Das Gift an Amors Pfeil. Marnia Robinson
hatte, mit diesem ungewohnten Zugang zum Geschlechtsverkehr zu experimentieren. Als mein Mann Will und ich uns vor acht Jahren trafen, begannen wir unsere Beziehung mit bindungsstärkendem Liebesspiel. Wir betonten die großzügige und liebevolle Zuwendung und waren nicht auf Orgasmen aus (obwohl es in seltenen Fällen immer mal zu einem Orgasmus kam). Diese Art des Liebesspiels ist eine alte Praxis, auf die in verschiedenen Traditionen immer wieder angespielt wird. Ich belege es heute mit dem Begriff Karezza (Italienisch für Zärtlichkeit), ein Begriff, der vor ungefähr einem Jahrhundert von einem Quäker und Arzt geprägt wurde.
„Die Technik beruht nicht auf Kontrolle. Während des Geschlechtsverkehrs versucht man nicht, den Orgasmus zu vermeiden oder die Körperenergien zu steuern; man schließt einfach nur die Augen und fühlt, wie die Energien ins Herz strömen, in den Kopf, in die eigenen Genitalien und die des Liebespartners, und erlaubt der Energie zu zirkulieren … Man entspannt sich die ganze Zeit über und geht immer wieder ins Herz. Der Schlüssel ist müheloses Bewusstsein. Alle Energien werden nach oben gezogen und durch den ganzen Körper verteilt … Während dies geschieht, werden Anzeichen von Geilheit in Gefühle der Liebe verwandelt, und das Bedürfnis nach einem konventionellen Orgasmus nimmt ab.“ 11
Als wir ein Jahr später zurückblickten, mussten wir zugeben, dass wir sehr erstaunt waren. Unser Leben war zwar nicht perfekt, doch es gab definitive, positive Veränderungen. Keine Pilz- oder Harnwegsinfektionen mehr bei mir, kein Alkoholmissbrauch oder chronische Depression (oder verschreibungspflichtige Antidepressiva) mehr bei Will. Unser Liebesspiel war weniger intensiv, doch es ließ uns zufriedener zurück. Selbst heute lieben wir es immer noch, einander zu berühren, und helfen uns gegenseitig sehr gerne. Das Beste jedoch ist, dass es eine sehr willkommene, unbeschwerte Verspieltheit in unserer Beziehung gibt, die es uns gestattet, die meisten Reibungspunkte mühelos aus dem Weg zu räumen und sogar darüber zu lachen.
Als Lehrer für Wissenschaften, der Freude daran hat, sich stundenlang mit medizinischen Abhandlungen zu befassen, war Will neugierig darauf, ob die Wissenschaft diese Verbesserungen in unserem Leben irgendwie erklären konnte. Er vertiefte sich daraufhin in Forschungen über Oxytocin, das sogenannte „Kuschelhormon“. Das von ihm studierte Material erklärte weitgehend, warum selbstlose, nicht zielorientierte Liebe unsere Gesundheit gestärkt haben könnte und sogar gegen Depression12 und Sucht13 hilfreich wirkte. HIV-positive Patienten leben beispielsweise länger, wenn sie in einer Beziehung leben.14 Wunden heilen zweimal so schnell, wenn es eine Begleitung gibt, im Vergleich zu einem Menschen, der isoliert ist.15 Bei Primaten lebt der Elternteil, männlich oder weiblich, länger, der sich um die Familie kümmert.16 Oxytocin ist wahrscheinlich das hauptsächlich beteiligte Hormon hinter all diesen Vorteilen.
Mein Mann stellte außerdem fest, dass wir durch die leichte Art unseres Karezza-Liebesspiels und durch die Orgasmusvermeidung offensichtlich von dramatischen Fluktuationen in unserer Gehirnchemie verschont blieben. Das liegt daran, dass der Orgasmus im Gehirn erlebt wird. Er ist viel mehr eine komplexe Abfolge eines neurochemisch-hormonellen Geschehens als ein Ereignis in den Genitalien. Man kann beispielsweise eine Elektrode in das Gehirn oder das Rückenmark einführen und so das Empfinden von einem Orgasmus hervorrufen, ohne dabei die Genitalien zu berühren.
Anstelle einer Elektrode benutzt der Körper eine neurochemische Ladung, um das Gefühl eines Orgasmus’ hervorzurufen. Was im Augenblick des Orgasmus’ aufgewühlt wird, muss sich auch wieder setzen. Obwohl Wissenschaftler nicht generell zustimmen, dass es eine postorgastische Enttäuschung gibt, sind doch in der Forschung nach sexuellen Stimulationsmitteln Beweise dafür aufgetaucht. Diese unbewusste Kaskade von neurochemischen Abläufen, die scheinbar volle zwei Wochen brauchen, bevor wieder ein Gleichgewicht eintritt, steht hinter der Fähigkeit von Amors Gift, unsere Beziehungen zu verderben. Während dieser Erholungsphase können Liebende sich bedürftig, reizbar, ängstlich und erschöpft fühlen oder sich verzweifelt einen weiteren Orgasmus wünschen, um die damit verbundenen Symptome zu erleichtern. Sie bemerken nicht, dass sie zeitweilig einfach aus der Balance geraten sind. Dies ist ein wiederholter Auslöser für Disharmonie und zwanghaftes Verhalten, und er ist bereits in unsere romantischen Beziehungen mit eingebaut. Doch für sexuell aktive Erwachsene ist diese Erholungsphase quasi unsichtbar, weil wir zunächst typischerweise versuchen, das Unwohlsein durch einen weiteren Orgasmus zu vertreiben. Diese instinktive Reaktion treibt uns zu weiterer sexueller Übersättigung – und folgender emotionaler Distanz. Man muss es nur unseren Genen überlassen. Das ist die Garantie dafür, dass wir so viel fortpflanzungsmotivierten Sex wie möglich betreiben – bevor wir dann das Interesse an sexueller Exklusivität mit einem Partner verlieren.
Dank dieser eingebauten Programmierung entdecken wir nur selten das Wohlgefühl und die Zufriedenheit, die mit einem Schritt in Richtung Gleichgewicht verbunden sind, einfach dadurch, dass wir Karezza machen, also bindungsorientiertes Liebesspiel. Stattdessen geben wir einander lieber die Schuld an unseren veränderten Gefühlen. „Wenn er nur liebevoller wäre und mich mehr unterstützen würde!“ „Wenn sie doch nur aufhören würde, sich in ihren Gefühlen zu aalen und einfach Sex mit mir hätte!“
Wie wir noch sehen werden, ist es nicht unwahrscheinlich, dass die postorgastische Erholungsphase hinter so unterschiedlichen Phänomenen wie einem One-Night-Stand, der sexlosen Ehe, Untreue und Pornografiesucht steht. Sie trägt zu der allgemeingültigen Erfahrung bei, dass die Flitterwochenstimmung selten länger als ein Jahr anhält. Aus dem Grunde gehen Freundschaften, die sich in Liebesaffären verwandeln, häufig kaputt.
Unter dem Strich kommt heraus, dass unser unbewusstes Paarungsprogramm hinter unserem spontanen sexuellen Appetit hervorragend für maximale Genfortpflanzung geeignet ist. Nur unser individuelles Wohlergehen scheint ihm nicht am Herzen zu liegen. Der niederländische Wissenschaftler Gert Holstege, der darüber berichtete, dass Gehirnscans von ejakulierenden Männern genau das gleiche Bild aufweisen wie Gehirnscans von Menschen, die sich einen Heroinschuss setzen,17 ließ einmal die Bemerkung fallen, dass wir alle sexsüchtig sind.18 Er meinte damit, dass unser impulsives Sexualverhalten von Natur aus in Richtung Übersättigung und – sofern wir die Gelegenheit haben – sogar in Richtung Zwang geht.
Paarung und Bindung, die zwei Pedale
Wenn wir tun, was wir immer schon getan haben, bekommen wir, was wir immer schon hatten. Wir sind so verdrahtet. Und doch verfügen wir nicht nur über ein Paarungsprogramm. Wir sind auch mit einem Bindungsprogramm ausgestattet. Es diente in seinen Anfängen als ein Mechanismus, der kleine Säugetiere an seine Versorger bindet, doch es ermutigt uns gleichfalls dazu, uns zu verlieben – zumindest für eine Weile (Paarbindung). Es funktioniert durch gegenseitigen Austausch von unbewussten Hinweisen, ein Verhalten, auf das wir in jedem Alter mit Freude reagieren. Wie wir noch sehen werden, können wir unsere angeborenen Neigungen verfeinern, indem wir dieses Bindungsverhalten nutzen, um unseren Enthusiasmus für dauernde Intimität unbegrenzt zu stärken – insbesondere, wenn wir dazu bereit sind, den Geschlechtsverkehr selbst in ein Bindungsverhalten zu verwandeln, wenn Fortpflanzung nicht erwünscht ist.
„Kuschelmangel führt unweigerlich zu einem nachlassenden Kuschelwunsch, ob dies nun aus Faulheit, Gewohnheit, Verärgerung oder Gleichgültigkeit geschieht. Kuscheln (mit allem, was dazugehört) erweckt den Wunsch nach mehr Kuscheln. Es ist eine wohlwollende Biofeedback-Maschine, genauso wie die Abwesenheit von Zuneigungsbezeugungen das Gegenteil erzeugt. Jeder kennt das von frisch Verliebten, die scheinbar nicht nah genug beieinander sein können. Nun, obwohl wir seit Ewigkeiten verheiratet sind, haben wir wiederholt das Gleiche erfahren, als Ergebnis davon, Kuscheln zunächst zu einem Punkt auf unserem Tagesprogramm zu machen – und wenn es nur eine Minute war. Wir konnten zusehen, wie unser Kuschelbedürfnis nach dem Schneeballprinzip zum Selbstläufer wurde.“
Keith
Menschen, die einander in Liebe zur Seite stehen, fühlen sich ruhig und sicher und erfahren soziales Wohlergehen und emotionale Einheit.19 In Anbetracht der starken psychologischen und gesundheitlichen Vorteile einer glücklichen Vereinigung ist das Karezza-Liebesspiel möglicherweise von überraschend hohem Wert für monogame soziale Lebewesen wie uns.
Ich sehe unser Paarungs- und Bindungsprogramm