Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens. Wolfram Lutterer
ein weiterer früher Vertreter in unserer konstruktivistischen Ahnengalerie. Kant verbrachte nahezu sein ganzes Leben im ostpreußischen Königsberg. Seine Kritik der reinen Vernunft gilt als »die Gründungsschrift der modernen Philosophie«*. Seine darin entwickelten erkenntnistheoretischen Einsichten haben in ihrem Kern bis heute Bestand. Darin betont er im Übrigen – ganz im Gegensatz zu Descartes – die fundamentale Bedeutung von sinnlicher Erfahrung.
In der Kritik der reinen Vernunft hält sich Kant gar nicht erst lang mit einleitendem Geplänkel auf. Schon sein erster Satz bringt eine zentrale philosophische Erkenntnis unmissverständlich auf den Punkt: »Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel«.35 Klarer kann man sich kaum gegen Positionen wie jener von Descartes positionieren. Erfahrung ist für Kant außerdem notwendigerweise abhängig von unseren Sinneswahrnehmungen. Sie wiederum sind jedoch beschränkt, sie bilden die Wirklichkeit nicht eins zu eins ab.
So etwas wie ein direkter Realismus, also die Annahme, dass die Welt genau so ist, wie wir sie wahrnehmen, erscheint in dieser Perspektive nicht nur als naiv, sondern sogar als obsolet. Denn wir haben nun einmal nur unsere Sinne, um die Welt wahrzunehmen. Fehlen sie uns, so fehlt uns eben auch die Wahrnehmung eines Teils der Welt. Und zumindest ein Argument von Descartes bleibt im Übrigen bestehen: Sinneswahrnehmungen können trügerisch sein. Umgekehrt, hätten wir noch weitere Sinne, beispielsweise für Radioaktivität, so würden wir über eine andere Wahrnehmung der Welt verfügen. Hätten wir uns dann jemals dem Wahnsinn hingegeben, derart mit dem radioaktiven Feuer zu spielen wie geschehen?
Ebenso wie Descartes sucht auch Kant nach einem festen Anker für seine Philosophie. Hierzu stellt er die Überlegung an, was das genauer sei, was nun jenseits unserer Sinne ist. Kant bezeichnet dies als das »Ding an sich«. Man mag sich darüber streiten, ob diese Bezeichnung passend sei oder nicht und was man nun überhaupt darüber sagen könne. Doch selbst, wenn wir zu einer exakten Erkenntnis unserer Welt gelangen könnten: Die nächsten Widrigkeiten lauern bereits. Die Kommunikation über unsere Wahrnehmung ist nämlich bereits wieder etwas anderes als die beschriebene Sache selbst. Wir bleiben hier unausweichlich in der Welt der Beschreibungen, und bei aller Skepsis gegenüber »Wahrheiten«: Diese Schwelle ist unüberwindbar und demnach vermutlich die zentrale Einsicht im konstruktivistischen Denken.*
Für Kant seinerseits war vor allem eines klar: Wir wissen deutlich weniger, als wir zu wissen vermeinen. War für Descartes beispielsweise die Existenz Gottes noch eine klare Sache, formuliert Kant eine deutlich kritischere Position: »Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.«36 Für »Gott« zeigte er im Folgenden zweierlei: Einerseits lässt sich seine Existenz nicht belegen, andererseits aber auch nicht widerlegen. Es handelt sich unüberwindbar um eine Sache des Glaubens. Insgesamt ist für Kant damit zweifellos ein Platz im Olymp der Konstruktivisten gesichert.
Nach Kant ist unser Weltwissen also abhängig von den von uns gemachten Erfahrungen. Schnell erreichen wir damit den Schluss, dass eine jegliche individuelle Weltvorstellung eine andere sein muss. Niemand macht dieselben Erfahrungen, nicht einmal eineiige Zwillinge. Kant geht dabei jedoch noch einen Schritt weiter: Erfahrung sei nicht nur einfach dass, was uns geschieht, sondern ein »Produkt der Sinne und des Verstandes«37. Wir machen uns unsere Erfahrungen also nicht ungefiltert zu eigen. Sie strömen nicht nur einfach so in uns herein, sondern sie sind ein Produkt unserer Sinne, und diese Sinneswahrnehmungen werden ihrerseits nochmals neuronal berechnet, was die moderne Hirnforschung 200 Jahre nach Kant auch empirisch bestätigt hat. Daher werden wir, so Kant, niemals eine abschließende Beschreibung selbst des einfachsten Dings unserer Außenwelt vornehmen können, nicht einmal für etwas so Einfaches wie einen Stuhl.38
Kants Denken erweist sich darüber hinaus auch in systemischer Hinsicht als relevant. In seinem kategorischen Imperativ formuliert er eine ähnliche Perspektivverschiebung, wie sie bei systemischen zirkulären39 Fragetechniken erfolgt: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.«40 Er fordert damit einen Perspektivwechsel ein: weg von dem eigenen Bedürfnishorizont und hin zu der mit anderen geteilten Welt.
Kant verzichtet damit auf direkte moralische Vorschriften, sondern appelliert stattdessen an unser Vermögen zur Reflexion. Ähnlich wie schon Sokrates will er keine Handlungsanweisungen für ein gutes Leben erteilen und fordert vielmehr zum Selberdenken auf.
Diese Strategie philosophischer Aufklärung gipfelt bei Kant in seiner berühmten kleinen Schrift zu der Frage »Was ist Aufklärung?«. Seine provokante These darin lautet: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.« Selbst verschuldet? Wie bitte? Ja, genau! Kant ergänzt diese Provokation mit der Aufforderung: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«41 … und lasse es sein, ständig neue Ausreden zu generieren, warum hier und jetzt und heute gerade keine Veränderung möglich sei.
Damit ist Immanuel Kant nicht nur ein prominenter Platz in unserer konstruktivistischen Ahnengalerie sicher, er darf wohl auch bereits den Systemikern mit zugerechnet werden.
Nicht alle Widersprüche lösen sich auf (Georg Wilhelm Friedrich Hegel)
Einen vielleicht noch größeren Schritt in Richtung auf ein systemisches Denken hin macht der knapp 50 Jahre später als Kant geborene Philosoph Friedrich Hegel (1770–1831). Lange und viel haben die Philosophen über »große« Fragestellungen wie Weisheit, Erkenntnis, Ästhetik und Ethik nachgedacht. Auf eine gewisse Spitze getrieben wurde dies durch Hegel, der als wichtigster Vertreter des Idealismus gilt.
Während Kant seinerseits zeit seines Lebens in Königsberg blieb, war Hegel deutlich mobiler. Geboren wurde er in Stuttgart, er lebte und lehrte in Jena, Bamberg, Nürnberg, Heidelberg und schließlich in Berlin. Beim Lesen seiner Phänomenologie des Geistes überraschte mich eines besonders, nämlich dass inmitten seines großen und teilweise nur schwer überhaupt verständlichen Entwurfs einer großen philosophischen Theorie mit einem Male der Mensch in einer ganz anderen Weise als zuvor beispielsweise bei Kant oder Descartes vorkommt, nämlich nicht als Erkennender, Handelnder oder Zweifelnder, sondern endlich auch in seinem gesellschaftlichen Miteinander.
Berühmt ist Hegels – für uns heute gewiss nicht mehr ganz zeitgemäße – Schilderung sozialer Verhältnisse in seiner Unterscheidung von Herr und Knecht. Hegel stellt dabei eine systemische Selbstverständlichkeit fest. Herr wie Knecht stehen nämlich zueinander in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. So benötigt der Herr den Knecht nicht nur, wie man zunächst meinen könnte, wegen dessen Arbeitsfähigkeit, sondern insbesondere zu seiner Anerkennung eben als Herr. Der Knecht wiederum erreicht durch seine Arbeit Herrschaft über die Natur, er ist der wahrhaft Schaffende und erlangt dadurch ebenfalls Anerkennung durch seinen Herrn. Hegel resümiert: »Sie anerkennen als gegenseitig sich anerkennend.«42 Ihre Beziehung ist somit reziprok. Beide benötigen sich, und zwar jenseits von bloßer Produktivität.
Bereits damit darf Hegel in unsere systemische Ahnengalerie aufgenommen werden. Sein Blick auf die sozialen Verhältnisse verzichtet hierbei auf moralische Fragen und insbesondere die Frage der Ausbeutung, welche Karl Marx später betonte. Hegel erkundet die Komplexität der Verhältnisse zwischen beiden Akteuren und ist offensichtlich bestrebt, ihre systemische Dynamik zu erkunden.
Jene Interaktionsmuster, die Hegel im frühen 19. Jahrhundert als Herrschaft und Knechtschaft charakterisiert, wurden später von dem systemischen Vordenker Gregory Bateson als komplementäre Verhaltensmuster bezeichnet.43 Auch Bateson betont ihre Wechselseitigkeit: Dominantes Verhalten kann Unterwerfung einfordern, umgekehrt können aber auch Unterwerfungsgesten zu Dominanzverhalten führen. Bateson ergänzt hierbei im Übrigen etwas, was Hegel zumindest an dieser Stelle noch fehlt, nämlich eine Reflexion auf symmetrische Beziehungsmuster, also unter gleich Starken.
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