Pardona 3 - Herz der tausend Welten. Mháire Stritter
die sie nun in ihrer Gesamtheit erfasste. Es gab gewaltige Reiche jenseits Aventuriens, aber sie hatte sich bisher ganz im Sinne ihres Gottes auf diesen Kontinent konzentriert – mit dem Ziel, die fey zu verderben und zu verführen, nach deren Vorbild sie erschaffen worden war. Nun rückten die anderen Länder in ihren Blick. Myranor im fernen Westen, das Land der Riesen im Osten, das vor Leben strotzende Uthuria im Süden und mehr. Über all diese Orte hatte sie unermessliches Wissen erlangt. Bis zum letzten Augenblick in den Niederhöllen hatte sie die ankommenden Seelen der Verdammten beobachtet und erfahren, woher sie gekommen und an was sie zugrunde gegangen waren. Nun griff sie mit ihrem Geist hinaus in die Welt, um die Lücken in ihrem Bild zu vervollständigen. Ihre Seele schwebte über den Wolken, zwischen den Wogen und unter den Wurzeln, um alte Werkzeuge, Verbündete und Schöpfungen aufzusuchen und zu erfahren, was seit ihrem bedauernswerten Verschwinden geschehen war – und sie war zufrieden.
Ihr Vater, der Gottdrache Pyrdacor, war gefallen. Er war das wichtigste Werkzeug des Namenlosen in dieser Welt gewesen, doch seine Hybris hatte ihn irgendwann nutzlos gemacht. Die Götter in Alveran hatten ihren Kettenhund losgeschickt, um Pyrdacors Herrschaft zu beenden. Der Gott ohne Namen brauchte einen neuen Legaten, ein Werkzeug, das in der Lage war, subtiler vorzugehen, das treuer war, intelligenter, ausdauernder, verführerischer. Amadena war all das und mehr.
Ihr altes Werk war tatsächlich vollbracht. Die Kultur der fenvar, jener fey, die Städte bauten und die Welt erforschten, war untergegangen. Zwei ihrer sechs elementaren Städte hatte sie damals eigenhändig zerstört, andere waren von ihren Bewohnern aus Feigheit von dieser Welt entrückt worden. In ihrer Abwesenheit waren zuerst Isiriel und schließlich Tie’Shianna, der Sitz des Hochkönigs Fenvarien, den Horden des Namenlosen zum Opfer gefallen, dem sich Pyrdacor am Ende seines Lebens offen verschrieben hatte. Doch dann war auch er gefallen und hatte viele seiner Drachen mit in den Tod gerissen. Sein Reich war von Aventurien entrückt worden, die Narbe war noch frisch. Dieses epochale Ereignis hatte ein Sphärenbeben ausgelöst, das die Schöpfung für immer durcheinandergewirbelt hatte, das sie selbst in ihrem Gefängnis am Rand der Welt gespürt hatte und das letztlich ihren Befreiern den Weg zu ihr bahnte. Der Strom der Zeit floss hier in der 3. Sphäre anders als in den Welten, die dort draußen durch den Limbus taumelten. Für Amadena und Acuriën war all das nur Tage her. In Aventurien waren seit dem Fall der Hochelfen und der Drachen über achtzig Jahre vergangen. Doch für Wesen wie sie war das keine lange Zeit.
Ein Machtvakuum war entstanden, und eine neue Art Kreatur machte sich bereits daran, es zu füllen. Die Menschen, jene plumpen, hässlichen Gestalten, mit denen sie immer wieder experimentiert hatte, wähnten sich bereits die neuen Herren Aventuriens. Sie nannten sich Tulamiden und wagten Vorstöße gegen die Echsen, die in den Ruinen von Pyrdacors Reich zu überleben versuchten. Nur weit im Norden waren die Erben der fey noch mächtig und hielten die Traditionen Ometheons aufrecht.
Doch dort war Amadenas Macht nach wie vor am stärksten. Ihre Kinder, die Shakagra, beantworteten ihren geistigen Ruf mit Feuereifer. Seit Langem warteten sie auf die verheißene Rückkehr ihrer Schöpferin, wagten kleine Vorstöße gegen die fey, aber waren niemals geeint genug gewesen, um einen neuen Feldzug zu starten. Sie lebten noch immer im Schatten des Himmelsturms und in den Anlagen tief darunter, die Amadenas Weisung zufolge errichtet worden waren, um ihre mit dämonischer Essenz verbundenen Armeen vor dem brennenden Licht des Sonnengottes zu schützen. Mit den Shakagra würde ihr neuer Feldzug beginnen. Zuerst würde sie Rache an den überlebenden fey nehmen, und danach sollte der Rest der 3. Sphäre die Macht Amadenas kennenlernen.
Kaschmallarun und Acuriën folgten Amadena in den Norden. Beide hatten keine Wahl. Der Weg begann langsam, der Troll trug die Fibel mit Acuriëns Seele und Amadena flog in Gestalt eines kleinen Vogels, eines Neuntöters, voraus. Schließlich gelang es ihr nach einem kurzem Kampf, den Geist eines alten Purpurdrachen zu unterwerfen, der fortan beide Körper und die Fibel trug. Der Drache war nach dem Ende des Krieges aus dem Süden in den Forst in der Mitte des Kontinents geflohen. Von ihm konnte Amadena noch mehr über den Untergangs Pyrdacors lernen. Je weiter sie sich dem eisigen Norden näherten, desto schweigsamer wurde ihre Reitkreatur, wagte es aber nicht, sich aufzulehnen. Als das Feuer im Inneren des Drachen aus den Südlanden ob der Kälte und der Folter durch seine neue Herrin verlosch, brachte Amadena den Leichnam dazu, im Tode noch zu Boden zu gleiten, nur wenige Hundert Schritt vom Eingang des Himmelsturms entfernt.
Sie hatte keine Intention, den Turm zu betreten. Ihre Diener warteten bereits zu dessen Füßen. Gut einhundert Schwarzalben in dunklen Rüstungen standen in Reih und Glied, und als Amadena absaß, fielen sie alle gleichzeitig mit militärischer Präzision auf die Knie. Niemand wagte, den Blick zu heben, als sie durch ihre Reihen schritt und auf eine Öffnung im Eis hinter den Truppen zuging. Erst als sie die Eishöhle betreten hatte, erhoben sich die Krieger der Shakagra Reihe für Reihe, folgten ihr in den Untergrund und hinter den letzten schlossen sich Eis und Fels.
Kaschmallarun hatte während der gesamten Reise kein Wort gesagt, sondern nur in die Ferne gestarrt und gelegentlich ein tiefes, brummendes Wimmern von sich gegeben. Nun wurde er von zehn Shakagra in einen Seitentunnel eskortiert und nahm auch dieses Schicksal schweigend an. Es drohte ihm keine Gefahr, Amadena hatte ihren Kindern lediglich stumm befohlen, ihn zu reinigen und auszurüsten.
Amadena selbst schritt einen anderen Korridor entlang. Sie kannte dieses Höhlensystem, immerhin hatte sie es in einem anderen Leben selbst angelegt. Ihre Schritte fanden einen Raum, den sie als Rückzugsort für sich selbst geschaffen hatte, und ihre Diener hatten dort bereits alles für ihre Bedürfnisse vorbereitet. Es erwarteten sie ein heißes Bad, ein Mahl aus Fisch, Algen und dem roten Fleisch der Eisrobben sowie ein seidenbedecktes Nachtlager. Die Einrichtung war aus ihren Gemächern im Himmelsturm hierher geschafft worden. Es war die erste Mahlzeit und die erste Nacht in einem Bett seit Langem.
Sie ließ sich auf das Bett nieder, nahm die Fibel aus ihrem Haar und drehte sie zwischen den Fingern hin und her. »Tausend Jahre lang musste ich auf all dies verzichten«, sagte sie zu der Seele darin, »deinetwegen. Aber ich bin nicht kleinlich. Immerhin warst du auch mein Portal, mein Ausweg und meine Rettung.« Sie strich sanft über das einfach bearbeitete Metall.
»Du wirst tausend Jahre und mehr abgelten, was du noch schuldest«, versprach sie.
Sie trat noch am selben Tag vor die versammelten Shakagra in der großen Halle ihrer unterirdischen Stadt, um zu ihnen zu sprechen und ihnen ihre Aufgaben zuzuweisen.
»Eure Göttin ist zurückgekehrt!«, hallten ihre Worte von den Wänden der lichtlosen Kaverne wider, »und sie wird euch in dieses neue Zeitalter führen! Die Zeit der fey ist vorbei! Sie haben sich verloren in ihrer Dekadenz und ihrem Hochmut. Die Zeit der Echsen ist vorbei! Sie waren nicht in der Lage, sich an die neue Welt anzupassen! Diese neue Welt sind wir! Die Shakagra und ihre Verbündeten! Mit der Macht des dhaza wird uns die Welt gehören!«
Die Krieger vor ihr jubelten nicht, aber jeder und jede einzelne murmelte leise »Für die Göttin und das dhaza.« Es war für Acuriën beängstigender als die Kriegsschreie tausender Barbaren.
Amadena verlor keine Zeit mit weiteren großen Reden. Vielleicht war die Drohung zu Beginn ihrer Ansprachen sogar nur an Acuriën und Kaschmallarun gerichtet gewesen. Der Troll stand, bewacht von vier weiteren Kriegern, am anderen Ende der Halle und starrte weiter ins Nichts. Er hatte immer noch kein Wort gesagt. Acuriën wusste nicht, als die Scharen der Shakagra ihre Hingabe zeigten und ihre Treue erneuerten, in welchem Verhältnis er zu Israni und Kilgan gestanden hatte und warum er seine Seele riskiert und verloren hatte, nur um ihn zu retten. Amadena ließ ihn darüber bewusst im Dunkeln, verbarg alle Gedanken und alles Wissen dazu vor ihm.
Doch ihre Pläne konnte er klar und deutlich vernehmen. Sie waren weltumspannend, blickten Jahrhunderte in die Zukunft. Offenbarten ein Wissen über die Schöpfung und die Politik der Reiche dieser Welt, das sonst niemand besitzen konnte. Amadena hatte gegenwärtig keine großen Pläne für Aventurien, wo Menschen aus dem Süden und Einwanderer aus Myranor sich bald gegenseitig zerfleischen würden.
Der Norden jedoch wurde noch von zahlreichen Nachkommen der Hochelfen Ometheons besiedelt. Diese galt es auszurotten. Kein fey sollte künftig