Das Antikrebs-Buch. David Servan-Schreiber
S-180-Zellen angriffen. Er hatte die Lösung des Rätsels gefunden. Die resistenten Mäuse konnten mit Hilfe ihres Immunsystems eine starke Abwehr mobilisieren, selbst wenn sich der Krebs schon eingenistet hatte.9
Spezialagenten gegen den Krebs
Natürliche Killerzellen (NK) sind Spezialagenten des Immunsystems. Wie alle weißen Blutkörperchen zirkulieren sie im Blutkreislauf und suchen ständig nach Bakterien, Viren oder neuen Krebszellen. Aber im Gegensatz zu anderen Zellen des Immunsystems müssen NK-Zellen nicht erst durch Krankheitserreger aktiviert werden, um sie zu bekämpfen. Sobald sie einen Feind erkennen, sammeln sie sich um den Eindringling und suchen den Kontakt von Membran zu Membran. Dann zielen sie auf ihr Opfer, ähnlich wie ein Panzergeschütz. Die »Munition« besteht aus mit Gift gefüllten Bläschen, den Vesicula.
Beim Kontakt mit der Membran der Krebszelle werden die Vesicula freigesetzt, und die chemischen Waffen der NK-Zellen (Perforin und Granzyme) durchdringen die Membran. Die Moleküle des Perforins haben eine ringförmige Struktur und bilden so eine Röhre, durch die die Granzyme in die Krebszelle eindringen können. Im Kern der Krebszelle aktivieren die Granzyme dann einen Mechanismus zur programmierten Selbstzerstörung – als würden sie der Krebszelle den Befehl zum Selbstmord geben. Diesem Befehl kann sich die Krebszelle nicht widersetzen, der Zellkern zerfällt, und das führt zum Zusammenbruch der Krebszelle. Die Zellreste werden von Makrophagen (Fresszellen) beseitigt, den Müllmännern des Immunsystems, die stets im Gefolge der NK-Zellen zu finden sind.10,11
Wie die Immunzellen von Zheng Cuis resistenten Mäusen sind menschliche NK-Zellen in der Lage, verschiedene Formen von Krebszellen zu töten, vor allem Sarkomzellen und die Zellen von Brust-, Prostata-, Lungen- und Darmkrebs.12
Eine Studie an 77 Frauen mit Brustkrebs, die über einen Zeitraum von zwölf Jahren durchgeführt wurde, hat gezeigt, wie wichtig diese Zellen für die Behandlung sind. Zunächst entnahm man den Frauen zum Zeitpunkt der Diagnose Gewebeproben des Tumors und kultivierte diese mit ihren eigenen NK-Zellen. Die NK-Zellen bestimmter Patientinnen reagierten nicht; es war, als ob ihre natürliche Vitalität auf mysteriöse Weise beeinträchtigt wäre. Die NK-Zellen anderer Patientinnen gingen dagegen vehement gegen die Krebszellen vor, was auf ein aktives Immunsystem hinweist. Zwölf Jahre später, am Ende der Studie, war knapp die Hälfte (47 Prozent) der Patientinnen, deren NK-Zellen im Labor nicht reagiert hatten, gestorben. Von denjenigen, deren Immunsystem sich unter dem Mikroskop aktiv gezeigt hatte, lebten dagegen noch 95 Prozent.13
Andere Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen: Je weniger aktiv die NK-Zellen und andere weiße Blutkörperchen unter dem Mikroskop waren, desto schneller schritt der Krebs voran und breitete sich in Form von Metastasen im ganzen Körper aus.14 Auch die Überlebensraten elf Jahre später waren deutlich geringer.15 Aktive Immunzellen spielen demnach offenbar eine wichtige Rolle dabei, das Tumorwachstum und die Metastasenbildung zu hemmen.16, 17
Den Krebs in Schach halten
Mary-Ann, eine Schottin, die gar keinen Krebs hatte, musste auf grausame Weise erfahren, welche Rolle das Immunsystem dabei spielt, die Tumorbildung im Körper zu verhindern. Sie litt unter Niereninsuffizienz, einer schweren Krankheit, bei der die Nieren das Blut nicht mehr filtern können. Dadurch sammeln sich Giftstoffe im Körper an, weshalb der Betroffene mehrmals in der Woche zur Dialyse gehen muss. Doch Mary-Ann bekam eine Spenderniere und konnte nach der Transplantation ein Jahr lang ein fast normales Leben führen. Die einzige Einschränkung bestand darin, dass sie täglich Medikamente zur Unterdrückung ihres Immunsystems einnehmen musste, die verhinderten, dass ihr Körper die transplantierte Niere als fremdes Organ abstieß. Anderthalb Jahre nach der Transplantation hatte sie stechende Schmerzen im Bereich der Niere, außerdem wurde bei einer Routinemammografie ein Knoten in ihrer linken Brust entdeckt. Die Biopsie ergab, dass es sich um Metastasen eines Melanoms handelte, eines bösartigen Hautkrebses. Allerdings hatte Mary-Ann keinen Hautkrebs, von dem die Metastasen stammen konnten. Die Ärzte standen vor einem Rätsel. Auch die Dermatologin Rona Mac Kie, die von den Chirurgen hinzugezogen wurde, konnte diesen mysteriösen Fall eines Phantommelanoms nicht erklären.II Es wurde alles getan, um Mary-Ann zu helfen. Die Immunsuppressiva wurden abgesetzt, die kranke Niere entfernt. Aber es war zu spät. Sechs Monate später starb sie an den Folgen eines Melanoms, dessen Ursprung im Dunkeln blieb.
Kurz darauf entwickelte George, ein zweiter Patient, der im selben Krankenhaus eine Nierentransplantation erhalten hatte, ebenfalls ein metastasierendes Melanom ohne Primärtumor. Dieses Mal konnte Dr. MacKie nicht an einen simplen Zufall glauben oder geheimnisvolle Vorgänge im Körper dafür verantwortlich machen. Mit Hilfe eines Registers für transplantierte Organe verfolgte sie die beiden Nieren zurück zur Spenderin. Der Gesundheitszustand der Spenderin hatte den üblichen Anforderungen entsprochen: keine Hepatitis, kein HIV und natürlich kein Krebs. Aber Rona MacKie blieb hartnäckig und stieß schließlich in einer schottischen Datenbank für Patienten mit einem Melanom auf den Namen der Spenderin. 18 Jahre zuvor war die Spenderin operiert worden, man hatte einen winzigen Hauttumor entfernt, der gerade einmal 2,6 Millimeter maß. Anschließend wurde ihr Gesundheitszustand 15 Jahre lang von einer Spezialklinik für Hautkrebs kontrolliert. Schließlich war sie ein Jahr vor ihrem tödlichen Unfall, der mit der alten, überwundenen Krebserkrankung nichts zu tun hatte, als »vollständig geheilt« eingestuft worden. In den Organen der Patientin, die nach bestem Wissen und Gewissen als »frei von Krebs« galt, hatten sich immer noch winzige Tumoren befunden, doch ihr Immunsystem hatte sie in Schach gehalten. Bei der Transplantation gelangten die Mikrotumoren in neue Körper (die von George und Mary-Ann), deren Immunsysteme absichtlich unterdrückt worden waren, damit die transplantierten Nieren nicht abgestoßen wurden. Ohne ein normal funktionierendes Immunsystem konnten sich die Mikrotumoren schnell entwickeln und ausbreiten.
Aufgrund ihrer Rechercheergebnisse konnte Dr. MacKie ihre Kollegen in der Transplantationsabteilung davon überzeugen, die Immunsuppressiva bei George abzusetzen. Stattdessen verordneten sie ihm ein Medikament zur Steigerung der Immunabwehr, damit die melanominfizierte Niere so schnell wie möglich abgestoßen wurde. Einige Wochen später konnte die Niere entfernt werden. George musste zwar wieder zur Dialyse, war jedoch auch zwei Jahre später noch am Leben und zeigte keine Anzeichen eines Melanoms. Sobald sein Immunsystem seine natürliche Stärke wiedererlangt hatte, erfüllte es seine Aufgabe und bekämpfte Tumoren.III
»Die Natur hält sich nicht an die Lehrbücher«
Mit den Mäusen von Professor Zheng Cui konnten die Wissenschaftler zeigen, dass weiße Blutkörperchen in wenigen Wochen bis zu zwei Milliarden Krebszellen beseitigen. Knapp sechs Stunden nach der Injektion der Krebszellen kommt es in der Bauchhöhle der Mäuse zu einer regelrechten Invasion von 160 Millionen weißen Blutkörperchen. Bei dieser Schlacht verschwinden 20 Millionen Krebszellen an einem halben Tag! Vor den Experimenten mit der krebsresistenten Supermaus und ihren Nachkommen hätte man nicht einmal zu hoffen gewagt, dass sich das Immunsystem in einem solchen Ausmaß aktivieren lässt: Immerhin wird es mit Krebszellen fertig, die 10 Prozent des Körpergewichts ausmachen. Niemand hätte das für möglich gehalten, am allerwenigsten die Immunologen. Die vorherrschende Meinung über die Möglichkeiten und Grenzen der Immunabwehr hätten einen klassischen Immunologen wahrscheinlich davon abgehalten, sich überhaupt Gedanken über die Ursachen der phänomenalen Gesundheit von Maus Nr. 6 zu machen. Zumindest glaubt das Lloyd Old, Professor für Krebsimmunologie am Sloan-Kettering Cancer Center in New York. An Zheng Cui (der vor seiner Begegnung mit Maus Nr. 6 so gut wie nichts über Immunologie wusste) schrieb er: »Wir müssen dankbar sein, dass Sie kein Immunologe sind. Sonst hätten Sie diese Maus ohne zu zögern sterben lassen.« Woraufhin Professor Zheng Cui antwortete: »Wir sollten einfach nur dankbar sein, dass sich die Natur nicht an die Lehrbücher hält!«19
Die Ressourcen des Körpers und seine Fähigkeit, mit Krankheiten fertig zu werden, werden von der modernen Naturwissenschaft immer noch unterschätzt. Natürlich hängt die außergewöhnliche