Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens. Wolfram Lutterer

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       3Intermezzo im Mittelalter

      Wir machen einen Sprung von über 1000 Jahren. Das Mittelalter erscheint uns heute zuweilen als die sagenumwobene Zeit der Rittersleute und des Minnesangs, der Völkerwanderung und einer allgemeinen Phase des Niedergangs nach dem Untergang Roms. Das Mittelalter, also jener Zeitraum, der zwischen Antike und Neuzeit liegt, umfasst seinerseits ebenfalls nochmals rund 1000 Jahre, in etwa die Spanne vom 6. bis zum 15. Jahrhundert. Das ausgehende Mittelalter war die Zeit, in der weit in den Himmel emporragende Kathedralen errichtet wurden und in welcher die Kirche und insbesondere die Klöster eine zentrale Rolle für Bildung und Erziehung spielten.

      Stellvertretend für diese Zeit werde ich jedoch nicht von den Ideen und Überlegungen von Thomas von Aquin, Roger Bacon, Wilhelm von Ockham oder Meister Eckhard berichten. Sie kamen zudem allesamt erst später und folgten daher zumindest in zeitlicher Hinsicht einer bis heute hin berühmten Frau, die wir für gewöhnlich allerdings leider eher im Kräutergarten verorten als in der Philosophie: Hildegard von Bingen.

       Die Welt und der Mensch (Hildegard von Bingen)

      Hildegard von Bingens langes Leben umspannte fast das ganze 12. Jahrhundert (1098–1179). Ihr Geburtsort ist nicht ganz sicher; Bermersheim vor der Höhe, bei Alzey gelegen, erscheint als wahrscheinlich. Früh wurde sie Benediktinerin und gründete um 1150 das Kloster Rupertsberg, wo sie auch starb.

      Hildegard von Bingen gilt als die erste deutsche Vertreterin der Mystik. Offenbar hatte sie Visionen, die sie göttlichem Ursprung zuschrieb und schriftlich niederlegte. Jedenfalls sind ihre Schriften von stark religiösem Charakter. Doch was sind »Visionen«? Wahnartige Vorstellungen, intensive kreative Phasen oder gar Flow-Erlebnisse, wie man heute vielleicht versucht wäre zu sagen? Wer weiß das schon.

      In dem relativ spät verfassten Werk Welt und Mensch entwickelt Hildegard jedenfalls eine groß angelegte Schau der Verbundenheit: von Gott mit dem Menschen, aber auch vom Menschen mit der Welt sowie der Menschen untereinander:

      »Jede kosmische Kraft wird von einer anderen gesteuert und gebremst, so wie auch ein starker Mann einem Feind in die Arme fällt, damit er nicht sich selbst oder andere umbringe. So ist jedes Geschöpf mit einem anderen verbunden, und jedes Wesen wird durch ein anderes gehalten.«25

      Diese Form der Kosmologie, die Hildegard hier vorstellt, liest sich deutlich anders als etwa die biblische Schöpfungsgeschichte, welche ja vergleichsweise statischer Natur ist. Hier wird ein starkes Bild der Interdependenz entwickelt. Das göttliche Wirken selbst gerät dadurch sogar eher in den Hintergrund, obwohl es selbstredend alles »durchdringt«.

      Selbst die Moralität wird von Hildegard reflexiv gestaltet. Alle »Taten des Menschen« seien miteinander verbunden:

      »Durch die guten Werke, die die bösen bezichtigen, hat der Mensch Freude; an den schlechten Taten, durch die die guten erkannt werden, hat er Trauer.«26

      Erstaunlich an dieser reflexiven Moralvorstellung ist, dass sowohl die guten als auch die schlechten Taten nicht nur als notwendig angesehen werden, sondern darüber hinaus für die Erkenntnis selbst sich wechselseitig bedingend. Hildegard argumentiert hier in einer ganz ähnlichen Weise wie beispielsweise Laozi, dessen Schriften sie jedoch wohl eher nicht gekannt haben wird.

      Die insgesamt von ihr entwickelte Gesamtschau auf Mensch und Welt gipfelt schließlich in einer Darstellung der Welt in Gestalt eines großen Rades mit sechs konzentrischen Kreisen, die verschiedene Aspekte von Licht, Feuer, Wasser und Äther symbolisieren. Inmitten dieses Rades über alle sechs Kreise sich erstreckend: der Mensch, nicht Gott.

      Das Verbundenheitsgefühl von Mensch und Welt, dem Hildegard von Bingen Ausdruck verleiht, steht im Rahmen dieses Buches stellvertretend für Einsichten in Gestalt einer Art von systemischer Alltagsweisheit einer allumfassenden Verbundenheit. Manche mögen derartige Alltags- oder Volksweisheiten belächeln; die Ironie der Geschichte besteht jedoch darin, dass ihnen bereits ein frühes Verstehen von Ökologie im Sinne einer »harten« Naturwissenschaft innewohnt.

      Dies wiederum lässt Sichtweisen wie diejenige von Hildegard als moderner und wissenschaftlicher erscheinen denn so manch anderen, konkurrierenden Weisen der Weltwahrnehmung, in der die Welt beispielsweise eher als Ansammlung von Entitäten wahrgenommen wird. Die Idee einer Verbundenheit, wie sie Hildegard von Bingen entwickelt, ist mit Sicherheit nicht so naiv, wie es zunächst den Anschein haben mag, sondern stellt bereits eine gereifte Wirklichkeitswahrnehmung dar.

       4Ambivalenzen der Neuzeit

      In der Neuzeit werden nun viele der Ideen, die bis heute unser Denken und Handeln prägen, in ihrer modernen Form entwickelt oder zumindest vorformuliert. Bereits im Jahre 1620 spricht Francis Bacon von einer »neuen Wissenschaft«. Darin fordert er, das Experiment als zentrale Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis zu nehmen und nicht bloß althergebrachten Lehrmeinungen nachzufolgen. Das Unternehmen der modernen Wissenschaft gewinnt damit seine Gestalt.

      Parallel dazu verdichten sich die Widersprüchlichkeiten von nunmehr sichtbar konkurrierenden Denkweisen. Was sich in der Antike bereits angedeutet hat, nimmt nun die Form an, die bis heute hin fortwirkt: in all der Ambivalenz zwischen technischem Fortschritt und einer genuinen Blindheit für breiter angelegte Zusammenhänge.

      Doch wann beginnt die Neuzeit? Genauer: Wann lassen wir sie beginnen? Vielleicht in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, denn dort treffen wir auf gleich zwei große Wegmarken in der menschlichen Geschichte: die Erfindung des Buchdrucks um 1450 sowie die »Entdeckung« Amerikas im Jahre 1492. Ersteres sorgte für eine rasche Verbreitung von Informationen und Wissen, Letzteres veränderte eine ganze Reihe von Horizonten.

      Aus der Vielzahl an Denkern aus einem Zeitraum, der bis in das 19. Jahrhundert hineinreicht, wurden hier nur derer fünf ausgewählt. Sie stehen paradigmatisch für miteinander konkurrierende philosophische Traditionen. Für den Konstruktivismus und die Systemik werde ich Ideen von Vico, Kant und Hegel erläutern. Für zwei Typen dagegen opponierender Denkweisen werden Descartes und Nietzsche benannt. Entsprechend der Chronologie der Dinge bilden Letztere hierbei einen Rahmen für Erstere. Beginnen wir also mit Descartes und enden mit Nietzsche, und ich nehme mir weiterhin die Freiheit der Auswahl. Alle fünf Autoren lassen sich nämlich durchaus auch anders lesen, wenn man anderen Aspekten ihres Denkens den Vorrang gibt.

       Dualismus (René Descartes)

      René Descartes (1596–1650) stammt aus dem kleinen französischen Örtchen La Haye en Touraine, das in der Region des Loire-Tals liegt. Gelebt hat er jedoch vor allem in Paris, in den Niederlanden und zuletzt in Stockholm.

      Eine der großen philosophischen Fragen, die Descartes beschäftigten, bestand darin, dass unsere Sinneswahrnehmungen uns betrügen können. Die ganze Welt als eine Fata Morgana? Dies ließ ihn geradezu verzweifelt nach einem sicheren Kriterium für eine unumstößliche Wahrheit suchen. Descartes ist der große Sucher nach erkenntnistheoretischer Sicherheit.

      Das zentrale Problem für ihn bestand darin, dass er all die Erkenntnisse bezweifelte, die unser Wahrnehmungsvermögen erst ermöglicht. Unsere Sinne seien trügerisch, denn sie können getäuscht werden. Daher ist ihnen zu misstrauen. Unmöglich also, dass sie einen verlässlichen Boden für sicheres Wissen bieten können.

      Wäre Descartes diesem Zweifel in einer anderen Weise begegnet, und hätte er nicht derart verzweifelt nach einer felsenfesten Form von Wahrheit gesucht, wäre er vielleicht sogar zu einem Konstruktivisten geworden. Seine Feststellung jedoch, dass unsere Sinne uns täuschen können, bedeutete für ihn bloß, dass man ihnen gar nicht erst trauen dürfe.27

      Welcher Instanz aber stattdessen Vertrauen schenken? Für Descartes war


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