Das Antikrebs-Buch. David Servan-Schreiber
Entzündung zusammenhängt (siehe Tabelle 2). Das gilt für Gebärmutterhalskrebs, der meist nach einer chronischen Infektion mit Papillomaviren auftritt, und für Darmkrebs, der sehr häufig bei Patienten gefunden wird, die an einer chronischen Darmentzündung leiden. Magenkrebs hängt mit einer Entzündung durch das Bakterium Helicobacter pylori zusammen (das auch Magengeschwüre hervorruft). Leberkrebs ist oft auf eine Infektion mit Hepatitis B oder C zurückzuführen, Mesotheliome in der Lunge auf eine von Asbest ausgelöste Entzündung, Lungenkrebs auf eine Entzündung der Bronchien, verursacht durch die zahlreichen giftigen Zusätze im Zigarettenrauch.
Fast 20 Jahre nach Harold Dvoraks bahnbrechendem Artikel veröffentlichte das amerikanische National Cancer Institute einen Bericht über die Forschung zu Entzündungsprozessen, die von Onkologen immer noch allzu oft ignoriert werden.28 Darin wird ausführlich beschrieben, wie die Krebszellen die Heilungsmechanismen des Körpers in die Irre führen. Um wachsen zu können, müssen sie eine Entzündung auslösen. Dazu produzieren sie in großen Mengen die gleichen hochentzündlichen Substanzen (Cytokine, Prostaglandine und Leukotriene), die bei der natürlichen Wundheilung zum Einsatz kommen.V Diese wirken als chemischer »Dünger« und fördern das Zellwachstum, in diesem Fall das Wachstum der Krebszellen. Wachsende Tumoren brauchen die Substanzen, um sich zu entwickeln und das umliegende Gewebe durchlässiger zu machen. So nutzen Krebszellen einen Vorgang, der eigentlich dem Immunsystem die Heilung von Wunden und Verfolgung von Eindringlingen ermöglicht, für ihre eigene Verbreitung und Vermehrung. Mithilfe der von ihnen hervorgerufenen Entzündung dringen sie in das umliegende Gewebe ein, gelangen ins Blut, wandern durch den Körper und gründen ferne Kolonien, die Metastasen.
Tabelle 2: Verschiedene Krebsarten, die direkt mit Entzündungen zusammenhängen (aus dem Artikel von Balkwill und Mantovani in Lancet, 2001).27
Krebsart | Entzündungsursache |
Malignes Lymphom (Lymphknotenkrebs) | Helicobacter pylori |
Bronchialkarzinom | Siliziumdioxid, Asbest, Zigarettenrauch |
Mesotheliom | Asbest |
Speiseröhrenkrebs | Barrett-Syndrom |
Leberkrebs | Hepatitisviren (B und C) |
Magenkrebs | Durch Helicobacter pylori verursachte Gastritis |
Kaposi-Sarkom | Humane Herpesviren Typ 8 |
Blasenkrebs | Bilharziose |
Darmkrebs | Chronische Darmentzündungen |
Eierstockkrebs | Entzündliche Beckenerkrankungen, Kontakt mit Talkum,Gewebeumbau (»tissue remodeling«) |
Gebärmutterhalskrebs | HPV (Humane Papillomaviren) |
Der Teufelskreis im Zentrum des Krebses
Bei normal heilenden Verletzungen endet die Produktion der entzündlichen chemischen Substanzen, sobald das Gewebe wiederhergestellt ist. Bei einer Krebserkrankung werden die Stoffe dagegen kontinuierlich produziert. Zudem blockieren die überschüssigen Entzündungsstoffe im umliegenden Gewebe einen natürlichen Vorgang, die sogenannte Apoptose, den »Selbstmord« einer Zelle. Die Apoptose ist jeder Zelle genetisch einprogrammiert und soll eine Überproduktion von Gewebe verhindern. Auf das Signal hin, dass genügend Zellen für die Bildung gesunden Gewebes vorhanden sind, kommt es normalerweise zur Apoptose. Krebszellen dagegen stimulieren nicht nur ihr eigenes Wachstum, sondern sind durch die Blockade auch vor dem eigenen Tod geschützt. Die Kombination dieser beiden Faktoren sorgt dafür, dass sich ein Tumor allmählich ausbreitet.
Durch die Ankurbelung der Entzündung sorgen Tumoren noch für eine weitere Störung. Sie »entwaffnen« die Immunzellen in ihrer Umgebung. Einfach ausgedrückt bringt die Überproduktion von Entzündungsfaktoren die benachbarten weißen Blutkörperchen völlig durcheinander.29, 30 Die natürlichen Killerzellen und andere weiße Blutkörperchen werden neutralisiert. Sie versuchen nicht einmal mehr, den Tumor zu bekämpfen, der direkt neben ihnen gedeiht und immer größer wird.31
Die treibende Kraft bei einem Tumor ist demnach ganz wesentlich ein durch die Krebszellen verursachter Teufelskreis: Indem der Tumor die Immunzellen zur Bildung von Entzündungsfaktoren anregt, bringt er den Körper dazu, ihn mit dem zu versorgen, was er für sein eigenes Wachstum und das Vordringen in das umliegende Gewebe benötigt. Je größer der Tumor, desto stärker auch die Entzündung, die er hervorruft – und desto besser sorgt er für sein eigenes Wachstum.
Die jüngsten Forschungen haben diese These bestätigt, wie die Fachzeitschrift Science vor Kurzem berichtete. Es wurde bewiesen, dass ein Tumor umso aggressiver ist, je erfolgreicher er eine lokale Entzündung hervorrufen kann, und dass er sich dann auch über große Entfernungen verbreiten kann, bis er schließlich die Lymphknoten erreicht und Metastasen bildet.32
Ein Maß für Entzündungen
Der von Krebszellen verursachte Entzündungsprozess ist von so zentraler Bedeutung, dass man bei vielen Krebsarten (Darm-, Brust-, Prostata-, Gebärmutter-, Magenkrebs und Gehirntumoren) die Überlebenszeit vorhersagen kann, indem man die Produktion der Entzündungsstoffe durch einen Tumor misst.33
Im Glasgow Hospital in Schottland messen Onkologen seit den Neunzigerjahren Entzündungsmarker im Blut von Krebspatienten. Die Untersuchungen zeigten, dass für Patienten mit besonders niedrigem Entzündungsgrad die Wahrscheinlichkeit, noch mehrere Jahre zu leben, doppelt so hoch war wie für andere Patienten. Die Entzündungsmarker lassen sich leicht messen.VI Zum Erstaunen der Glasgower Onkologen sind sie ein besserer Indikator für die Überlebenschancen als der allgemeine Gesundheitszustand der Patienten zum Zeitpunkt der Diagnose.34–36 Demnach hat eine chronische Entzündung großen Einfluss auf die allgemeine Gesundheit. Das gilt sogar, wenn die Entzündung nicht so gravierend scheint und es keine erkennbaren Anzeichen wie Gelenkschmerzen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen gibt.
Mehrere Studien haben ergeben, dass Menschen, die regelmäßig entzündungshemmende Medikamente einnehmen (Ibuprofen, Diclofenac usw.), weniger anfällig für Krebs sind.37–39 Leider haben diese Medikamente Nebenwirkungen, die nicht zu vernachlässigen sind; das Risiko für Magengeschwüre und Gastritis steigt. Neue entzündungshemmende Medikamente, die sogenannten selektiven Cox-2-Hemmer wie Rofecoxib (Vioxx) und Celecoxib (Celebrex), weckten neue Hoffnungen. Sie hemmen das gefährliche Cox-2 – das Enzym, das Tumoren produzieren, um ihre Verbreitung zu beschleunigen. Mehrere Forschungsprojekte, bei denen die Schutzwirkung der Medikamente vor Krebs untersucht wurde, erbrachten ermutigende Ergebnisse. Doch 2004 wurde ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen nachgewiesen, und das hat die anfängliche Begeisterung erheblich gedämpft. Diese Medikamente werden normalerweise nicht gegen Krebs eingesetzt.
Der Schwarze Ritter der Krebszellen
Dank der unermüdlichen Arbeit der Forscher ist heute die Achillesferse von Krebszellen bei der Förderung von Entzündungen bekannt. Im Labor von Michael Karin, Professor für Pharmakologie an der University of San Diego, zeigten Forscher in Zusammenarbeit mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft die Schwachstelle bei Mäusen auf. Das Wachstum und die Verbreitung der Krebszellen basieren größtenteils auf einem einzigen Entzündungsfaktor, der von den Tumorzellen abgegeben wird – er ist sozusagen der Schwarze Ritter, ohne den Tumorzellen viel verletzlicher sind. Der Faktor wird als Nuklear-Faktor Kappa B (oder NF-Kappa B) bezeichnet. Blockiert man die Bildung von NF-Kappa B, werden die meisten Krebszellen wieder »sterblich« und bilden keine Metastasen mehr.40 Die Schlüsselrolle von NF-Kappa B bei einer Krebserkrankung ist heute so gut erforscht, dass Albert Baldwin, Professor an der University of North Carolina, in der Zeitschrift Science mit der Feststellung zitiert wurde: »Fast jedes Mittel zur Verhinderung von Krebs ist ein NF-Kappa-B-Hemmer.«41
Es gibt aber nicht nur Medikamente, sondern auch viele natürliche Ansätze, mit deren Hilfe man die Entzündungstätigkeit dieser Substanz blockieren kann. Im selben Artikel in Science heißt es ohne jegliche Ironie, die pharmazeutische Industrie suche nach Medikamenten, die NF-Kappa B hemmen, obwohl die Moleküle, von denen man wisse,