Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens. Wolfram Lutterer
versuche im Folgenden, eine Art kleiner Ahnengalerie des systemisch-konstruktivistischen Denkens vorzustellen. Dabei werde ich mir die Freiheit der Auswahl nehmen. Es werden jeweils bloße Aspekte aus deutlich größeren Gedankengebäuden genommen, und dies zuweilen sogar von Autorinnen und Autoren, die ansonsten nicht gerade als systemisch erachtet werden. Ich werde den referierten Personen und Ideen also nicht in dem Sinne »gerecht«, dass ich ihre jeweilige Gesamtaussage nachzuerzählen versuche oder aber ihrer typischen Interpretation nachfolge. Zudem werden so manche von ihnen, die andere als wichtig erachten mögen, bestenfalls gestreift, wenn nicht sogar ignoriert. Und da sich unser Denken immer wieder über das Treffen von Unterscheidungen vollzieht, werden zudem einige prominente gegenläufige intellektuelle Traditionen thematisiert – Autorinnen und Autoren, deren Gedanken in besonderer Weise quer zu dem stehen, was hier als systemisch verstanden wird.
2Ausflug in die Antike
Vorformen dessen, was wir heute als systemisch oder als konstruktivistisch bezeichnen, gibt es, seit wir Menschen über unser Dasein nachdenken. Und es gibt sie nicht nur in der kulturellen Wiege des europäischen Kulturkreises, im antiken Griechenland. Es gibt sie auch fernab, etwa in den asiatischen Kulturkreisen. Dieses Kapitel wird entsprechend unserer eigenen Geistesgeschichte zwar dennoch auf Griechenland fokussieren und dort eine Reihe von mehr oder weniger bekannten Denkern vorstellen: Xenophanes, Heraklit und Protagoras sowie natürlich Sokrates, Platon und Aristoteles. Aus dem außereuropäischen Kulturraum werde ich wenigstens auf zwei Denker näher eingehen, Siddhartha Gautama und Laozi.
Vom Erkennen (Xenophanes)
Es ist nicht viel, was wir von dem Denken der frühen antiken Philosophen wissen. Nur weniges wurde schriftlich festgehalten und hat die Zeiten überdauert. Etliche antike Texte sind verloren gegangen oder dringen allenfalls vermittelt durch andere zu uns, die ungleich später davon berichteten. Wir haben somit oftmals kaum mehr eine Chance, zu einer wirklich zuverlässigen Einschätzung einzelner antiker Denker vorzudringen. Wohl aber regt einiges zumindest zum Nachdenken an, und dies mag durchaus einen guten Einstieg darstellen.
Ein langes Leben ist offenbar nicht ausschließlich ein Ergebnis moderner Medizin. Der antike Philosoph Xenophanes soll steinalt geworden sein. Etwa 95 Jahre scheint er gelebt zu haben (ca. 570–475 v. Chr.). Geboren in Kolophon, an der Westküste der heutigen Türkei gelegen, soll er aus seiner Heimatstadt vertrieben worden sein und hat danach an verschiedenen Orten gelebt.
Xenophanes eröffnet eine Weise des Denkens, die wir heute zumindest einer Vorform des Konstruktivismus zuordnen würden. Denn er äußert sich reichlich skeptisch in Bezug auf unser Erkenntnisvermögen:
»Klares hat freilich kein Mensch gesehen, und es wird auch keinen geben, der es gesehen hat […]. Bei allen Dingen gibt es nur Annahme.« 4
Schon so früh werden also schon Zweifel geäußert an der Sicherheit unserer Sinneswahrnehmungen bzw. an dem, was unsere Erfahrungswelt angeht. Vermutlich würde ein moderner Konstruktivist einen Satz wie diesen gerne unterschreiben. Mit dieser Skepsis, was »Klares« anbelangt, und der Betonung dessen, dass wir nur von Annahmen ausgehen können, dürfte offensichtlich sein, dass es so etwas wie Wahrheit für Xenophanes demnach gar nicht erst geben kann, zumindest nicht, was unsere Erfahrungswelt anbelangt. Wer weiß, vielleicht war er es sogar, der das jahrtausendealte philosophische Ringen um das kleine, feine Wörtchen »Wahrheit« mit diesen knappen Worten eingeleitet hat? Jedenfalls eröffnet er einen Diskurs, der bis heute nachhallt.
Nun mag man sich vielleicht zunächst noch damit trösten, so strikt habe er dies doch gar nicht gemeint. Doch sehr deutlich ist eine weitere, in ihrem Kern sogar noch weiter gehende Feststellung, die Xenophanes in diesem Zusammenhang bezüglich unseres Urteilsvermögens macht:
»Denn sogar wenn es einem in außerordentlichem Maße gelungen wäre, Vollkommenes zu sagen, würde er [der Mensch] sich dessen trotzdem nicht bewusst sein.«5
Wir können somit zwar das Richtige sagen, aber nie so weit kommen, dies beweisen zu können. Es bleibt immer nur Annahme. Damit erweist sich Xenophanes als konsequent in seiner Skepsis. Am Ende mögen wir recht haben, wir werden es aber niemals wirklich wissen können. Wir können gar nicht genau wissen, was wir wirklich wissen.
Es mag anhand dieser winzigen Textschnipsel (und sehr viel mehr wissen wir leider nicht von Xenophanes) zwar zu weitgehend zu sein, Xenophanes als einen oder gar als den frühesten Konstruktivisten anzuerkennen. Zudem könnte man natürlich sagen, die alten Griechen haben es nun einmal einfach nicht besser gewusst. Doch Xenophanes formuliert Annahmen, welche immer wieder aufgegriffen, neu formuliert und diskutiert werden: so etwa rund 100 Jahre später bei Sokrates oder über 2000 Jahre später bei Immanuel Kant – und schließlich bis heute.
Unsere Spurensuche nach systemischen Ideen beginnt somit gar nicht mit einer klassisch »systemischen« Einsicht, sondern mit einem Vorbehalt bezüglich unseres Erkenntnisvermögens. Um dies kurz anhand des vorigen Beispiels mit dem Stuhl auszuführen: Wir können uns niemals wirklich sicher sein, dass der Stuhl, auf dem wir gestern gesessen haben, uns heute noch trägt. Es bleibt uns jedoch wohl trotzdem nichts anderes übrig, als daran zu glauben und insbesondere darauf zu vertrauen, wollen wir uns nicht völlig dem Zweifel und der Verzweiflung ausliefern. Es wird im weiteren Verlauf noch deutlicher werden, wie sehr sich systemische und konstruktivistische Annahmen miteinander verzahnen.
Vom bedingten Entstehen (Siddhartha Gautama)
Unsere Ideengeschichte bleibt bis heute weitgehend eurozentrisch. Deswegen sei ein wenigstens kursorischer Blick über die eigenen kulturhistorischen Grenzen hinweg gewagt. Nicht viel später als Xenophanes hat nämlich der welthistorisch ungleich bekanntere Siddhartha Gautama (ca. 563–483 v. Chr.), bekannt geworden vor allem unter dem Namen »Buddha«, gelebt.
Siddharta wurde in Lumbini, im heutigen Nepal nahe der Grenze zu Indien gelegen, geboren. Gestorben ist er in Kushinga, in Indien, nahe der Grenze zu Nepal. Mit 29 soll er das Haus seiner Eltern und seine Frau verlassen haben, um das Leben eines Asketen und Wanderers und später eines Weisheitslehrers zu führen. »Buddha« steht für den »Erwachten«.
An dieser Stelle seien meinerseits jedoch keine umfangreicheren Kenntnisse des buddhistischen Denkens beansprucht. Im Gegensatz zu den kleinen Textfragmenten, die wir von den frühen Griechen kennen, scheint von Siddhartha selbst gar nichts überliefert zu sein. Es gibt also nur Schriften, die über ihn bzw. in seinem Sinne entstanden sind.
Aus einer dieser Schriften, der Mahāvagga, dringt jedoch eine insbesondere in systemischer Sicht sehr eindrückliche Verknüpfung von Ideen durch. Es handelt sich hierbei um Buddhas zwölfgliedrige Kette des »bedingten Entstehens«, die »vorwärts und rückwärts« zu durchdenken sei:
»Es entsteht aufgrund von Unwissen Gestalten, aufgrund des Gestaltens Bewusstsein, aufgrund von Bewusstsein Körper und Geist, aufgrund von Körper und Geist die sechsfache (Sinnen-)Grundlage, aufgrund sechsfacher (Sinnen-)Grundlagen Berührungen, aufgrund von Berührungen Gefühl, aufgrund von Gefühl Verlangen, aufgrund von Verlangen Anhaften, aufgrund von Anhaften Werden, aufgrund von Werden Geburt, aufgrund von Geburt Alter, Tod, Kummer, Sorge, Leid, Trübsinn und Verzweiflung. Auf diese Weise entsteht die Gesamtheit von Unzulänglichkeiten. Durch völlige Aufgabe und Auflösung von Unwissenheit löst sich Gestalten auf, durch Auflösung …« 6
Diese zwölfgliedrige Kette folgt auf den ersten Blick vielleicht zwar nicht unbedingt unserem typischen kausal orientierten Verstehen und Verketten von derartigen Prozessen und Phänomenen; als eine bloße »Kette« verstanden wäre sie zudem natürlich kein Zeichen für ein frühes systemisches Denken. Aber es lohnt sich vielleicht, kurz innezuhalten und jenes »vorwärts und rückwärts« zu Denkende ernst zu nehmen. So führt ja Werden beispielsweise zu Geburt, aber genau umgekehrt wiederum Geburt zum Werden. Zudem entsteht Gefühl nicht