die Gesellschaft meiner Frau, ein Buch oder eine Zeitschrift in dem ruhigen Lichtkegel meiner Nachttischlampe zu lesen, aus dem Kühlschrank ein Glas Orangensaft oder ein Stück Kuchen zu räubern. Zum ersten Mal glaube ich, dass ich das Leben genieße. Schließlich werde ich mir bewusst, dass ich nicht unsterblich bin. Es schaudert mich, wenn ich an all die Gelegenheiten denke, die ich mir – selbst als ich bei bester Gesundheit war – durch falschen Stolz, künstliche Werte und eingebildete Kränkungen verdarb.2

      So kann die Nähe des Todes auch eine Art Befreiung sein. In seinem Schatten erhält das Leben auf einmal eine Intensität, eine Tiefe und einen Reiz, die es bis dahin nicht gehabt hat. Natürlich sind wir, wenn es so weit ist, auch verzweifelt, weil wir Abschied nehmen müssen, ähnlich wie wenn wir uns für immer von einem geliebten Menschen verabschieden müssen. Viele fürchten diese Traurigkeit. Aber wäre es nicht trauriger, wenn wir gehen müssten, ohne zuvor das Leben ausgekostet zu haben? Wäre es nicht viel schlimmer, wenn wir im Moment des Abschieds nicht Grund zur Trauer hätten?

      Ich muss gestehen, dass ich lange für diese Erkenntnis brauchte. Als ich Anna bei ihrem Einzug half, ihre Bücher zu verstauen, fiel mir ein Buch mit dem Titel What the Buddha Taught (Die Lehre Buddhas) in die Hände. Verblüfft fragte ich: »Warum vergeudest du deine Zeit mit so etwas?« Im Rückblick kann ich es kaum glauben, aber meine Erinnerung trügt mich nicht: Mein Rationalismus grenzte an Beschränktheit. In meiner Kultur waren Buddha und Christus im besten Fall altmodische Moralprediger, im schlimmsten Fall Agenten zur moralischen Unterdrückung im Dienst der Bourgeoisie. Ich war fast schockiert, dass sich die Partnerin, mit der ich zusammenleben wollte, mit solchem Unsinn beschäftigte – mit diesem »Opium fürs Volk«. Anna warf mir nur einen kurzen Blick zu, stellte das Buch ins Regal und sagte: »Ich glaube, eines Tages wirst du es verstehen.«

      Die große Wende

      Die ganze Zeit konsultierte ich weiter Ärzte und wog das Für und Wider der verschiedenen infrage kommenden Behandlungen gegeneinander ab. Nachdem ich mich für eine Operation entschieden hatte, machte ich mich auf die Suche nach einem Chirurgen, der mir genügend Vertrauen einflößte, dass ich ihm mein Gehirn anvertrauen wollte. Schließlich entschied ich mich für einen Arzt, der vielleicht nicht unbedingt als der Spezialist mit der besten Operationstechnik galt. Aber ich hatte das Gefühl, dass er am besten verstand, wer ich war und was ich erlebt hatte. Ich spürte, dass er mich nicht im Stich lassen würde, wenn es schlecht ausgehen sollte. Er konnte nicht sofort operieren, sein Terminkalender war voll. Zum Glück befand sich der Tumor zu der Zeit nicht in einer Phase raschen Wachstums. Ich musste mehrere Wochen auf einen Operationstermin warten und las in der Zeit etliche Autoren, die sich damit beschäftigt hatten, was man aus der Konfrontation mit dem Tod lernen kann. Ich stürzte mich auf Bücher, die ich einige Wochen zuvor ungeöffnet ins Regal zurückgestellt hätte. Dank Anna, die Schriftsteller aus ihrer Heimat liebte, las ich Tolstoi, und auch dank Yalom, der ihn häufig in seinem Buch zur existentiellen Psychotherapie zitiert. Ich las zunächst Der Tod des Iwan Iljitsch und dann Herr und Knecht, das einen tiefen Eindruck bei mir hinterließ.

      Tolstoi erzählt darin vom Wandel eines Gutsbesitzers, der nur seine eigenen Interessen kennt. Mit dem Vorsatz, ein überaus lukratives Grundstücksgeschäft abzuschließen, bricht der Herr in der Dämmerung ungeachtet des schlechten Wetters in seinem Schlitten auf und gerät mit seinem Knecht Nikita in einen heftigen Schneesturm. Als er erkennt, dass dies wahrscheinlich seine letzte Nacht sein wird, ändert sich seine Haltung radikal. In einer letzten, Leben spendenden Geste legt er sich auf den erfrierenden Diener, um ihn mit seiner eigenen Körperwärme zu schützen. Er stirbt, rettet aber Nikita das Leben. Tolstoi beschreibt, wie der gerissene Geschäftsmann durch diese gute Tat einen Zustand der Gnade erreicht, den er nie zuvor in seinem Leben verspürt hat. Zum ersten Mal lebt der Gutsbesitzer in der Gegenwart. Während die Kälte in ihm emporkriecht, fühlt er sich eins mit Nikita. Sein eigener Tod spielt keine Rolle, solange Nikita lebt. Jenseits des eigenen Egoismus entdeckt er eine Wahrheit, die an die Essenz des Lebens rührt, und im Augenblick des Todes sieht er das Licht – ein helles weißes Licht am Ende eines dunklen Tunnels.

      In dieser Zeit kam es zu einer entscheidenden Wende in meiner Arbeit. Bis dahin hatte sich meine Tätigkeit in erster Linie auf die Wissenschaft konzentriert; im Grunde betrieb ich Forschung um der Forschung willen, doch nun rückte ich immer weiter davon ab. Wie bei einem Großteil der medizinischen Forschung hatte die Arbeit in meinem Labor nur sehr theoretisch etwas damit zu tun, Leid zu lindern. Viele Forscher stürzen sich wie ich zu Beginn ihrer Laufbahn voller Begeisterung und Naivität auf eine Arbeit, von der sie glauben, dass sie Alzheimer, Schizophrenie oder Krebs heilen wird. Aber eines Tages, ohne dass sie wissen, wie es gekommen ist, arbeiten sie mit aller Leidenschaft nur noch daran, bessere Messtechniken für die Reaktion von Zellrezeptoren auf bestimmte Medikamente zu entwickeln. Schließlich haben sie genug Material beisammen, um Artikel in wissenschaftlichen Fachzeitschriften zu veröffentlichen, Förder gelder zu sammeln und ihr Labor am Laufen zu halten. Doch vom menschlichen Leid sind sie meilenweit entfernt.

      Die Hypothese, der Jonathan und ich nachgingen – die Rolle des präfrontalen Kortex bei Schizophrenie –, ist heute eine allgemein anerkannte Theorie, auf deren Grundlage weiterhin weltweit in zahlreichen Labors geforscht wird. Es war sicher solide wissenschaftliche Arbeit. Aber sie trug nicht dazu bei, Patienten zu heilen, nicht einmal ihren Zustand zu verbessern. Jetzt, da ich Tag für Tag mit der Angst vor Krankheit, Leid und Tod lebte, wollte ich genau daran arbeiten.

      Nach meiner Operation nahm ich meine Forschung und meine Tätigkeit im Krankenhaus wieder auf und entdeckte entgegen meinen Erwartungen, dass mir nun meine Arbeit als Arzt am Krankenbett am meisten am Herzen lag. Als ob ich jedes Mal mein eigenes Leid ein bisschen lindern würde, wenn ich einem Patienten half, der nicht schlafen konnte oder dessen dauernde Schmerzen ihn fast in den Selbstmord trieben. Ich war einer von ihnen geworden. So betrachtet war meine Arbeit als Arzt nicht länger eine Pflicht, sondern sie wurde zu einem wunderbaren Privileg. Ein Gefühl der Gnade war in mein Leben getreten.

      Das Wunder der Zerbrechlichkeit

      Ich erinnere mich an eine dieser flüchtigen Begegnungen, die uns ganz unvermutet die Zerbrechlichkeit des Lebens und die wunderbare Verbundenheit zu anderen Sterblichen, zu unseren Mitmenschen, spüren lassen. Es war nur ein kurzes Zusammentreffen auf einem Parkplatz, kurz vor meiner ersten Operation, eine Begegnung, die von außen betrachtet belanglos schien, für mich jedoch wie eine Offenbarung wirkte. Anna und ich waren nach New York gefahren, und ich parkte auf dem Parkplatz des Krankenhauses. Während ich tief die frische Luft einsog und die letzten Minuten der Freiheit vor der Aufnahme, den Tests und dem Operationssaal genoss, fiel mir eine alte Frau auf, die offenbar nach einem Krankenhausaufenthalt auf dem Weg nach


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