Die Chinesische Truhe. Bernhard Trenkle
tendenziell schwächer werden oder verschwinden. Da das Symbol die Symptome des Klienten verkörpert, der Träger seine Fähigkeit, die Symptome auszuhalten, geht ihre Veränderung mit der Linderung oder Remission der Symptome einher.
1.3Der Charakter der Chinesischen Truhe
1.3.1»Shen-Behandlung«
Wie bereits erwähnt, beginnt ein weiser Arzt die Behandlung mit der Behandlung der Seele, von »Shen«. Bereits im ersten schriftlich vorliegenden TCM-Fachbuch, dem Huangdi Neijing, das vor etwa 2200 Jahren zusammengestellt wurde, wird erwähnt, dass das Wesen der Akupunktur in der Behandlung des Shen liege. Bei der Anwendung der Chinesischen Truhe wird die subjektive Wahrnehmung des Klienten symbolisch verkörpert und verändert und so die Krankheit behandelt. Die Methode hat sich aus der wissenschaftlichen Weiterführung und Entwicklung der traditionellen Behandlung des Shen ergeben.
Das Verständnis der TCM vom Menschen und den Krankheiten ist, wie schon erwähnt, anders als das der modernen Schulmedizin. Einer der wichtigsten Unterschiede liegt in der Betonung der Ganzheit: der Einheit von Körper und Psyche, der Einheit von Mensch und Universum. Dabei bildet jeder Mensch im realen Leben eine Einheit von Körper und Seele, kein Mensch existiert rein physiologisch oder nur seelisch-geistig. Menschen, die nur aus Körper bestehen, sind Komapatienten ohne Bewusstsein9; Menschen, die allein aus Psyche bestehen, können nur im Zustand des Nahtods sein, wenn der Geist den Körper verlässt.
Krankheit gehört zum Menschsein dazu. Eine Methode zu ihrer Behandlung kann ihre Wurzeln sowohl in der Psyche als auch im Körper finden. Das heißt allerdings nicht, dass Psychotherapie nichts mit dem Körper und die Behandlung des Körpers nichts mit der Psyche zu tun habe. Beide hängen miteinander zusammen.
»Shen« (als Begriff) der TCM unterscheidet sich von der Verwendung des Wortes »Psyche« in der modernen Psychologie, indem es zwar psychische Aktivität, vielmehr jedoch die essenziellen Lebensaktivitäten darstellt. Im Huangdi Neijing wird »Shen« als der innere Antrieb, der Ursprung der Lebensaktivitäten bezeichnet. Nur durch »Shen« ergeben sich Funktionen und Vitalität, nur so die Aktivitäten des täglichen Lebens. Das Huangdi Neijing bezeugt weiter, dass man stirbt, wenn das »Shen« verloren geht, und lebt, wenn »Shen« gewonnen wird. Übertragen auf die Behandlung einer Krankheit betont die TCM die Wichtigkeit der Behandlung des Shen als Beginn jeglicher Behandlung. Sie ähnelt der Psychotherapie in der modernen Schulmedizin, die somatische und psychische Behandlungsformen unterscheidet, adressiert jedoch nicht nur psychische Beschwerden. Die klinische Praxis zeigt, dass die Chinesische Truhe nicht nur diverse psychischen Störungen gut behandeln kann, sondern auch diverse, in der modernen Schulmedizin als somatisch klassifizierte Krankheiten. Die Wirkmechanismen sind daher nicht auf die psychische Ebene beschränkt.
1.3.2Vertiefende Imagination und Ruhen
Cunxiang, die intensive Imagination, zeichnet sich als eine dynamische und sukzessiv vertiefende Imagination bestimmter Bilder aus. Mit der Chinesischen Truhe wird Cunxiang in die Psychotherapie eingeführt. Anhand einer Reihe gut handhabbarer Fragen wird der Klient angeleitet, Symbol und Träger mental von abstraktem Denken über das bildliche Denken zum konkreten Denken hin zu vertiefen, sodass Symbol und Träger vom »Wahrnehmungsbild« zum »Objektbild« übergehen. Dies führt über eine Imagination, wie sie in der modernen Psychologie beschrieben ist, hinaus und verstärkt die Wirkung der symbolischen Behandlung.
Der Unterschied zwischen Imagination in der Psychologie und Cunxiang im mentalen Training liegt in der Unterscheidung von »Wahrnehmungsbild« zu »Objektbild«, von bildlichem Denken zu konkretem Denken.
Mit der Chinesischen Truhe werden Symbol und Träger im Prozess des »Cunxiang« dynamisch bearbeitet, wobei vielfältige Interventionsmöglichkeiten angeboten werden. Die Veränderung der psychischen Realität des Klienten im Behandlungsverlauf erscheint so unbegrenzt. »Cunxiang« stellt insofern eine methodische Ergänzung zur Psychotherapie dar, während das Ruhen als Erweiterung des Therapieziels zu sehen ist.
Psychotherapeutisches Vorgehen verschiedener moderner Schulen ist in der Zielsetzung meistens symptomorientiert – es geht um konkrete Problemlösung. Der »Leere-Zustand« des Ruhens ist allerdings etwas anderes, dort wird das Problem nicht gelöst, sondern ein psychischer Raum und ein psychisches Zeitfenster ohne Probleme angeboten. Bei genauer Betrachtung wird es immer Probleme geben. Nur an einem Ort ohne Probleme kann innerer Seelenfrieden realisiert werden. Dies ist das Ziel des traditionellen mentalen Trainings im Osten, es scheint in verschiedenen westlichen Schulen der Psychotherapie noch nicht angekommen zu sein. Wenn im viel zitierten Ausspruch Descartes’ »Ich denke, also bin ich« das »Denken« allein die Aktivität des Denkens beinhaltet und »Ich« nur das Ich-Bewusstsein, entspricht das Zitat nicht dem Bewusstseinszustand, der durch das traditionelle mentale Training im Osten erreicht wird. Die alten Meister im mentalen Training gingen davon aus, dass Bewusstsein ohne Denkaktivitäten der originäre Zustand des Bewusstseins, das reine Bewusstsein sei. Wenn mit der Chinesischen Truhe Symbol und Träger nach und nach auf eine Entfernung jenseits der psychischen Sichtweite gebracht werden, wird dem Klienten eine Leere eröffnet, nämlich ein psychischer Raum und ein psychisches Zeitfenster ohne Probleme. Auch wenn so ein »Leere-Zustand« anders ist als das, was im mentalen Training erzielt wird, ist er ausreichend wirksam, um psychische Probleme zu lindern.
1.3.3Form und Inhalt
Die Anwendung der Chinesischen Truhe ist methodisch an den Prinzipien der modernen kognitiven Verhaltenstherapie orientiert. Die Behandlung geht in insgesamt zehn Schritten vor und teilt sich in eine statische und eine dynamische Phase. Das gesamte Verfahren ist normiert und standardisiert, insofern leicht zu erlernen und zu beherrschen.
Die Chinesische Truhe nutzt auch Skalierungen und Aufzeichnungen als Methoden der Verhaltenstherapie, um die subjektive Einschätzung des Klienten bezüglich seiner Beeinträchtigung zu protokollieren und bildlich festzuhalten. Zudem wird nach jeder Sitzung und in der Katamnese (Follow-up) die Therapiewirksamkeit qualitativ und quantitativ bewertet. Diese Darstellungsformen erfüllen die Anforderungen der Standardisierung moderner Psychotherapie und erleichtern die statistische Auswertung zu Forschungszwecken.
Makroskopisch gesehen sind die Psychotherapietechniken des Westens meistens standardisiert mit klaren Kriterien, während die regulierenden Techniken aus dem traditionellen mentalen Training des Ostens tiefere Veränderungen des Bewusstseins bewirken, dabei jedoch meistens in der Vermittlung nicht klar genug sind. Die Chinesische Truhe verbindet die jeweiligen Vorzüge zu einem Ganzen, den Inhalt aus dem Osten und die Form aus dem Westen, vergleichbar mit einer Rémy-Martin-Flasche, gefüllt mit Maotai (einem hochprozentigen und preisgekrönten chinesischen Schnaps). Schließlich hat Inhalt mehr Gewicht als Form. In der Chinesischen Truhe werden östliches und westliches Wissen kombiniert, die moderne Form dient dem traditionellen Inhalt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Chinesische Truhe eine innovative Technik zur Behandlung von körperlichen und psychischen Beschwerden ist. Dabei zeigen sich klar Merkmale der traditionellen chinesischen Kultur und der Sichtweise der TCM – Körper und Seele bilden eine Einheit – in der Anwendung zur Behandlung der Ausgangssymptome sowie der Integration westlicher Methodik bei Durchführung und Auswertung. Wenn man die Einteilung der modernen Schulmedizin zugrunde legt, nutzt die Behandlung mit der Chinesischen Truhe die psychische Ebene als Hebel. So kann die Methode auch als eine innovative, chinesisch geprägte Technik der Psychotherapie gesehen werden.
1Shen (
2Xiulian (