Das Antikrebs-Buch. David Servan-Schreiber
Tee und »Resveratrol« im Rotwein.42 Dabei enthalten Lebensmittel noch zahlreiche ähnliche Stoffe, manche sind sogar noch wirksamer. Wir werden in dem Kapitel über die Nahrungsmittel gegen den Krebs näher auf sie eingehen.
Mit Stress zusätzlich Öl ins Feuer gießen
Ein Grund für die plötzliche Überproduktion von Entzündungsfaktoren, der aber in Zusammenhang mit Krebs nur selten erwähnt wird, ist ein anhaltendes Gefühl von Ohnmacht, einer Verzweiflung, die einfach nicht aufhört. Diese emotionale Verfassung führt zur Ausschüttung von Noradrenalin (das »Kampf-oder-Flucht-Hormon«) und Cortisol (das »Stress-Hormon«). Die beiden Hormone bereiten den Körper auf eine mögliche Verletzung vor, indem sie beispielsweise die Bildung von Entzündungsfaktoren anregen, die zur Reparatur des Gewebes benötigt werden. Gleichzeitig stimulieren diese Hormone aber auch das Wachstum bösartiger Tumoren, egal, ob sie noch schlummern oder sich bereits manifestiert haben.43, 44
Die Entdeckung, welch eine wichtige Rolle die Entzündung beim Wachstum und der Ausbreitung von Tumoren spielt, ist noch relativ jung. Eine Suche in der Datenbank MedLine nach englischsprachigen Artikeln über Entzündungen ergibt, dass sich das wissenschaftliche Interesse erst allmählich regt (zwei Artikel 1990, 37 Artikel 2005). Das ist ein Grund, warum bei den Ratschlägen, die wir zur Krebsprävention und -behandlung erhalten, nur so selten von der Kontrolle der Entzündung die Rede ist. Außerdem haben entzündungshemmende Medikamente zu viele Nebenwirkungen und bieten daher keine überzeugende Lösung für das Problem. Allerdings lässt sich die Entzündung im Körper auch mit natürlichen Methoden, die jeder umsetzen kann, reduzieren. Dazu müssen wir einfach entzündungsfördernde Gifte aus unserer Umgebung verbannen, eine Antikrebs-Diät befolgen, nach innerem Gleichgewicht streben und das Bedürfnis unseres Körpers nach Bewegung stillen. Wir werden darauf in den folgenden Kapiteln zurückkommen.
Ein Arzt wird uns diese Ratschläge aller Wahrscheinlichkeit nach kaum geben. Veränderungen der Lebensweise lassen sich nun einmal nicht patentieren, daher kann man auch keine Medikamente daraus machen und kein Rezept dafür ausstellen. Das wiederum bedeutet, dass sich viele Ärzte dafür nicht zuständig fühlen, und so liegt es an jedem Einzelnen, sich darüber zu informieren.
Entzündungsfördernd | Entzündungshemmend |
Traditionelle westliche Ernährung | »Mittelmeerdiät«, indische Küche, asiatische Küche |
Depression und Ohnmachtsgefühle | Gelassenheit, Ruhe, Zuversicht |
Weniger als 20 Minuten Bewegung am Tag | 30 Minuten spazieren gehen, sechsmal pro Woche |
Zigarettenrauch, Luftverschmutzung, Abgase | Eine saubere Umwelt |
Tabelle 3: Die wichtigsten Einflüsse bei Entzündungsprozessen. Entzündungsvorgänge spielen eine Schlüsselrolle beim Fortschreiten von Krebserkrankungen. Mit natürlichen Mitteln, die jeder anwenden kann, können wir Entzündungen in unserem Organismus bekämpfen.
Teil 3
Die Nachschublinien des Tumors kappen
Wie Schukows Sieg in Stalingrad
Im Kampf gegen den Krebs werden zur Beschreibung oft militärische Metaphern bemüht. Und dabei erscheint mir keine geeigneter als die größte Schlacht, die im Zweiten Weltkrieg auf europäischem Boden stattfand.
Ich spreche vom August 1942. In der Umgebung von Stalingrad zieht Hitler an den Ufern der Wolga eine riesige Streitmacht zusammen. Ihr gegenüber stehen eine erschöpfte und schlecht ausgerüstete sowjetische Armee und die Einwohner der Stadt, die ihr Land, ihre Heimat und ihre Familien verteidigen wollen. In einer Schlacht von unvorstellbarer Härte halten die russischen Streitkräfte, unterstützt von Zivilisten, den Herbst über stand. Trotz ihres Heldenmuts sind sie eindeutig unterlegen. Der Sieg der Nazis scheint nur noch eine Frage der Zeit. Da entscheidet sich Marschall Georgi Schukow für eine völlig andere Taktik: Anstatt den frontalen Angriff fortzusetzen, der keine Hoffnung auf den Sieg bietet, verteilt er die Überreste seiner Truppen hinter den Linien in dem von den Deutschen besetzten Gebiet. Dort sind die Einheiten stationiert, die den Nachschub der deutschen Truppen sichern sollen. Die rumänischen und italienischen Soldaten sind nicht so diszipliniert und kampflustig wie die Deutschen und leisten nicht lange Widerstand. Binnen weniger Tage kann Schukow den scheinbar unvermeidlichen Verlauf der Schlacht um Stalingrad ändern. Nachdem die Nachschublinien gekappt sind, ist die 6. Armee unter General Paulus nicht mehr in der Lage zu kämpfen und muss schließlich kapitulieren. Im Februar 1943 wird der deutsche Vormarsch endgültig aufgehalten.
Stalingrad stellt einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs dar. Von da ab musste sich das nationalsozialistische Krebsgeschwür zurückziehen, das sich in ganz Europa ausgebreitet hatte.45
Soldaten wissen um die strategische Bedeutung der Nachschublinien für die Front. Die Anwendung dieses Ansatzes in der Krebsbehandlung wurde jedoch von vielen Forschern lange als absurd betrachtet. Vielleicht war es daher kein Zufall, dass die Idee dazu ausgerechnet von einem Militärarzt kam.
Die Erkenntnis eines Marinearztes
Judah Folkman diente in den Sechzigerjahren als Chirurg in der amerikanischen Marine und bekam den Auftrag, eine Möglichkeit zur Konservierung von Blut zu finden, das bei Operationen auf hoher See benötigt wurde; damals waren die ersten nukleargetriebenen Flugzeugträger viele Monate unterwegs. Um seine Konservierungsmethode zu testen, führte Folkman ein Experiment durch, mit dem er feststellen wollte, ob das konservierte Blut die Anforderungen eines kleinen lebenden Organs erfüllte. Er isolierte die Schilddrüse eines Kaninchens in einer Glaskammer, also in vitro, und ließ das konservierte Blut hindurchströmen. Das Blut erfüllte seine Funktion und erhielt die Schilddrüse am Leben. Nun stellte sich die Frage, ob Folkmans Verfahren auch bei Zellen funktionierte, die sich rasch vermehrten, wie etwa bei einem Heilungsprozess. Um das herauszufinden, injizierte er in die isolierte Kaninchenschilddrüse Krebszellen, die für ihren schnellen Reproduktionszyklus bekannt sind. Und da erwartete ihn eine Überraschung.
Aus den injizierten Krebszellen entwickelten sich Tumoren, doch keiner wurde größer als ein Stecknadelkopf. Zuerst dachte Folkman, die Zellen seien tot. Aber nachdem er sie Mäusen injiziert hatte, bildeten die Krebszellen rasch große, tödliche Tumoren. Worin bestand der Unterschied zwischen der Kaninchenschilddrüse in vitro und den lebenden Mäusen? Ein Unterschied lag auf der Hand: Die Tumoren, die in den Mäusen wuchsen, waren von Blutgefäßen durchzogen, die Tumoren in der isolierten Schilddrüse dagegen nicht. Durfte man daraus den Schluss ziehen, dass ein Tumor nur wachsen kann, wenn er es schafft, Blutgefäße zu seiner Versorgung umzuleiten?
Besessen von dieser Hypothese fand Judah Folkman bei seiner chirurgischen Tätigkeit weitere Belege. Die bösartigen Tumoren, die er operierte, wiesen alle ein Merkmal auf: Sie waren von zahlreichen zarten, verdrehten Blutgefäßen durchzogen, die den Eindruck erweckten, als seien sie zu schnell gewachsen.
Folkman wurde schnell klar, dass eine Zelle nur überleben kann, wenn sie Kontakt zu winzigen Blutgefäßen hat, hauchdünnen Fädchen, die so fein wie Menschenhaar sind. Diese sogenannten Kapillaren liefern den Zellen Sauerstoff und Nährstoffe und transportieren den Abfall aus dem Zellstoffwechsel ab. Auch Krebszellen sind darauf angewiesen, dass Nahrung angeliefert und der Müll abtransportiert wird. Tumoren können nur überleben, wenn sie von Kapillaren durchzogen sind. Aber da Tumoren sehr schnell wachsen, müssen die neuen Blutgefäße schnell sprießen. Folkman nannte dieses Phänomen »Angiogenese« (nach dem griechischen Wort »angio« für Gefäß und »genesis« für Entstehung).
Blutgefäße stellen normalerweise eine stabile Infrastruktur dar. Die Zellen in der Gefäßwand vermehren sich nicht und bilden nur unter bestimmten Bedingungen neue Kapillaren aus: im Lauf des Wachstums, bei der Wundheilung und nach der Menstruation. Die »normale« Angiogenese ist selbstregulierend und wird streng kontrolliert. Natürlich auferlegte Einschränkungen verhindern die Entstehung brüchiger Gefäße, die zu leicht bluten würden. Die Krebszellen nutzen für ihr Wachstum die Fähigkeit des Körpers zur Bildung neuer Gefäße. Folkman schloss daraus, dass man das Wachstum von Krebszellen bekämpfen könnte, indem